Seite:Die Gartenlaube (1863) 036.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)


brüten, von Handkoffern und zugeschnürten Schachteln eingeengt, über dem Fahrplan. Draußen rufen und lärmen die Packknechte, knarren die Rollwagen; die Thüren gehen von Hand in Hand, und die Winterluft bläst herein.

Doch gerade dies fremde, nüchterne Getriebe that Amanda wohl. Sie athmete nach ihrer Ankunft freier. Niemand hier kannte sie, kannte ihren unglücklichen Vater. Und als, wenige Minuten später, Amanda im brausenden Eilzug die nächtliche Landschaft durchflog, sank sie in der kahlen, kalten Wagenecke nach zwei durchwachten Nächten zum ersten Mal wieder in ruhigen, traumlosen Schlaf.


Nur Einer erfuhr am Abend noch die Abreise des Mädchens, denn das Begräbniß Günther’s schien alle Neugier und Theilnahme erschöpft zu haben. Niemand bekümmerte sich um die Waise, Niemand achtete darauf, daß die Fenster beim Rendanten unerhellt blieben.

Auch Doctor Michaelis, der sich als Vormund des verlassenen Mädchens dem Gerichte angeboten hatte, ging nicht sogleich nach dem Begräbniß zu Amanda, sondern spazierte vom Friedhof nach einer Hügelkette, wo zur Sommerszeit auf sandigem Grund herber Wein wuchs. Dort schlenderte er nachdenklich dahin, pfiff seinem Pudel, wenn dieser ein Häschen aufscheuchte, blieb stehen, stieß zornig seinen Rohrstock in den Schnee, setzte sich wieder in Bewegung und hielt im Gehen laute Monologe.

„Recht geschieht mir! Wieder einmal sentimental gewesen, mich um andrer Leute Brei bekümmert! Hab’ ich nicht an meinen Patienten genug? Noch mehr Aerger und Plage und Undank? – He, Hans! her zu mir. (Hans hieß des Doctors Hund.) – Amanda ist zwar ein Prachtkind, gesund und frisch, ohne Heuchelei und brav! Ich wollte, sie wäre mein Kind! Aber warum will sie just den Pastor heirathen? Warum hat sie keine andere Schwiegermutter, als – – – Hans! Bestie! hierher! Willst Du kommen! Wird eine nette Unterhaltung werden, wenn ich jetzt zu Reinhold’s gehe! Ich sehe der alten Madame Augen. – Da läuft das Thier schon wieder davon! – Aber ausgesprochen und ausgetragen muß die Sache werden! Ohne Barmherzigkeit; heute noch.“

Unter diesen und ähnlichen Selbstgesprächen erreichte Michaelis die Stadt, wo er in das Pastorhaus trat.

Reinhold kauerte, das schmerzende Haupt auf beide Hände gestützt, im Zwielicht einer Ecke, während seine Mutter im vollen Lampenlicht aus dem Sopha saß, ungebeugt, starr, stolz wie immer.

„Sie hörten vielleicht,“ begann der Arzt, nachdem er der Witwe gegenüber Platz genommen hatte, „daß ich die Vormundschaft über die verwaiste Günther angetreten habe?“

„Wir hörten,“ erwiderte frostig die Superintendentin.

„Dann errathen Sie ohne Zweifel, in welcher Angelegenheit ich zu Ihnen komme?“

„Durchaus nicht, Herr Doctor,“ sagte Frau Reinhold. „Ich denke nur, daß es von Wichtigkeit sein muß, was Sie zu uns führt.“

„Ich komme in meiner Eigenschaft als Vormund. Günther hat außer der unsicheren Aussicht auf den Gewinn einiger Lotterieloose Nichts hinterlassen. Baares Vermögen ist nicht vorhanden, das Grundeigenthum belastet. Dem Kinde bleibt also nichts, und mir die Sorge, seine Zukunft zu sichern …“

„Nur eine Frage also an Ihren Sohn,“ fuhr nach einer Pause Michaelis fort und wandte sich nach der dunkeln Ecke, wo der Prediger saß. „Sie, Herr Pastor, gaben dem Mädchen das Eheversprechen, Sie zeigten sich auch der Welt gegenüber als ihr Verlobter. Sind Sie gesonnen, Ihr Wort zu halten?“

„Halt!“ rief die Superintendentin und schnitt ihrem Sohn jede Erwiderung ab. „Als Theodor in die Beziehungen zu Günther’s trat – Beziehungen, welche ich nicht leugne, obwohl ich sie nie gebilligt habe! – war eine Heirath mit Amanda Günther, wenn auch kein Glück, doch keine Unmöglichkeit. Der Rendant galt für einen Ehrenmann, und verwandt mit ihm zu werden, für keine Schande. Nun aber haben sich die Verhältnisse so geändert, daß die Ehe mit einer Günther für den Pastor Reinhold ein moralischer Selbstmord sein würde. Wenn also mein Sohn ein stillschweigendes Gelöbniß that, so erlauben ihm doch die letzten Vorfälle, es ohne Sünde zurückzunehmen. Oder glauben Sie nicht, daß es dem Herodes besser gewesen wäre, wenn er seinen Schwur –“

„Denken Sie über Herodes, wie Sie wollen!“ unterbrach sie Michaelis gereizt. „Ich bin da, um mir von Ihrem Herrn Sohn selbst ein kurzes Ja oder Nein zu erbitten.“

Reinhold erhob sein Antlitz, das vom inneren Kampf ein ungeheucheltes Zeugniß gab.

„Ja oder nein!“ sagte er bitter. „Wie rasch, wie kalt Sie das fordern! Und doch hängt von diesem Entscheidungswort das Glück zweier Menschenleben ab. In jede Schale hab’ ich hundert Gründe zu legen: mein Herz zieht die eine, mein Verstand, meine Amtsehre und Pflicht die andere. Denken Sie sich doch, bevor Sie so kurzweg einen Entschluß verlangen, in meine Lage!“

„Verstand, Herz, Ehre,“ sprach der Doctor ärgerlich, „wozu diese Unterscheidungen? Ich in Ihrer Lage würde als Mensch recht zu handeln suchen, ohne Furcht, meinem Amt dadurch zu nahe zu treten.“

„Gestatten Sie mir eine Bemerkung,“ entgegnete die Mutter, und ihre Augen funkelten. „Das Amt meines Sohnes mißt sich nicht an alltäglichem Beruf, sondern ist göttlichen Ursprungs. Dreimal mehr Wehe, als Andern, dem Priester, der ein Aergerniß giebt!“

„Was ist ein größeres Aergerniß, eine Unschuldige zeitlebens für das Vergehen ihres Vaters büßen zu lassen, oder Geschehenes mit dem Mantel der christlichen Liebe zu bedecken und sich und Andere glücklich zu machen?“

„Der Herr sucht die Sünden der Väter an den Kindern heim bis in’s dritte und vierte Glied! Mit von Gott Geschlagenen sollen die Hüter der Bundeslade nicht verkehren! Schlagen Sie diese beiden Stellen in der Bibel nach, wenn Sie eine besitzen! Mein Sohn muß, als Seelenhirt, rein dastehen vor der Gemeinde; kein Schatten darf auf seinen Weg fallen; kein Makel an ihm, ebenso wenig an seinem Weibe haften, denn dies Weib wird Fleisch von seinem Fleisch und Blut von seinem Blut.“

„An Amanda –“ begann Michaelis, aber Frau Reinhold unterbrach ihn.

„Der Herr sucht der Väter Sünden an den Kindern heim,“ sagte sie ungeduldig; „muß ich es Ihnen noch einmal in’s Gedächtniß rufen?“

„Und wenn Sie mir zehnmal es wiederholen,“ rief der Doctor, „Sie bekehren mich nicht zu Ihrer Auffassung. Ich gestehe Herrn Reinhold durchaus keine andern Ehrengesetze zu, weil er zufällig Pastor ist.“

„Zufällig?“ rief die Greisin außer sich und sprang empor. „Was Sie zufällig nennen, Herr Doctor, hält mein Sohn und ich für ein köstliches Geschenk des Himmels. Jahrhunderte hindurch, in den Stürmen des dreißigjährigen Krieges, wie später in der Pestzeit der Revolution haben die Reinhold’s, deren Namen auch ich schon vor meiner Ehe trug, fromm und tugendhaft und unentweiht als Wächter des heiligen Amtes dagestanden. Es war kein Mann, noch ein Weib in unserer Familie, deren Leben und Abkunft nicht vor den Augen Gottes wie der Welt das strengste Gericht bestehen konnte. Das Andenken an die Eltern und Großeltern wurde für Jeden der schönste Sporn, der reinste Quell hoher Kraft und Begeisterung. Und so soll es bleiben, so lange der Name Reinhold genannt wird. Wenn mein Sohn die Günther zum Weibe nimmt, wird ein krankes Reis auf den gesunden Stamm gepfropft. Was wird der Vater seinen Kindern erwidern, wenn sie nach ihrem Großvater fragen? Was werden die Kinder, heranwachsend, von der Welt erfahren? Herr Doctor! Wir abergläubischen, wir unaufgeklärten, dunklen Leute, wir lassen uns nun einmal nicht beschwatzen, daß die Abkunft von einer streng sittlichen, untadelhaften Familie kein Glück, kein wohlzuverwahrendes Gottesgut, sondern ein bloßer Zufall sei. Und Gott sei Dank, das Volk ist noch ebenso abergläubisch, so unaufgeklärt und dunkel wie wir. Mein Sohn hat mit diesem Volke, nicht mit den Gelehrten und Philosophen zu verkehren. Sein Weib muß ihn in der lebendigsten Gemeinschaft mit seinen Pfarrkindern unterstützen, nicht hemmen; sie muß sogar in hundert Fällen die Vermittlerin sein zwischen dem göttlichen Amt und der menschlichen Familie. Das abergläubische, unaufgeklärte, dunkle Volk aber, Herr Doctor, würde für die Vermittlung einer Frau danken, deren Vater dies Volk betrogen und bestohlen hat, deren Vater ehrlos gestorben ist. Du, mein Sohn, sagtest vorhin, daß Dein Herz die eine Wage ziehe, nun denn – in die andere werf’ ich zum Vermächtniß Deiner Väter und zur Meinung der Welt den Segen Deiner Mutter!“

(Fortsetzung folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_036.jpg&oldid=- (Version vom 29.7.2021)