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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Blätter und Blüthen.


Die Garrotte in London. Die Periode des Selbstmords beginnt in England bekanntlich im Spätherbst, wenn die schweren altenglischen Nebel keinen Licht- und Hoffnungsstrahl in die vom Spleen verdüsterte Seele dringen lassen, und dauert bis Weihnachten, wo der Engländer nach guter alter Sitte so viel essen, trinken und verdauen mag, daß es ihm an Zeit und Lust zum Halsabschneiden gebricht; aber während den Monate November und December hat jeder anständige Mensch hier das Recht sich aufzuhängen, und Niemand macht ihm dasselbe streitig, denn es ist sehr natürlich und immer so gewesen. Ebenso natürlich ist es, daß Schwindel und Betrug in der Mitte des Sommers, wo die Londoner Saison auf ihrer Höhe angekommen ist und alle reichen Leute und Abenteurer der vereinigten Königreiche in und um Hydepark versammelt hat, auf der Tagesordnung stehen sollten. Der Taschendiebstahl nimmt einige Zeit später, im August und September, wo die nationalen Wettrennen immense Haufen zusammenziehen und die sonst so ängstlich von einander geschiedenen Gesellschaftsclassen unter einander mischen, den hervorragendsten Platz in den Polizei- und Gerichtsannalen ein. Auffallender dürfte es schon sein, daß gerade die Frühlingssonne die dunkelsten Instincte der menschlichen Natur zu wecken scheint. Wenn sich die Natur mit Knospen, Blüthen und Blättern belebt, die stille Frühlingssonne vom blauen Himmel ihre verjüngenden Strahlen auf alt und kalt gewordene Herzen wirft, den Vögeln neue Lieder lehrt und den Menschenkindern alte Erinnerungen zurückgiebt, wenn sich Alles des wiedergeschenken Lebens freut und mit den lauen Lüften Muth, Hoffnung und Frieden einathmet, – dann erwacht der Trieb der Zerstörung im Menschen, und das Verbrechen feiert in England seine Mord-Saison. Es scheint, als wenn der Mensch gerade diesen Gegensatz des heiteren, friedlichen Lebens in der Natur nöthig hätte, um sich vollständig zu verbittern und in Mordlust bis zum Wahnsinn zu berauschen.

So viel ist gewiß, daß die Mordthaten hier im Frühjahr am häufigsten sind und die fast elementarische Ansteckungskraft des Verbrechens beweisen. Ein Mord, der unter ungewöhnlichen Umständen und mit einem außerordentlichen Aufwand von Grausamkeit oder Berechnung begangen worden ist, kommt fast nie allein. Alle Zeitungen berichten und raisonniren darüber, und er bildet eine Zeitlang den hauptsächlichsten Gegenstand der Discussion in Wirthshaus und Familie. Plötzlich wird das Publicum durch die Nachricht von einer neuen Mordthat erschreckt, die unter ähnlichen Umständen, aus ähnlichen Beweggründen und mit ähnlichen Mitteln begangen worden ist. Die öffentliche Discussion erhitzt sich immer mehr und erhält neue Nahrung durch Neue Fälle, welche in den Fußstapfen der alten folgen. Die Zeitungen beginnen ihre betreffenden Leitartikel mit den Worten: „Der Mord ist zur Manie geworden!“ Und so ist es. Schließlich tritt er geradezu als Selbstzweck auf. Es kommen alljährlich Fälle vor, bei denen sich gar kein Motiv der That mehr entdecken läßt. Das ist freilich dann die höchste Stufe des Deliriums, das Fieber verzehrt sich in seiner eigenen Heftigkeit, und gar bald sinkt das künstlich exaltirte Verbrechen wieder auf seinen Normalzustand herab. Die Fascination, welche der Mord auf die menschliche Natur ausübt, hat De Quincey in seiner berühmt und berüchtigt gewordenen Abhandlung „über die Philosophie des Mordes“ mit bewundernswürdiger Seelen- und Lebenskenntniß geschildert; im Ganzen jedoch ist die Physiologie und Pathologie des Verbrechens noch ein zu wenig angebautes Feld, das den interessantesten Studien einen weiten Spielraum eröffnet. Für unseren Zweck genügt es, darauf hinzuweisen, daß die bloße äußerliche Beobachtung der ansteckenden Wirkung des Verbrechens noch keine genügende Erklärung für seine seuchenartige Ausbreitung abgiebt. Es müssen da tiefer liegende Gründe in den gesellschaftlichen Zuständen vorhanden sein, welche die Ansteckung propagandiren und das Publicum für dieselbe empfänglich machen. Nur wenn diese Gründe richtig erkannt und entschlossen hinweggeräumt werden, ist eine radicale Cur möglich. Geschieht das nicht, so kann eine bestimmte Krankheitsform des Verbrechens wohl zeitweilig unterdrückt und modificirt werden, der vorhandene Ansteckungsstoff wird jedoch immer wieder in dieser oder in jener Form einen Ausdruck finden.

Woher kam es, daß die „Garrotte“ drei Monate lang eine Bevölkerung von drei Millionen zu terrorisiren und eine Gewalt zu werden vermochte, vor welcher die mit Recht gerühmte Londoner Sicherheitspolizei, die ganze Criminalrechtspflege, ja wir können sagen die ganze Civilisation der übercivilisirten Weltstadt machtlos zusammenbrach? Der sociale Krieg, der unter dem Namen „Garotte“ so lange in den volkreichen Straßen Londons geführt wurde, hat zwar noch nicht ausgetobt, aber er ist zu Gunsten der Ordnung entschieden, und die Plänkeleien, die noch allnächtlich vorkommen, beweisen, daß die geschlagene Armee des Verbrechens auf dem Rückzuge begriffen und entmuthigt ist. Das Publicum hat sich daher von seinem Schrecken so weit erholt, daß es Gemüthsruhe und Selbstvertrauen genug besitzt, um jene Frage ernsthaft zu untersuchen und zu discutiren. Die Regierung hat eine „Königliche Commission“ von Staatsmännern und Sachverständigen aller Parteien niedergesetzt, welche das bisherige Strafsystem einer genauen Prüfung unterziehen und dem Parlament bezügliche Reformvorschläge machen soll; die Polizei ist um 300 Mann vermehrt worden, und verschiedene Bills zum wirksameren Schutze von Person und Eigenthum werden in der bevorstehenden Parlamentssession eingebracht werden. Diese gründlicheren Untersuchungen wollen wir den Sachverständigen überlassen und uns hier darauf beschränken, den Lesern ein übersichtliches Bild von dem sogen. „Garrotte-panic“, von dem sich London eben zu erholen beginnt, zu entwerfen.

Von jeher hat es in London unsichere Straßen gegeben, ja ganze Quartiere, in die sich kein wohlgekleideter Mensch wagen konnte, ohne seine Börse und seine Haut zu riskiren. Aber sie waren und sind bekannt. Jeder, der das Labyrinth schmutziger Beistraßen nördlich und südlich von Highstreet, Whitechapel, betrat, that es mit dem vollen Bewußtsein der Gefahr, welcher er sich aussetzte. Bei Tag oder bei Nacht gewisse Gassen „über dem Wasser“, in denen das Verbrechen liederlich und die Liederlichkeit verbrecherisch wird, mit Uhr und Kette durchwandern, hieß der menschlichen Schwachheit eine stärkere Verführung darbieten, als sie zu ertragen vermochte. Im Mittelpunkte des Westends, zwischen Oxfordstreet und Strand, von der classischen Drurylane aus laufen einige lange, schmale Gassen nach Osten, welche am hellen Tag kein Polizeimann allein zu betreten wagt. Die hohen, zerfallenen Häuser, fast ohne Fenster und Thüren, lassen keinen Sonnenstrahl durch die mit stinkenden Dünsten erfüllte Atmosphäre dringen. Große Schmutzhaufen, aus Lumpen, zerbrochenen Geschirren und Gemüseabfällen gebildet, liegen in der Mitte der Gasse und beweisen, daß diese versteckte Welt primitiver Barbarei vom modernen Straßenverkehr unberührt bleibt. Haufen zerlumpter Kinder tummeln sich auf dem Schmutze herum; in Laster und Verbrechen ergraute und verknöcherte Weiber waschen, kochen, nähen, zanken, fluchen und prügeln sich vor den Hausthüren; finstere Männergestalten erscheinen zuweilen an den mit Papier und Lumpen verhüllten Fenstern, aber selten auf der Straße. Der bloße Augenschein muß Dich belehren, daß kein guter und glücklicher Mensch in diesen der Barbarei verfallenen Straßen wohnen kann. Der Hunger liegt den Insassen bleich auf den schmalen Lippen, und das Laster lauert unheimlich in ihren eingefallenen Augenhöhlen. Wer in diese inmitten des hauptstädtischen Luxus und Gewerbeverkehrs extemporirte Welt der Barbarei eintritt, muß die Vortheile des civilisirten Lebens hinter sich lassen. Die Aus- und Eingänge dieser Gassen oder „Courts“ werden den ganzen Tag über von der Polizei bewacht, und mit Eintritt der Dunkelheit postiren sich zwei handfeste Constabler an jedes Ende der berüchtigten und verpesteten Verbrecherhöhlen, mehr um die Ausgehenden zu beobachten, als um die Eintretenden zu warnen oder sich in die lärmenden Straßenkämpfe der Inwohner zu mischen. Wie gesagt, der Charakter dieser Straßen ist hinlänglich bekannt. Die Polizei sucht sie so viel wie möglich von der Außenwelt zu isoliren und findet hierbei um so weniger Schwierigkeiten, da sich das Verbrechen selbst zu isoliren strebt.

Die Nothwendigkeit, mit dem Gange der modernen Nationalökonomie gleichen Schritt zu halten, hat hier, wo das Diebsgewerbe handwerksmäßig erlernt und geschäftlich betrieben wird, zu Associationen geführt, die auch räumlich in sich abgeschlossen und verbunden sind. Der Londoner Dieb arbeitet mit Capital und nach dem Principe der Arbeitstheilung, auf welchem zum großen Theile die wunderbaren Erfolge der englischen Industrie beruhen. Die Associationen, zu denen er sich genöthigt gesehen hat, um sein Capital zu verstärken und seine Arbeitskraft zu ergänzen, haben zu einer kastenartigen Absonderung geführt, die auch ein charakteristisches Merkmal des gesellschaftlichen und geschäftlichen Lebens in England ist. Der Hauseinbrecher lebt und verkehrt mit dem Hauseinbrecher, der Taschendieb mit dem Taschendieb, der Ladendieb mit dem Ladendieb, der Falschmünzer mit dem Falschmünzer, der Fälscher mit dem Fälscher etc., und die Polizei weiß genau, wo sie verkehren und leben, und wo vorkommenden Falls nach ihnen gesucht werden muß. Diese Ueberwachung schließt jedoch nicht aus, daß ein professionirter Dieb alt und grau in seinem Geschäfte wird, oder sich auch in seltenen Fällen mit Capital in’s respectable Leben zurückzieht. Der Corpsgeist, der die Mitglieder einer bestimmten Diebszunft belebt, ist so stark, daß der Taschendieb auf den Hauseinbrecher, der Falschmünzer auf den Ladendieb mit Stolz und Verachtung herabsieht. Neulich stand ein junger Mann vor dem Polizeigerichtshofe von Bowstreet, der Mitwirkung bei einer Garrotte-Räuberei verdächtig. Mit Entrüstung erklärte der Angeklagte, er sei, wie allgemein bekannt (generally known), ein „sharper“, und brauche sich daher auf das rohe und halsbrechende Geschäft des Garrottirens nicht einzulassen. Das war mit so viel aufrichtigem Stolze und beleidigter Unschuld gesagt, daß der Angeklagte, welcher kein Garrotter, sondern ein sharper zu sein behauptete, wirklich freigelassen wurde. Unter sharpers versteht man falsche Spieler, welche Fremde, am liebsten Pächter vom Lande, cordial auf der Straße aufzugreifen, in ein benachbartes Wirthshaus zu locken, durch eine Getränkmischung bewußtlos zu machen und durch Kartenspiel oder Wetten auszuplündern pflegen. Da diese Operation schon sehr oft exponirt worden ist, so haben sie allerdings viel Gewandtheit und Geschick nöthig, um ihr Handwerk zu betreiben, das sich im Falle des Gelingens gewöhnlich sehr vortheilhaft erweist. Daß ein sharper nicht nöthig habe, zum gewaltsamen Straßenraub zu greifen, begriff der Polizeirichter sofort.

Die kastenartige Absonderung in Diebszünfte hat zwar viel dazu beigetragen, um die Leistungen in den einzelnen Zweigen des Handwerks zu einer erstaunlichen Vollkommenheit auszubilden, aber auch im feindlichen Heerlager eine Zersplitterung hervorgerufen, welche der Gesellschaft eine wirksame Garantie gegen große, combinirte Angriffe bietet. Nur dann, wenn eine solche Combination der feindlichen Kräfte stattfindet, wie bei den Garrotteräubereien der letzten Wochen, nimmt der Kampf Proportionen an, vor denen die Organe des Gesetzes und das plötzlich von allen Seiten angegriffene Publicum erschrecken, die alten Polizeibarrieren in Trümmer fallen und eine neue Organisation des Widerstandes erforderlich wird.

Der gewaltsame Straßenraub, der unter dem Namen „Garrotte“ eine so große Rolle in den neuesten Gerichtsannalen Londons gespielt hat, ist nicht englischen, sondern französischen Ursprungs, wie das zu seiner Bezeichnung verwandte französische Wort schon zeigt; es ist sogar wahrscheinlich, daß das von der Weltausstellung hierher gezogene continentale Diebsgesindel die erste Anregung zu dieser neuen Form des Straßenraubes gegeben hat. Aber seine systematische Vervollkommnung verdankt er der Erfahrung und dem Organisationstalente der englischen Diebe, und zu seinem Erfolge gehörte eine Stadt wie London. Wie auf Verabredung wurde London zu Anfang des Herbstes plötzlich an allen Ecken und Enden von den Garotters angegriffen. Gute und schlechte Stadtviertel, die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_047.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)