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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)


hauptsächlichsten Verkehrswege der inneren Stadt und die stillsten Straßen der Vorstädte, die dicht bevölkerten Arbeiterviertel des Südens und die aristokratischen Squares des Westens wurden zugleich überfallen. Die Garrotte war allenthalben und die Polizei eben deshalb nirgends. Das Parlamentsmitglied Mr. Pilkington wurde inmitten seiner aus dem Unterhause heimkehrenden Collegen, gerade unter der Nelsonstatue auf Trafalgar-Square, also im eigentlichen Knotenpunkte des hauptstädtischen Verkehrs, wo zu keiner Zeit der Nacht das Straßenleben schläft, überfallen, niedergeworfen, beraubt und bewußtlos heimgetragen. Mehrere seiner Collegen sahen die Attaque vor ihren Augen vor sich gehen, aber so plötzlich, ungestüm und verwegen war der Ueberfall, daß in wenigen Secunden das strangulirte Opfer blutend zu Boden lag und die Räuber sich selbst und ihre Beute in Sicherheit gebracht hatten, noch ehe die Zuschauer sich von ihrem Erstaunen erholen und zu einer energischen Verfolgung entschließen konnten. Dieser Vorfall erhob die Garrotte zur Ehre einer Frage, die in den Schlußsitzungen des Parlaments discutirt, in der Presse beleitartikelt und auf den Bierbänken verhandelt wurde. Je mehr sich das Publicum durch diese Discussionen erhitzte, desto allgemeiner wurde die Operation der Räuberbanden, welche allnächtlich ihre oben erwähnten Sammelplätze verließen und sich über das ungeheure Areal von London verbreiteten, desto vollkommener wurde ihre Organisation, desto verwegener ihre Kühnheit und desto eclatanter ihr Erfolg.

Die Operationsweise ist in allen Fällen gleich und verräth so viel Einheit in Plan und Leitung, daß sie wohl geeignet ist, Entsetzen zu verbreiten. Gewöhnlich operiren die Garrotters in Trupps von drei Mann, die sich entweder am Eingang einer Seitenstraße postiren, oder auch auf den Trottoirs auf- und abwandern. Die Zeit der Handlung beginnt vor Mitternacht und erstreckt sich über die ganze Nacht. Wenn ein Vorübergehender, der durch Kleidung und Uhrkette gute Beute verspricht, sich dem Versteck der Garrotters nähert, oder arglos die drei verbündeten Spaziergänger passirt, so wird er von dem stärksten und vierschrötigsten Räuber, der in diesem Theile der Arbeit seine Specialität besitzt, mit beiden Händen von hinten am Halse gefaßt. Während dieser dem unversehens überfallenen Opfer mit eisernen Fingern die Gurgel zuschnürt und jeden Hülfeschrei in seinem mächtigen Griffe erstickt, fällt der Zweite dem Betäubten in die Arme, oder schlägt ihn mit einem Todtschläger vollends zu Boden. Der Dritte leert dem niedergeworfenen Manne die Taschen. Noch ein paar nachträgliche Fußtritte oder Schläge mit dem Todtschläger, der hier sehr uneigentlich Lebensretter genannt wird, um die allzufrühe Wiederbelebung des strangulirten Mannes zu verhüten, und das Werk ist vollbracht. Das Opfer liegt so lange bewußtlos auf dem Boden, bis es von der Polizei oder von Vorübergehenden aufgelesen und in’s nächste Hospital gebracht wird, und die Räuber sind mit ihrer Beute verschwunden. Alles das ist das Werk weniger Augenblicke. Das Gelingen des Ueberfalls hängt hauptsächlich vom ersten Griff ab; ist dieser so vollständig und wirksam, daß er den Angegriffenen durch Strangulation sofort betäubt und am Aufschreien hindert, so ist die Garotte fast immer erfolgreich und wird nur in seltenen Fällen durch das Dazwischenkommen der Polizei gestört. Wenn es jedoch dem Ueberfallenen gelingt, aufzuschreien und sich zur Wehr zu stellen, so nimmt der Kampf eine andere Gestalt an. Im Augenblicke füllt sich die Straße mit einem Haufen Gesindels, das wie auf ein gegebenes Signal von allen Seiten herbeiströmt, Männer, Weiber und Kinder. Es kommt zu einem regulären „row“; der Haufe versperrt den herbeieilenden Constablern den Weg, insultirt und attakirt sie. Diese haben ihrerseits die Todtschläger aus ihren Rocktaschen zu ziehen und sich mit hartem Kampfe Schritt für Schritt durch den Haufen Bahn zu brechen. Zuweilen gelingt es ihnen, den einen oder den andern der Garrotters nach verzweifelter Gegenwehr festzunehmen und trotz des unaufhörlich zur Befreiung anstürmenden Gesindels bis zur nächsten Station zu bringen, selten werden alle betheiligte Räuber eingefangen, und fast nie wird die Beute, welche sofort ihre Abnehmer unter den Verbündeten des Haufens findet, entrissen.

Mit Recht wurde das Publicum durch die grauenhafte Ausdehnung, zu der dieser sociale Kampf allmählich gedieh, und durch die Verwegenheit und Barbarei, womit die Angriffe ausgeführt wurden, alarmirt. Eine Zeit lang fanden allnächtlich durchschnittlich zwölf Garrotteräubereien in London statt, von denen nur etwa drei durch die Dazwischenkunft der Polizei an die Oeffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen gezogen wurden. Die Polizei bewies sich also ebenso unzureichend zum Schutze der Gesellschaft, als die Criminalrechtspflege. Achtzehn Garotters, welche im Verlaufe des Monats November festgenommen worden waren, wurden vom Central-Criminalgerichtshofe auf einmal verurtheilt und mit dem höchsten Strafmaße belegt; aber das abschreckende Beispiel diente nur dazu, um das Uebel zu vergrößern und John Bull noch mehr zu erhitzen. Mit dem Untergange der Sonne hörte die Civilisation in London auf, und Niemand war in den belebtesten Straßen der Weltstadt seines Lebens und Eigenthums sicherer, als in den Abruzzen oder in den Katakomben von Rom. Diese Räuberromantik im Centralpunkte der Civilisation hatte weniger Reiz für die friedlichen Bewohner Londons, als für phantasiereiche Zeitungsleser. Das Fieber wuchs auf beiden Seiten bis zum Delirium. Rigoristische Maßregeln wurden in Vorschlag gebracht und in der Presse besprochen. Einige verlangten, daß die Prügelstrafe wieder eingeführt werde, Andere bestanden auf Todesstrafe für überwiesene Garrotters, noch Andere verlangten eine Deportation des verdächtigen Gesindels im Ganzen und Großen. Dieses Verlangen wurde zum Theil erfüllt. Die Polizei wurde plötzlich sehr eifrig und griff auf den bloßen Verdacht hin Individuen auf. Es genügte, daß ein Constabler erklärte, daß er die aufgegriffenen Individuen in Verdacht habe, auf Garrotteräubereien auszugehen, um diese vor die Assisen zu bringen, und die unter dem herrschenden Terrorismus stehende Jury sprach Alles „schuldig“, was mit Garrotte in Beziehung gebracht wurde. Gar mancher Unschuldige mag auf diese Weise der öffentlichen Entrüstung zum Opfer gefallen sein.

Alle diese bis zur Ungerechtigkeit gesteigerte Strenge genügte jedoch nicht, um dem Wachsen der Manie Einhalt zu thun. Daß die Ansteckung und der Trieb der Nachahmung wirksam gewesen ist, läßt sich nicht leugnen. Die detaillirten Schilderungen in den Zeitungen, die übertriebenen Gerüchte, mit denen sich die erschreckte Phantasie des Publicums herumtrug, mögen viel dazu beigetragen haben, um die verbrecherischen Kräfte gerade auf diese fashionable Form des Verbrechens hinzulenken. In Whitechapel fielen zwei Knaben von zehn und zwölf Jahren über eine siebzigjährige alte Frau her, garrottirten sie, warfen sie nieder und beraubten sie ihrer fünf Kupferpfennige, die sie bei sich trug. Die Kinder auf der Straße und in den Parks spielten „Garottiren“, so wie man bei uns zur Blüthe der Räuberromane „Räuber“ spielte.

John Bull verlor endlich die Geduld und griff zur Selbsthülfe. Von allen Seiten ertönte der Ruf: „Zu den Waffen!“ In den Waffenläden wurden alle möglichen Mordinstrumente als „gut gegen die Garrotter“ ausgeboten. Speculative Waffenschmiede erfanden „Gurgelpanzer“, menschenfreundliche Apotheker priesen „Balsam zur Belebung der gehemmten Blutcirculation“ in ihren Schaufenstern an. Ein besonders entrüstetes Mitglied der respectablen Gesellschaft erklärte in einer Zuschrift an ein hiesiges Tagesblatt, daß er einen Strick in der Tasche mit sich herumführe, um jeden Garrotter, der ihm in die Hände falle, am nächsten Baume aufzuhängen, und jedem guten Bürger rathe, ein Gleiches zu thun. Ein angesehener Kaufmann in King William Street ließ sich Riesenplacate drucken und in seinen Fenstern ausstellen, um seinen Mitmenschen den Rath zu geben: „Wenn du am Halse gefaßt wirst, so stich mit dem Dolche nach hinten!“ Das Delirium wurde Wahnsinn und fixe Idee. Leute glaubten sich garrottirt, wenn sie am steifen Hals litten. Aber London bewaffnete sich. Revolver, Stockdegen, Dolche fanden reißenden Absatz. Die Garrotters erfuhren durch einige blutige Rencontres, daß sie keinen Menschen mehr auf der Straße angreifen könnten, der nicht die Mittel besitze, sie in die andere Welt zu befördern. Sie wurden vorsichtiger, und John Bull, der sich auf seine persönliche Kraft und auf das primitive Mittel der Selbstvertheidigung angewiesen sah, gewann Vertrauen in seine eigene Kraft. Die Krankheit war auf ihrem Höhepunkte angekommen und ist jetzt im Abnehmen begriffen. Noch in jeder Nacht kommen Garotteräubereien vor, aber wir fühlen uns leichter um’s Herz und um die Gurgel. Es war die Energie des Publicums und nicht die Macht der Polizei- und Sicherheitsbehörden, welche diesen merkwürdigen Kampf aufnahm und siegreich zu Ende führte.


Aus dem Thüringer Walde. Der Hauch des Geistes, der wie ein frischer würziger Bergluftzug immer von den Höhen und aus den Thälern des Thüringer Waldes anregend und belebend strömt, hat auch in diesem Jahre manche erfreuliche Blüthe getrieben. Zunächst ist des geistesfrischen, rührigen und liebenswürdig humanen Alex. Ziegler’s treffliches Buch: „Der Rennsteig des Thüringer Waldes“ (Dresden, Höckner) zu nennen, ein süßer Liebesgruß aus der und an die grüne Bergheimath des Verfassers, der eben so schönes Zeugniß für die bekannte Wanderlust desselben, für den hellen Blick, mit welchem er ihr genügt, wie für den echt deutschen Forschertrieb, der ihn beseelt, beibringt. Denn das höchst interessante Buch enthält nicht nur eine mit der ganzen liebenden Hingebung an die prächtige Bergnatur seines heimischen Gebirgs geschriebene Wanderung über den ganzen romantischen Rennsteig, sondern auch das Resultat langjähriger, mühevoller, ausführlicher Geschichtsstudien über das Alter dieses durch so hohe Eigenthümlichkeit ausgezeichneten Gebirgswegs. Ziegler’s Buch ist ein werthvoller Beitrag zu der immer wichtigere Bedeutung gewinnenden culturhistorischen Literatur unserer Zeit; denn er zeigt uns, wie ernstlich wir erst auf kleinen Feldern zu forschen haben, ehe wir mit Sicherheit das Gesammtgebiet der Culturgeschichte betreten können.

Nach einer andern Seite hin hat der bekannte literarisch thätige Archidiakonus Aug. Wilh. Müller in Meiningen die Specialgeschichte des Thüringer Gebirgslandes mit einem werthvollen Beitrage bereichert, der nicht ohne erfreuliche Einwirkung auf die sittliche Stärkung Deutschlands sein kann. Wir meinen sein mit Liebe und Sachkenntniß geschriebenes kleines Buch: „Dr. Martin Luther und sein Stammort Möhra“ (Meiningen, Gadow), welches von der Aufstellung der ehernen Lutherstatue in Möhra Veranlassung genommen, die Geschichte der Entstehung dieser Denksäule, so wie die Beziehungen des großen Reformators zu seinem Stammorte in höchst lebendiger und anziehender Weise mitzutheilen. Ein Mahnruf Luther’s an unsere Zeit und eine sehr sinnig zu dem bestimmten Zwecke zusammengestellte Blumenlese aus Luther’s Schriften wird den meisten Lesern eine willkommene Zugabe sein. Ebenso hat derselbe Schriftsteller uns den als Tondichter und Menschen gleich liebenswürdigen und beliebten Andreas Zöllner in einer trefflich geschriebenen Schilderung („Aus des Liedercomponisten Andreas Zöllner Leben und Streben“, Magdeburg, Heinrichshofen) vorgeführt.

L. St.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_048.jpg&oldid=- (Version vom 28.5.2018)