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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

reißend, sprang sie mit einem Satz vom Sopha auf und zur Stelle, wo das Mädchen stand. „Nein!“ rief sie und ballte die Faust vor Amanda’s Gesicht. „Also trotzig, verstockt und boshaft? Nun, das ist mir ein Muster von Erziehung! Bravo, Herr Scribent! Freilich, wie sollte Dich der Vater Gehorsam lehren, da er doch selber gegen Gottes Gebot ungehorsam war! Doch ich lästere ihn, ich lüge, ich verleumde! Er hat meine Familie nicht in Schande gebracht, die Cassenbücher nicht gefälscht, er war kein gemeiner, heuchlerischer – –“

„Halt!“ bebte Amanda und faßte krampfhaft den Arm der Tante. Ihre Augen blitzten im blassen Gesicht, und ihre Stimme klang furchtlos und entschieden. „Ich spreche jetzt das letzte Wort,“ fuhr sie mit fliegender Rede, aber furchtlos fort. „Sie haben kein Recht, den Todten vor seinem Kind zu schänden, denn des Weibes Amt und Vorrecht ist allein Vergebung. Was Sie sagten, war ein Diebstahl an meiner Seele, denn die Erfahrung, welche ich durch Sie gewann, die Erfahrung, daß die Welt grausam und niedrig ist, raubt mir das Letzte, was mir noch das Leben des Lebens werth machte, den Glauben an das Herz der Menschen! Ich bin nicht undankbar, bei Gott, nicht undankbar, allein diese Stunde trennt mich auf immer von Ihnen! Leben Sie wohl!“

Das Aussehen des Mädchens war so streng und gebieterisch, daß Frau Schunke es für gut hielt, in Ohnmacht zu fallen. Aber Amanda ging trotzdem. Sie unterrichtete die Magd vom Uebelbefinden der Herrin und verließ die Wohnung.

Im Hofgebände wohnte eine arme, bejahrte Frau, von welcher Amanda wußte, daß sie ein Gelaß zu vermiethen habe. Zu ihr begab sie sich. Nach kurzer Unterhandlung war Amanda in der kalten, kahlen Stube, ihrem neuen Asyl, allein.

Das Geräusch der Stadt drang nicht hierher. Die Kammer lag rückwärts; ihr Fenster ging nach einem öden, verschneiten Garten. Hinter dem letztern zogen sich neuangelegte Straßen hin, in denen vereinzelt und spärlich hohe, frischgetünchte Gebäude mit rothen Seitenmauern emporstiegen. Rechts war der Fluß.

Amanda setzte sich auf den einzigen Stuhl, das Haupt kraftlos gesenkt, die Hände auf dem Schooß verschlungen. Im Zimmer nebenan rückte zuweilen die alte Frau ihren Lehnsessel und schürte im Ofen. Sonst blieb Alles still.

„So soll ich denn einsam bleiben, eine verlassene Waise!“ sagte sich Amanda. „In dieser Stunde schlagen Millionen Herzen in Lieb’ und Freude, mein aber gedenkt Niemand außer Einem. Und diesem ist die Erinnerung an mich Kummer und Pein. Ach, wär’ ich von je an des Lebens Ernst gewöhnt! Die Welt erschien mir früher so rosig und freudevoll. Nun ist das Traumgold ausgegeben, und wie ein Märchen däucht es mir, daß ich einst fröhlich war. In dieser unermeßlichen Welt von aller Welt verlassen – – Nur nicht von Dir, o Gott,“ sagte sie dann und blickte zum gestirnten Himmel auf. „Du siehst meinen Schmerz, meine Reue. Da ich Alles verloren, gewinne ich Dich!“

Langsam ließ sie sich auf die Kniee nieder und betete.

Nennt das Gebet Wunsch, Gewohnheit, Aberglauben: Eines ist es für das Weib und den Armen – Trost!


8.

Vier Monate später saß Doctor Michaelis in einer eleganten Villa der Residenz als Gast beim Dejeuner. An seiner Seite hatte die Dame, ihm gegenüber der Herr des Hauses, General von M…, Platz genommen. Die reiche Ausstattung des Zimmers, das silberne Tafelzeug verriethen Geschmack und Wohlstand. Die Glasthüre, welche zum Garten führte, stand offen und ließ die duftgetränkte Frühlingsluft herein, denn laue, sonnige Tage hatten im angrenzenden königlichen Park überall Knospen und Grün hervorgelockt.

Der Arzt saß theeschlürfend im Sammtfauteuil, unbeengt durch die kalte Majestät der Baronin. Ihm war der General vom Fürstenschloß her ein alter, lieber Bekannter, dessen geraden Sinn in rauher Form er wohl zu schätzen wußte. Eines nur störte ihn in seiner Behaglichkeit. Seit seiner Anwesenheit übten in der Wohnung über ihnen offenbar Schülerhände ein und dasselbe Clavierstück.

„Hätt’ ich doch nimmer geglaubt,“ sagte der General, „daß Sie sich von Ihrem lieben Schlesien trennen und nach der Residenz ziehen würden!“

„Vor zwei Jahren noch,“ erwiderte Michaelis, „dachte ich auch nicht daran, meine Stellung zu verlassen. Allein der Neffe des Fürsten, der Majoratserbe, der von seinen Reisen zurückgekehrt ist, hat seinen eigenen Medicus mitgebracht. Zwei Aerzte auf dem kleinen Flecken Erde sind zu viel. Weil aber mein Rivale jung, geschickt und arm ist, entschloß ich mich, ihm das Feld zu räumen, empfahl ihn meinem guten Herrn und erbat für mich selbst den Abschied. Gestern am frühen Morgen sagte ich dem Fürstenpaar das letzte Lebewohl – ich gestehe, mit schwerem Herzen.“

„Dann sind Sie also gestern erst angekommen?“

„Ja, gestern Abends.“

„Und Sie fühlen kein Heimweh nach Ihrer Schloßeinsamkeit?“ fragte die Baronin mit ihrer harten, unmelodischen Stimme.

„Im Gegentheil, gnädige Frau,“ antwortete der Doctor. „Das rauschende Leben der großen Stadt erfrischt mich wie ein kaltes Bad.“

Vraiment! Aber nach Allem, was mir der General vom Fürstenschloß erzählte, muß Ihr Aufenthalt dort unendlich poetisch gewesen sein. Die Stille des Landes, die patriarchalischen Sitten müssen Sie doch hier schmerzlich vermissen! Ich denk’ es mir himmlisch, auf immer vom Wagengerassel, Rauch, von Politik und andern Horreurs der Hauptstadt befreit, unter einfachen Menschen ungezwungen wie die Vöglein leben zu können.“

Die wasserblauen Augen der Generalin starrten, während sie sprach, entsetzlich kalt und nüchtern gegen die Zimmerdecke.

„Entschuldigen Sie, meine Gnädigste,“ entgegnete der Arzt, „wenn ich Ihre Romantik nicht theile. Nirgends, glaube ich, sind wir weniger einsam und unbeschränkt, als in kleinen Landstädten, auf Dörfern und Schlössern.“

Vouz m’étonntez!

„Zugestanden!“ rief der General, „zugestanden, lieber Doctor, ich kenne das Landleben aus meinen Garnisonerinnerungen! Schrecklich langweilig! die Jagdsaison ausgenommen, schauderhaft langweilig!“

„Ich gebe mich dem großartigen Wechsel ganz und gerne hin,“ fuhr Michaelis fort. „Die Tausende, die an mir vorüberziehen, kennen mich eben so wenig, als ich von ihnen weiß; ihre Begegnung erregt mir nicht sofort eine Reihe unbeqemer Gedanken an ihren Charakter, ihre Geschäfte und häusliche Noth. Doch im großen Ganzen sehe ich die schöne Wirkung dieser verschiedenen Kräfte und fühle wieder nach langer Zeit, daß die Welt vorwärts schreitet. Der feine Rauch in den Straßen ist mir Wohlgeruch, das Geräusch des Handels und der Fabriken Musik.“

C’est drôle,“ sagte die Baronin.

„Nur einem Uebel kann man nirgends entfliehen,“ fuhr Jener mit gutmüthigem Lächeln fort, „es verfolgt uns in Dorf und Stadt: der Clavierdilettant. Wie genußvoll z. B. ist dieser Morgen, in reizender Umgebung, an der Seite meines würdigen Freundes und Gönners – da martert sich und uns irgend eine schöne Mitbewohnerin Ihres Hauses, indem sie mit grausamer Consequenz die Scalen leiert.“

Der General brach in ein Gelächter aus, so herzlich, daß ihm Thränen in die Augen traten; seine Gemahlin dagegen schoß einen wüthenden Blick auf den armen Michaelis.

„Kostbar!“ rief der Erste, immer auf’s Neue lachend. „Kostbar! Pardon, bester Doctor – aber Ihrer Kritik stimme ich aus ganzer Seele bei, obwohl die unglückliche Flügelspielerin – meine – meine eigne Tochter ist.“

„Donnerwetter!“ fuhr Michaelis heraus. „Entschuldigen Sie, Excellenz,“ stotterte er verlegen, „ich wußte nicht –“

„Daß ich eine Tochter habe und daß nur wir das Haus bewohnen,“ unterbrach ihn gutmüthig der Baron. „Warum haben Sie nicht früher schon bei uns angepocht! Uebrigens, mein gelehrter Freund, wenn auch meine Nerven gegen das nothwendige Uebel bereits abgestumpft sind, so soll, wenn Sie kommen, keine Taste –“

„Ich werde Mademoiselle Günther befehlen die Lection zu beenden,“ sagte die Baronin kalt und erhob sich.

„Um Himmels willen nicht!“ bat Michaelis. „Verrathen Sie meine Barbarei nicht weiter! Nannten Sie die Lehrerin nicht Günther? Fräulein Günther?“

„O,“ fiel der General ein, „Sie müssen sie kennen; sie ist aus B…“

Michaelis stand rasch auf und machte einen Schritt gegen die Thür hin. „Aus B…?“ rief er. Der General bejahte es und setzte hinzu, daß dieser Umstand ihn, den musikalischen Ignoranten, bestimmt habe, das Mädchen zu seiner Tochter Lehrmeisterin zu wählen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_051.jpg&oldid=- (Version vom 29.7.2021)