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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Höhle; der arme Schelm hatte einen Hieb auf den Kopf bekommen und war betäubt worden. Jetzt nun hatte seine Feindin leichtes Spiel. Sie lief ruhig hinzu und tödtete ihn vollends mit Schnabelhieben. Dann verzehrte sie ihn auf der Stelle.

Der Kolkrabe macht weniger Umstände, er tödtet den Lemming mit einem einzigen Hiebe, und die eigentlichen Raubvögel kümmern sich nun vollends um Zorn und Anstrengungen des Nagers nicht, sie packen ihn mit den gewaltigen Klauen und drücken ihm in kürzester Frist die Seele aus. Es ist eine im ganzen Norden allgemein bekannte Thatsache, daß die Schneeeule, welche sich fast ausschließlich von Lemmingen nährt, nur da gefunden wird, wo Lemminge häufig sind; ja man sagt, daß sie ihrem Wild auf den weiter unten zu schildernden Wanderungen unablässig nachfolge. Daß der arme Lemming auch dem Fuchs und dem Wolf keinen Widerstand zu leisten vermag, glaubt jeder meiner Leser, welcher von unserem Haushund einen viel gefährlicheren Hamster zu Tode schütteln sah. Wolf und Fuchs füllen sich die ewig leeren Bäuche, wenn sie nichts Besseres finden, regelmäßig mit Lemmingen an. Sie stürzen auf die Thiere los, fassen sie mit geschicktem Biß und werfen sie nach einer Minute, mit zertrümmertem Rückgrat todt auf die Erde. Nur der Fuchs schält das Wildpret aus seiner Haut; der Wolf verzehrt es mit Stumpf und Stiel. Auch der Vielfraß wird bald fertig; er gebraucht nicht seinen Mund, sondern giebt dem von ihm erkorenen Lemming mit seiner langkralligen Tatze eine einzige Ohrfeige und – den Tod. Hermelin und Wiesel müssen sich etwas mehr zusammennehmen; namentlich dem letzteren ist der Nager ein fast ebenbürtiger Kämpe. Bei ihren Kämpfen aber siegt Gewandtheit und List über den plumpen Muth.

Während des Winters treibt der Lemming unter dem Schnee sein Wesen. Er legt sich hier nicht nur lange, weitverzweigte Gänge an, sondern er baut sich auch, wie ich zufällig entdeckte, recht hübsche, weiche, warme Nester mitten in den Schnee. Kein einziger der früheren Reisenden, welche über den Lemming sprachen, erwähnt, soweit mir bekannt, dieser köstlichen Winterwohnung, wahrscheinlich, weil ihnen der Zufall nicht eben so günstig war, als mir. Bei der Schneeschmelze nämlich sah ich an einzelnen Orten große, aus feinen Grashalmen und Moos zusammengetragene, dickwandige Nester mit einem einzigen Eingangsloch, in Gestalt und Größe an das Nest unseres Zaunkönigs erinnernd. Sie standen auf dem Schnee, hier und da nach Art der Gletschertische, d. h. auf einem Fuße aus Schnee, während rings um sie herum die Sonne bereits die Macht ihrer Strahlen bethätigt hatte. Mein alter Erik wußte nicht, welches Thier sie angefertigt haben mochte, aber es unterlag gar keinem Zweifel, daß sie nur eben von Lemmingen herrühren konnten; denn als ich später einem nachgrub, welcher vor meinen Augen in einer Schneehöhle verschwand, fand ich, daß dieser Gang bis zu einem solchen fußhoch über der Erde im Schnee stehenden und ebenso hoch auch mit Schnee überdeckten Neste führte, in welchem der von mir Verfolgte richtig saß. Diese Wohnungen mögen recht behaglich und gemüthlich sein. Schon der Schnee wärmt, aber das ist dem Burschen noch nicht genug: er muß sich in der warmen Schneemauer ein weiches, noch wärmeres Bettchen einrichten. Für die Jungen baut sich das Weibchen im Sommer ein ähnliches Nest, gewöhnlich unter Moosbüschel. Erik beschrieb es mir – ich selbst fand es nicht – und dieser vortreffliche Naturbeobachter erzählte mir auch, daß das Nest fünf bis sechs Junge beherberge, welche von der Alten zärtlich geliebt und, wie zu erwarten, höchst muthvoll vertheidigt würden. Mehr erfuhr ich nicht über die Fortpflanzung.

Alpenpflanzen der verschiedensten Art, von der Wurzel bis zur Spitze, bilden die Nahrung des Lemming. Wenn es nichts Besseres giebt, nimmt er auch mit Flechten und Moosblättern vorlieb. Nur auf den lappländischen Inseln kommt er dem Menschen in’s Gehege, indem er sich hier und da in einem Kartoffelfeld ansiedelt. Dann findet er, daß die Knollen dieser Frucht eine rechte gute Speise sind, und läßt alles Uebrige bei Seite. Doch das sind Ausnahmen, welche nicht alle Tage vorkommen, und deshalb braucht man den Lemming nicht unter die schädlichen Thiere zu rechnen. Bei uns zu Lande würde er wohl schädlich werden, in Skandinavien aber, wo Hunderte von Geviertmeilen gleichsam nur für ihn bestimmt sind, kommen die wenigen Vergehen gegen das Eigenthum des Menschen nicht in Betracht.

Nach diesen von mir gemachten Beobachtungen wurde ich nun um so begieriger, den Lemming vollends kennen zu lernen, d. h. über seine berühmten Wanderungen etwas zu erfahren. Allein ich habe mich vergeblich bemüht, hierüber Kunde zu erhalten. Kein Skandinavier wußte mir von den Wanderungen zu erzählen, welche der alte Linné so anziehend beschreibt. Allerdings sagte man, daß Lemminge plötzlich an gewissen Orten in Massen erschienen, daß sie manchmal Inseln überschwemmten; allein von einem geregelten Zuge, in welchem diese Thiere angezogen kämen, wollte man nichts gesehen haben. In der Tundra z. B. sah ich nirgends einen Lemming, wohl aber die Losung des Thieres in solcher Menge, daß man buchstäblich keinen Schritt thun konnte, ohne auf ihr herumzutreten. Zwischen allen Büschen und allen Blöcken war sie förmlich aufgespeichert. Die Lemminge mußten also hier in noch weit größerer Menge aufgetreten sein, als ich sie auf dem Dovrefjeld fand, und gleichwohl war nicht ein einziger mehr zu sehen.

Wo kamen sie also hin? Verdarben sie, oder waren sie ausgewandert? Nun sollte man aber doch meinen, daß die Bewohner eines Landes wenigstens Etwas von jenen Wanderungen vernommen haben müßten. Irgend ein Jäger, irgend ein Hirt, irgend ein Lappe, Leute, welche mehr als ihr halbes Leben auf den Bergen und in der Tundra zubringen, müssen doch wahrhaftig etwas so Auffallendes beobachtet haben! Ein neuer Reisender giebt, wie ich gehört habe, eine sehr lebendige Schilderung von den Lemmingszügen und versichert, daß die ganze Masse aussähe, wie ein wogendes Meer: – ob der Mann wohl Lemminge hat wandern sehen? Selbst aus dem ausführlichsten Bericht, welchen wir haben, aus dem unseres Linné, scheint hervorzugehen, daß der große Naturforscher die Lemminge auch nicht mit eigenen Augen bei ihrer Wanderschaft beobachtet, sondern nur das Gehörte wiedererzählt hat. Ich will seine Beschreibung hier folgen lassen für diejenigen meiner Leser, denen die Werke unseres Altmeisters nicht zugänglich sind.

„Das Allermerkwürdigste bei diesen Thieren ist ihre Wanderung. Denn zu gewissen Zeiten, gewöhnlich binnen zehn und zwanzig Jahren, ziehen sie in solcher Menge fort, daß man darüber staunen muß, bei Tausenden hintereinander, so daß ihr Pfad ein paar Finger tief und einen halben breit ist. Einige Ellen davon laufen andere Pfade, alle schnurgerade. Unterwegs fressen sie das Gras und die hervorragenden Wurzeln auf. Wie man sagt, werfen sie unterwegs und tragen dann ein Junges im Maul, das andere auf dem Rücken fort. Auf unserer Seite gingen sie vom Gebirge herab nach dem botnischen Meerbusen. Sie kommen aber selten so weit, sondern werden zerstreut und gehen unterwegs zu Grunde. Kommt ihnen ein Mensch in den Strich, so weichen sie nicht, suchen ihm zwischen den Beinen durchzukommen oder setzen sich auf die Hinterfüße und beißen ihm in den Stock, wenn er ihnen denselben vorhält. Um einen Heuschober gehen sie nicht herum, sondern graben und fressen sich durch, um einen großen Stein beschreiben sie einen Halbkreis und gehen dann wieder in gerader Linie fort. Sie schwimmen über die größten Teiche, und kommen sie an einen Nachen, so springen sie in denselben hinein und werfen sich auf der andern Seite wieder in’s Wasser. Vor einem brausenden Strom scheuen sie nicht, sondern stürzen sich hinein und sollten dabei auch Alle ihr Leben zusetzen.“

Diese Angabe scheint mir das Thema aller späteren Berichte zu sein, d. h. es will mir fast dünken, als hätten die späteren Reisenden nur Variationen dieses Themas gegeben. Es ist wohl keinem Zweifel unterworfen, daß die Lemminge von einem Orte zum andern gehen. Das sind aber keine geregelten Heerzüge, keine Wanderungen, wie Linné sie beschreibt. Doch wäre es ja recht gut möglich, daß ich zufällig weder eine dieser Wanderungen gesehen, noch Leute gefragt hätten welche davon zu berichten wissen, und deshalb eben habe ich mir erlaubt, meinen Lesern ein Viertelstündchen ihrer Zeit wegzunehmen. Die Gartenlaube fand ich ja auch in Skandinavien, ich fand sie in Lappland; sie kommt so vielen Reisenden, welche die herrliche Halbinsel durchwandern, in die Hände. Sie wird deshalb auch am besten eine Bitte verbreiten:

„Ich ersuche alle Forscher und bitte alle Leser dieses Blattes, welche durch eigene Anschauung oder durch untrüglich sichere Gewährsmänner Etwas über die Wanderungen der Lemminge im Einklange der Linné’schen Beschreibung vernommen haben, mir ihre Beobachtungen freundlichst mittheilen zu wollen, oder solche in der Gartenlaube veröffentlichen zu lassen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_058.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)