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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Der aufmerksame Leser weiß nun schon, wie die sinnreiche talmudische Legende und der hundertjährige Geburtstag des ehrlichen, wackern Seume zusammen kommen. Ja, dieser schlichte Bauernsohn aus Posern, Johann Gottfried Seume, ist ein rechter Kernmensch und Typus für das schöne Gedicht aus dem Talmud. Wie könnte man sich denn die große Liebe und Anhänglichkeit erklären, welche das deutsche Volk diesem Dichter seit länger als sechszig Jahren gewidmet hat und voraussichtlich immer fort widmen wird, wenn dieser Mann nicht durch und durch ein echter und wahrer Repräsentant unsrer geistigen und gemüthlichen Volkseigenthümlichkeit wäre, wenn man nicht, sobald man sich einen Prototyp des deutschen Charakters und Wesens, des Deutschen an sich vorstellen will, unwillkürlich gezwungen wäre, sich an Seume zu erinnern? Es liegt ein ganz eigenthümlicher Zauber in den schlichten Worten, die er niedergeschrieben, der uns faßt und zu ihm hinreißt. Was hat er denn an sich, dieser schlichte Wandersmann, der einen großen Theil Europa’s am Knotenstocke mit gesundem Herzen und Auge durchpilgerte, dieser moderne Diogenes, der arm und anspruchslos, geehrt und geliebt, vom Throne bis zur Bauernhütte herab, mit festem Fuße und klarem Geiste, aber so frei von Selbstüberschätzung, wie von lumpiger Bescheidenheit, aus dem vorigen Jahrhundert in das unsrige herüberschreitet und allen Erscheinungen, die sich ihm darbieten, gerecht, ein leuchtendes Vorbild unsres Volkes in hochsinnigem Streben und Wirken geworden ist? War er denn etwa ein großer Gelehrter? Mit nichten. War er ein großer Dichter? Ebenfalls nicht. Ein großer Forscher und Denker? Auch das nicht. Und doch liebten ihn die großen Gelehrten, Dichter und Denker, die ihn persönlich kannten, eben so warm, wie der Bürger und Landmann, und noch heute, 52 Jahre nach seinem Tode, zählen Seume’s Verehrer in unserm Volke in allen Ständen und Lebensaltern nach Millionen. Was war’s endlich, das diesem Manne aus dem Volke eine so starke Folie gegeben, daß seine an und für sich fast unbedeutende Gestalt sich so plastisch und leuchtend hervorhebt vom dunkeln schmachvollen Hintergrunde seiner Zeit? Es ist die schlichte rechte Grundehrlichkeit und Redlichkeit des Deutschthums, die deutsche Treue und Rechtschaffenheit, das specifisch deutsche Charakterthum, das in ihm zur concreten Erscheinung gekommen ist; es ist der schlichte Menschenverstand, gepaart mit dem edlen Mannesmuth, der ohne Furcht und Scheu sagt, was er als Recht und Wahrheit erkennt, und sein Leben und Streben nach dieser Erkenntniß einrichtet.

Seume ist der echte deutsche Volksrepräsentant und nimmt seine Stelle im Ehrentempel der Nation auf der Seite ein, wo Martin Luther und Ulrich Hutten stehen. Jeder ehrliche Deutsche, der der widerwärtigen Pfaffen-, Schreiber- und Junkerwirthschaft herzlich satt ist und das Heil des ganzen Volks wie des Einzelnen allein in einer sittlichen Wiedergeburt des alten auf gutes Recht und lichte Wahrheit gegründeten Deutschthums in einer dem Fortschritt der Zeit in Bildung und Erkenntniß angemessenen Weise sieht, begrüßt den ehrlichen treuen, rast- und furchtlos die Wahrheit sagenden, von heißer Liebe für Natur, Menschen und Vaterland erfüllten Bauernsohn aus Posern als Lehrer, Meister und Vorbild, dem er nachzueifern habe, soll es endlich mit uns besser werden, dessen schlichte und rechte Aussprüche er sich anzueignen und in Saft und Blut, in Frucht und That umzuwandeln habe,

„damit das Gute wirke, wachse, fromme,
damit der Tag dem Edlen endlich komme.“

Wahrlich, es macht uns große Ehre und ist ein schlagender Beweis für den unverwüstlichen sittlichen Kern unseres Volksthums, daß Seume vom deutschen Volke so hoch geehrt, so warm geliebt wird, und wir lassen in diesem stillen Cultus nicht nur ihm, dem herrlichen deutschen Manne, wir lassen uns selbst Gerechtigkeit darin angedeihen. Denn wir würden ihn nicht so lieben und verehren, wenn wir nicht wüßten und gleichsam aus jeder Zeile, die er uns hinterlassen, heraus fühlten, daß er „Fleisch von unserm Fleisch und Bein von unserm Bein“ ist, daß sein Geist ein dem unsern verwandter Funke, seine Seele der unsrigen herzinnig verschwistert, daß die von ihm erkannte Wahrheit auch unsere heiligste Ueberzeugung ist. Sein Wesen ist mit allen Nerven und Fasern unserm Wesen verwachsen, wir auch sind ehrliche, treue, deutsche Männer, wie er war, wir auch lieben alle ehrlichen Deutschen, wie er sie liebte, wir auch glühen für des Vaterlands Einheit, Größe und sittliche Schöne, wie er geglüht.

Komm, ehrliche, brave, deutsche Jünglingschaft, die Du in Deinen Lieder- und Turnhallen treu beisammen stehst, und weide Auge und Herz an diesem herrlichen deutschen Manne Johann Gottried Seume! Vor allen ihr Jünglinge und Männer aus dem Volke, faßt die rauh und finster blickende, schier granitne Gestalt dieses braven Bauernsohns recht scharf in’s Auge, und bald werdet ihr entdecken, welch ein treues, warmes Herz für Recht und Pflicht, für Zucht und Sitte, für Tugend und Wahrheit, für Treue und Dankbarkeit in seiner Brust schlug, wie die hehrste und heiligste Liebe für das Wohl der Menschheit und vorzüglich des deutschen Vaterlandes, als ein lebendiger, heißer Springbrunnen, ein wahrer Gefühls-Geiser, aus seiner Seele hoch emporsprang und unzählige durstige Seelen tränkte, labte, stärkte und begeisterte!

Ja, der Geiser, meine jungen Freunde, ist ein wahres und treffendes Bild unseres verehrungswürdigen Seume; denn wie der große mächtige Springquell dieses Namens kochend heiß und gewaltig aus dem rauhen Felsenthale der eisig kalten Insel Island emporschießt, so brach aus Seume’s rauher, scheinbar kalter und unfreundlicher Gestalt der Strom der Menschen- und Vaterlandsliebe siedend heiß hervor. Und weil er so heiß liebte, so mußte er natürlich eben so heiß hassen. Wie die Größe des Vaterlandes sein glühender Wunsch, so war der Particularismus, der sich dieser Größe stets selbstisch entgegenstellt und sie unter allerlei Verlarvungen zu hindern sucht, der Gegenstand seines heißen Hasses. Und da waren denn das liebe Junkerthum, das nicht minder liebe Schreiberthum und das noch liebere Pfaffenthum die garstigen bösen Bollwerke, die, noch aus dem Mittelalter auf uns gekommen, und aus welchen fort und fort die Leiche des Königs Schlomo dem Volke als lebender Herrscher aufgezwungen wird, er mit allen Waffen des Geistes bekämpfte. Stets erkannte er das Uebel richtig und gab, wenn auch meist mit bittern Worten, der erkannten Wahrheit vor aller Welt die Ehre. Und wenn ihr die Zeit in’s Auge faßt, in welche das letzte und wichtigste Drittel seines Lebens fällt, wo er alle schönen Hoffnungen zu Grabe tragen mußte, die ihm aus dem Beginn der französischen Revolution so leuchtend aufgestiegen und von denen nichts übrig blieb als der Haß gegen den corsischen Soldaten, der als Eroberer den letzten Rest der Freiheit der überwundenen Völker höhnisch zu Boden trat, und die Verachtung der Deutschen, die schweifwedelnd vor dem übermüthigen Emporkömmling krochen, wenn ihr diese jämmerliche, armselige Zeit betrachtet, die allem Deutschthum den Garaus zu machen drohte, so wird euch der freimüthige, ehrliche, wahrheitsliebende Seume um so verehrungswürdiger erscheinen. Welch einen herrlichen Gegensatz bildet er doch zu der Menschenmisère in den deutschen Vaterländchen, vorzüglich zu dem schleppentragenden Pfaffen-, Schreiber,- und Junkerthum! Wie ein sittlicher Riese steht er unter verkommenen Pygmäen! Wie ein Fels erhebt er das Haupt aus dem Meere des widerwärtigen Franzosenthums, das die deutsche Erde überschwemmt hatte und in welchem so viele fürstliche und adelige Herren so behaglich badeten oder wateten!

Es ist für jedes echt deutsche Herz ein schmerzlicher Umstand, daß der edle Patriot Seume, wie sein genialerer Freund Schiller, die Erhebung des deutschen Volkes gegen den frechen Corsen und die glorreiche Besiegung desselben nicht mehr erlebte. Freilich ist ihm auch die bittere Täuschung erspart geblieben, die wir ältern Männer haben erdulden müssen und die sich so tief und schmerzlich in unser Herz eingefressen hat, die Täuschung, die wir von den Thronen des eigenen Vaterlandes erfuhren.

Seume hat uns ein Bruchstück seiner eigenen Lebensbeschreibung hinterlassen, das zu dem Werthvollsten gehört, was er geschrieben, und obgleich er darin nicht über die Jünglingsjahre hinausgekommen ist, so tritt doch sein Bild in herrlicher Frische daraus hervor. Leider wurde er durch seinen frühen Tod an der Vollendung dieses Werkes verhindert. Sein Freund, der Philosoph und Dichter Christian August Heinrich Clodius, Professor an der Universität in Leipzig, hat dann die Biographie mit schöner Pietät für den Verstorbenen vollendet. Seume’s Bild vervollständigt sich aus seinen übrigen Schriften, besonders aus dem „Spaziergang nach Syrakus“ und aus „Mein Sommer 1805“.

Solch eine grundehrliche, treuherzige deutsche Natur war Seume schon als Jüngling, daß er aus lauter Ehrlichkeit und Pflichtgefühl, das seine gewonnenen Ueberzeugungen nicht mehr mit der Dankbarkeit gegen seinen Wohlthäter zusammen reimen konnte,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_060.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)