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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Hoffnung, die Geschichte seines Herzens jemals versöhnungsvoll zu schließen. Die Superintendentin jedoch, die kluge, stolze Frau, verlor trotz der blassen Wangen, trotz der zunehmenden Düsterkeit ihres Sohnes die Zuversicht zur Heilkraft der Zeit nicht. Was sind ihr unsichtbare, unblutige Wunden! Warum soll der Schmerz um ein armes, kindisches Mädchen nicht zum Schweigen gebracht werden können? Hat sie selbst doch Eltern und Gemahl verloren und ist aufrecht geblieben! Manchmal blickte sie ihren gramgebeugten Sohn fast höhnisch an, indem sie daran dachte, wie anders sie einen so nichtssagenden, erbärmlichen Fall wie Herzweh zu verwinden wußte!

Die Schatten, welche auf dem Pfarrhaus ruhten, wurden immer finsterer. Selbst der Kanarienvogel in Reinhold’s Wohnstube schien von der Schweigsamkeit angesteckt. Er sang nur selten mehr, verstummte zuletzt ganz und lag eines Morgens todt im Bauer. „Du hast ihn in der letzten Zeit zu füttern vergessen!“ sagte trocken die Superintendentin.

Des Rendanten Sterbetag jährte sich. Frau Reinhold saß wie gewöhnlich am Fenster, las in der Bibel oder blickte auf den stillen Platz hinab. Ihr Sohn aber ließ sich durch die Magd entschuldigen, schloß sich in seine Stube ein und erschien nicht zu Tisch. „Wegen der Günther!“ dachte sich die Greisin, voll Entrüstung über die Sentimentalität der Männer.

Er saß über Actenbündeln, welche Gemeindesachen betrafen. Doch bemühte er sich vergebens, seine schwermüthigen Gedanken durch Arbeit fern zu halten. In der vierten Stunde des Nachmittags warf er die Feder fort und eilte in’s Freie.

Noch war in diesem Jahr kein Schnee gefallen. Heute wirbelten die ersten Flocken, zergingen jedoch, sowie sie den Boden berührten. Ein stürmischer Wind wehte über die kahlen Gefilde, und ruhlos flogen die Wolken. Auf Feldwegen umging Reinhold die Stadt, um den Krümmungen des Flusses nachzuschreiten, bis zum Hügel, welchen das fürstliche Schloß krönt. Auf der Heerstraße kehrte er zurück. Auch auf ihr war es menscheneinsam wie auf den Feldern, einsam, aber nicht friedevoll. Im Windesbrausen ächzten die Alleebäume und raschelte das dürre Laub, hungrige Elstern hüpften über den Weg oder saßen auf dem Geäst; ein Schuß klang vom fernen Wald her, und sie flogen kreischend feldeinwärts.

Reinhold gedachte der Nacht, da er mit dem Doctor diesen Weg zum kranken Günther eilte. „Das war der Dunkelheit Anbruch,“ sagte er. „O, was ist des Menschen Selbstvertrauen und Zuversicht auf geistige Errungenschaften, wenn des Lebens Stürme über ihn kommen! Wie ruhig in der Gewißheit meines Glaubens folgte ich früher den Speculationen des Verstandes! wie belächelte ich das vergebliche Mühen der Philosophen, die letzte Frage nach des Weltlaufs Urgrund und Ziel zu lösen! Jetzt drängt mir das lebendige Schicksal die Fragen auf: Was ist Glück und Unglück, Recht und Schuld? und meine Glaubensseligkeit schwindet, mein Herz schwankt in Zweifeln! – Priester müssen glücklich sein. – Ja, wenn mein Schmerzenskampf nur eine Prüfung wäre! Aber ich habe bereits gewählt. Recht oder falsch – mein Herz ist fürder nicht mit meiner Pflicht.“

Er näherte sich dem Kirchhof. Nach kurzem Zaudern schlug er den Seitenpfad dahin ein. Schon war die Nacht angebrochen, und am Himmel kämpfte das Mondlicht mit dem Gewölk. In raschem Wechsel huschten Licht und Schatten über das Todtenfeld, das der Pastor gesenkten Hauptes jetzt langsam durchschritt. Günther’s Grab lag am Ende des Todtenackers, am eingrenzenden, altersgrauen Gemäuer. Schon stand Reinhold dicht dabei, da riß wieder der Wolkenschleier, und in der Mondeshelle sah Jener plötzlich eine verhüllte Gestalt sich erheben und ihm abwehrend den Arm entgegenstrecken.

„Scybylski!“ rief Reinhold überrascht.

„Ja, Scybylski,“ erwiderte der einsame Friedhofsgast. „Ich habe ein Recht, heute an diesem Grabe zu knieen. Was aber wollen Sie hier?“

„Mit Ihnen gemeinschaftlich beten,“ sagte der Pastor verwirrt und niedergeschlagen.

„Ich habe keine Gemeinschaft mit Ihnen,“ versetzte der Andere, „und auch der hier unten hat nichts mehr mit Ihnen gemein. Sie sind hier dem Todten wie dem Lebendigen ein Aergerniß.“

„Scybylski – –!“

„Gehen Sie!“ rief dieser unwillig aus. „Sie trennten sich von diesem Mann, von seinem Kind und seinem Unglück. Es ist kein Platz für Sie an Günther’s Grab.“

Ein Seufzer entrang sich Reinhold’s Brust. „Wenn Sie wüßten!“ sagte er und fuhr mit der Hand über die feuchten Augen.

„Herr!“ fuhr Scybylski heraus. „Sie reden sich wohl ein, Sie seien der Unglückliche? Amanda hat wohl Sie gekränkt, Sie verlassen? In der warmen Stube, in Hülle und Fülle sitzend den Märtyrer spielen, das kann Jeder. Ein Mann aber – hören Sie, ein Mann! – würde gegen das Unglück ankämpfen, würde trotz Mutter und Consistorium dorthin gehen, wo dieses Todten Tochter ist, und des Vaters Schuld als sein besserer Sohn vergessen machen. So lange Sie das nicht thun, haben Sie kein Recht, hier zu knieen und zu weinen. Ich wiederhol’ es, kein Recht! Ihre Mutter hat vor Jahresfrist meine gutmüthige Schwäche ausgebeutet und verrathen; Dank dieser Lehre, bin ich jetzt kalt und hart geworden. Verlangen Sie also nicht Mitleid von mir, sondern gehen Sie!“

„Scybylski,“ sagte der Pastor erregt, aber ohne Zorn; „leicht wär’ es mir, mein Recht, hier eines Jeden Recht, zu behaupten; aber die Ruhe der Todten ist mir heilig. Freiwillig trete ich daher zurück; versöhnt einst, hoffe ich, werden Sie mir über diesem Hügel die Hand reichen. Leben Sie wohl!“ Er ging.

Scybylski sah dem Prediger finster nach, bis er zwischen den Grabmälern entschwunden war, dann beugte er wiederum sein Haupt zu Günther’s Grab nieder.

„Ich,“ flüsterte er, „ich habe Dein Kind geliebt.“


10.

Es klingelte.

„Das ist Amanda,“ sagte der Arzt und kehrte an seinen Arbeitstisch zurück.

Es war der zweite Weihnachtsabend seit Günther’s Tod. Konnte Doctor Michaelis vor Jahresfrist von seinem Gemach frei über weite, stille Schneefelder blicken, an deren Horizont nur als schmaler, dunkler Streif mit wenig Lichtpunkten sich ein Städtchen erhob: so sah er heute dagegen in eine engbegrenzte, aber um so lichtere, bunte Welt. Unter seinen Fenstern dehnt sich mit schneebedeckten Lindenreihen der Hauptplatz der Residenzstadt aus. Die Gaslaternen und glänzend erleuchteten Schauläden verbreiten Tageshelle. Im Gegensatz zu der stillen Weihnacht auf dem Lande wogt und rasselt es hier rastlos dahin. Kein Augenblick läßt die Luft unerschüttert; tausendfältige Töne durchkreuzen sie; das Summen der durcheinander schwirrenden Fußgänger, das Gekreisch der Verkäufer, das Rollen der Wagen wächst zum sinnbetäubenden Getös an, das in der Höhe wieder in einem gewissen, eintönigen Rhythmus zusammenschlägt, wie der Wellengesang des Meeres.

Den greisen Gelehrten stört es nicht. Eine laue, leicht gewürzte Luft wallt durch’s erhellte Zimmer, das nicht so groß und hoch wie jenes auf dem Schloß, dafür aber wohnlicher und einheitlicher ausgestattet ist. Zu den Ecken steigen aus breitblätterigen Pflanzengruppen weiße Statuen empor, Schränke und Spinden sind spiegelblank, und das mannigfache Kunst- und Nutzgerät geordnet und geschmackvoll vertheilt; gestickte Kissen schmücken Sopha und Stühle; allüberall thut sich das mondenlange Walten eines sinnigen Frauenwesens kund. Wachskerzen brennen auf dem Tisch, der Schein der Studirlampe aber fällt auf den alten, unverbesserlichen Schreibtisch, unter dem der Pudel schläft.

Das Zimmer hat zwei Ausgänge, einer führt auf den Flur, die zweite Thür in eine Flucht von Zimmern. Im Hintergrund der Stube befindet sich ein Alkoven, er ist durch einen schweren, braunen Vorhang verdeckt.

Geräuschlos trat Amanda aus dem anstoßenden Gemach ein, zögerte an der Schwelle ein Weilchen und betrachtete – Verehrung und Kindesliebe im Blick – den greisen Mann, der ihr ein zweiter Vater ward. Dann trat sie näher und legte sanft die Hand auf seine Schulter. „Darf ich Sie stören?“ fragte sie.

Es war ein anderer Mensch, der jetzt aus seiner gebückten Haltung sich aufrichtete und zum Mädchen emporsah; die Denkerfalten aus der Stirn glätteten, die Augen belebten sich, und ein wahrer Lichtstrom von Güte und Behagen verjüngte sein Gesicht. „Du störst mich nie, mein Kind,“ sagte er und nahm die Hand, die auf seiner Schulter ruhte, eine Hand, welche nicht immer so

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_067.jpg&oldid=- (Version vom 29.7.2021)