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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Dichters, um den Vater um dies und das zu bitten, und der Blick auf jedes war ein Freudestrahl. Als der Student schied, begleitete ihn ein etwa zwölfjähriger Knabe durch den Garten zur Landstraße, an die dieser grenzt. War freilich zu vermuthen, daß sein kindlich zuthulicher Begleiter einmal ein Professor werden würde, das aber vermuthete er nicht, daß er mit der Zeit einen lieben Freund an ihm gewinnen und daß aus dem Knaben ein berühmter deutscher Geschichtsschreiber werden solle, der er jetzt ist: Heinrich Rückert.

Mein unvergeßlicher Lehrer, der große Geschichtsforscher Heinrich Luden in Jena, in dessen Arbeitszimmer ich manche fruchtreiche Stunde saß, erzählte mir einmal, als von den vielen damals auftauchenden Dichtern die Rede war, folgendes Geschichtchen: „Es stand ein Knabe am Fenster seiner hohen Wohnung und trieb ein kindisches Spiel. Er übergab Papierstückchen dem Zug des Windes und schaute ihnen nach, wie sie dahin wirbelten und bald da, bald dort hängen blieben oder in die Weite verschwanden. Lange sah der Vater dem Treiben des Knaben schweigend zu. Endlich fragte er ihn: Mein Kind, kann Dich das so sehr erfreuen? Komm, ich zeige Dir’s besser. Und nun nahm er ein Blatt Papier und heftete ein Holzstäbchen daran. So übergab er’s dem Winde. Und siehe, das Luftgefährt hatte gleichsam Kiel, Ballast und Steuer, nicht jeder kleine Windstoß wirbelte es hierhin und dorthin, sondern es hielt fest im großen Strom des Windes und verfolgte, wie nach einem bestimmten Ziel, in edler Schwingung seine Bahn. Sehen Sie, mein junger Freund, wie jene losen Blättchen erscheinen mir die leichten Dichter, die mit ihren ersten besten Gefühlen und Gedanken vor die Oeffentlichkeit hinlaufen; das Blatt mit dem Stäbchen zeigt mir einen Dichter, der von der Schwere reichen Wissens getragen wird und der im Strom der Zeit in immer edler Haltung ein würdiges Ziel verfolgt, und ein solcher Dichter ist unser Friedrich Rückert.“

Gerade das ist es aber, was von Rückert’s Wirken im Volke selbst am wenigsten erkannt und gewürdigt worden ist. Wie ich schon oben bemerkte, hielt das eigentliche Lesepublicum sich von Werken, wie das chinesische Liederbuch „Schi-King“, die „Morgenländischen Sagen und Geschichten“, „Erbauliches und Beschauliches aus dem Morgenlande“, die Heldengeschichte „Rostem und Seirach“, die „Brahmanischen Erzählungen“, Arbeiten, die eben so viel Triumphe des deutschen Geistes wie der deutschen Sprache sind, fern, weil es sie für zu fremd hielt und selbst den Versuch scheute, in sie einzudringen.[1] Es fürchtete sich vor der Mühe, die das Lesen gewöhnlicher Uebersetzungen macht, und dachte nicht daran, daß einem Rückert derlei rein unmöglich sind, daß er ihm nimmermehr einen Ballast von Gelahrtheit aufbürden, sondern ihm von seiner mühevollen Arbeit nur den belehrenden und erhebenden Genuß bieten könne. Erst „die Weisheit des Brahmanen“ packte wieder mit der Gewalt der geharnischten Sonette und des Liebesfrühlings die Herzen und ward in kürzester Zeit ein Volksbuch, „so viel Tiefsinniges und Klares, so viel deutsches Gemüth, so viel ergreifendes Gefühl, solche Erhabenheit der Bilder und solch einen Reichthum an tiefster Lebenserfahrung“ enthält es, so spiegelt sich in allen Sprüchen desselben „der tiefblaue Himmel der Weisheit“.

Mit dieser Dichtung kehrte, nach der Anschauung seiner Zeitgenossen, Rückert erst wieder nach Deutschland zurück. Sie konnten noch immer nicht einsehen und wollten sich aus den morgenländischen Werken nicht überzeugen, daß sein Herz es nie verlassen hatte. Und man hatte es doch so leicht, sich selbst persönlich eines Besseren zu belehren.

Um die Mitte der vierziger Jahre konnte man jeden Nachmittag, den die freundliche Sonne der milden Monate beschien, in Rückert’s Garten ein gar schönes Bild sehen. Da kam von Coburg her ein hoher, stattlicher Greis gewandelt, umspielt von fünf bis sieben keinen Hunden, seinen erheiternden Begleitern, und schritt dem Garten des Dichters zu. Dort empfingen ihn am traulichen Kaffeetisch zwischen den Blumenbeeten vor dem Hause Rückert, dessen Familie und die Gäste, die selten fehlten. Das war der Freiherr Karl August von Wangenheim, weiland Bundestagsgesandter und Staatsminister von Würtemberg, ein durch seine freie, hohe, edle, deutsche Gesinnung, wie durch Geist, Gelehrsamkeit und eine herrliche Luft und Kraft des Lebens so ausgezeichneter Mann, daß wir ihn unsern Lesern wohl einmal besonders vorführen müssen. Da saßen denn die beiden innigen Freunde, der Staatsmann, ein angehender Siebziger, neben dem nahen Sechziger, beide, Rückert im einfachsten, der ländlichen Ungezwungenheit angemessenen Hausgewand, die langen Pfeifen gemüthlich schmauchend, und um sie gereiht der reiche Kranz von des Dichters häuslichem Glück. Da wirthete seine edle Gattin, aus deren Augen noch derselbe warme Strahl drang, der einst aus ihres Freimund’s Seele den Liebesfrühling hervorgezaubert. Da schmückten den Kreis die Mädchen, die als liebliche Kinder den Studenten in der Laube umschwärmt hatten, als blühende Jungfrauen, und die Buben waren zu kräftigen Jünglingen und jungen Männern emporgeschossen. Aber des Kranzes Ehrenschmuck waren die beiden Alten.

Wangenheim lebte damals neu auf in der Freude über die dichterischen Erfolge seines Lieblingssohnes Paul, dessen treffliche Dramen „Lord Stafford“ und „die Abtrünnigen“ so eben die Bühnen beschritten hatten. Das hatte den ganzen Humor des jugendlich frischen Greises wieder geweckt, und es war eines Tages gar ergötzlich, wie er sich mit Rückert über die Darstellungen der menschlichen Leidenschaften und Schwächen durch Thiergestaltungen herumstritt. „Da hab’ ich neulich einen alten Löwen abgebildet gesehen, der griesgrämig und mit vielen großen Orden behängt in einem Winkel hockt. Sag’, Rückert, kann’s ein besseres Portrait von mir geben? Wenn’s Dich nicht zu sehr kränkte, müßte mein Paul einmal ein dramatisches Thierstück schreiben und mich als einen solchen alten abgesetzten Löwen verewigen, das gefiel’ mir am besten!“ –

Eines solchen Nachmittags entwickelte Wangenheim, während Rückert abwesend war, mir seine Ansicht über die Rückert’schen Dramen. „Die Leute verstehen ihn nicht, weil sie blos an’s Theater denken, nach dem Rückert ja gar nicht ausgeschaut hat. Er hat die Form des Drama gewählt, um dem Volk Geschichtsbilder zu malen mit lebendig hervortretenden Gestalten und zwar nur die größten Bilder aus den Wendepunkten des Gangs der Weltgeschichte. Da nehmen Sie „Saul und David“, es zeichnet die Blüthezeit des ersten Culturvolks, dem alle anderen den Grund und Boden aller Cultur, den Glauben an einen Gott, zu verdanken haben. Darauf der „Herodes“ mit Christus und der ganzen neuen Welt, die er geschaffen. Und in „Heinrich IV.“ sehen wir die christliche Priestergewalt auf ihrer höchsten Spitze, von der sie niedersteigen muß, und endlich den „Columbus“, der mit der Entdeckung von Amerika eine neue Weltordnung heraufbeschworen hat, in deren Entfaltung wir noch mitten drin stehen. Die Leute sollten diese Sachen nur recht fleißig lesen, sie würden daraus mehr mit fort nehmen, als aus Hunderten ihrer landüblichen Theaterabende.“ – So würdigen sich unsere Großen, denn auch Karl August von Wangenheim gehört, wie Rückert, zu den großen Männern des Volks.

Bekanntlich hatte König Friedrich Wilhelm IV. im Jahr 1841 den berühmten Dichter von Erlangen nach Berlin gezogen. Der kalte Boden des dortigen Lebens war jedoch nicht geeignet, daß Rückert in ihm Wurzel schlagen konnte. Er kehrte im Jahr 1848 für immer in sein trautes Neuseß zurück.

So steht denn an der Wiegenstätte seines Glücks nun auch der Ruhestuhl des Alten. Fern vom störenden Geräusch des Alltagslebens und doch am großen Strom der Zeit, hat er am grünen Ufer seine Hütte gebaut. Zwischen stillem Schaffen auf den alten lieben Fluren seiner geistigen Gebiete und in seinen Gärten lebt er hier die schönen Stunden seines Abends und schaut mit immer frischem, theilnehmendem Herzen in das Treiben der rastlosen Welt, ja, er wirkt selbst noch mit durch seine tüchtigen Söhne, die in fester, männlicher Gesinnung ihres Vaters und ihres Namens würdig sind.

Im Hause des Dichters ist’s freilich anders, ist’s stiller geworden; den einst so vollbelaubten Baum hat die Zeit entblättert. Als ich nach Jahren die liebe gastliche Stätte, diesmal am Arme meiner Gattin, die sich nach dem Anblick ihres Lieblingsdichters sehnte, wieder betrat, hatten zwei Hände vieles Leben daraus entführt: die Hand des Todes und die Hand der Liebe. Rückert’s Gattin war gestorben, der Kranz der Kinder zerstreut, jedes im glücklichen Nestchen seines eigenen Hausstandes. Nur Marie, des Vaters weiblich verfeinertes Ebenbild, war ihm als treue Pflegerin geblieben. Rückert selbst hat den Einflüssen der Jahre auf die Mehrzahl der Menschen Trotz geboten, noch ragt kräftig

  1. Rückert’s Thätigkeit auf diesem Felde verdient eine eingehendere Behandlung, als wir in dem obigen Artikel ihr widmen könnten. Wir werden der Darstellung derselben deshalb in einem Artikel über die Dichtkunst des Morgenlandes einmal einen besondern Raum bieten.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_088.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)