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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Werke für Kirchen zu finden sein, als hier, wo mit Ladegast sich noch eine Zahl sehr tüchtiger Meister zu bedeutendem Schaffen vereinigen, und unser Meister selbst in der jüngst vollendeten großen Orgel zu St. Nicolai in Leipzig einen neuen glänzenden Beweis seiner hohen künstlerischen Vollendung gegeben hat.

Nach den geschilderten Vorgängen in Merseburg konnte es nicht fehlen, daß der Stadtrath des benachbarten Leipzig bei dem in Aussicht genommenen Neubau der obigen Orgel Ladegast in’s Auge faßte. – In kaum drei Jahren hat die rüstige Thatkraft des Meisters diese Riesenorgel vollendet. Dieselbe hat, wie die heutige Abbildung der Gartenlaube zeigt, einen höchst imposanten Prospekt von einer Breite von 74 Fuß, in welchem ein Principal 32 Fuß und zwei dergleichen 16 Fuß von englischem Zinn stehen, ohne die kleineren, zur Ausfüllung dienenden Principale. Die größte Zinnpfeife, das tiefe (große) Contra-E[1] (32 Fuß) wiegt allein drei Centner.

Gespielt wird das Werk auf vier Manualen (Claviaturen nebst zugehörigen Pfeifen, Registerzügen. etc.) im Umfange vom großen C bis zum dreigestrichenen f und auf einem Pedal (Tastatur für die Füße), dessen Töne in Noten vom großen C bis zum kleinen f[2] zu bezeichnen sind. Diese Manuale kann man in mehrfacher Weise koppeln (d. i. durch einen Registerzug derart verbinden, daß durch Spielen auf einer Claviatur auch die nicht gespielten Alles mit vortragen): 1) durch drei „Wippen“-Koppeln kann jedes der Manuale mit dem Hauptwerke verbunden und von hier aus mit gespielt werden; 2) durch eine Gesammtkoppel kann vom untersten, dem Spieler zunächst gelegenen Manual aus gleichfalls das volle Werk gebraucht werden, und zwar vermittelst einer „pneumatischen“ (auf Winddruck beruhenden) Maschine, mit einer Leichtigkeit, als wenn man einen Concertflügel spielte. Sind alle Register im Gange, so können 3, durch 10 über dem Pedale angebrachte Metalltritte, die nur mit der Fußspitze leicht berührt zu werden brauchen, um ihre Wirkung zu thun, ganze Gruppen klingender Stimmen zum Schweigen gebracht, und so ein schnelles Verschwinden und Wiederanwachsen des Tons bewirkt werden. Es kann dies während des Spielens geschehen; auch bleiben sämmtliche Registerzüge dabei unberührt. – Es ist dies eine Einrichtung der höchsten mechanischen Vollkommenheit, wie denn überhaupt dieselbe sich über das ganze Werk, über alle Theile des Mechanismus erstreckt. – Auf die vier Manuale der Orgel sind die Stimmen dergestalt vertheilt, daß zum Hauptwerke 21, zum Oberwerke 10, zum Brustwerke 13, und zum Echowerke 13 gehören. Das Pedal hat 19 klingende Stimmen und 2 Koppeln, im Hauptwerk und Oberwerk. Mit Einschluß der 15 Nebenzüge hat das Werk im Ganzen 100 Registerzüge.

Die Disposition ausführlich mitzutheilen dürfte hier zu weit führen; es genüge die Bemerkung, daß der Baumeister auch in dieser Beziehung etwas durchaus Mustergültiges geliefert hat. Bei dem Reichthum derselben umfaßt sie Alles, was die alte und neue Orgelbaukunst aufzuweisen hat: von der klagenden vox humana bis zur donnernden Weltgerichtsposaune; von der winzigsten Mixturpfeife, gegen die ein Maikäfer ein wahrer Koloß ist, bis zu ihrem drei Centner schweren Urgroßvater, der seinen reichen Familiensegen nach Tausenden zählt. Hier fehlt kein Glied der großen Familie. Ihren Hauptgruppen nach zerfällt die Disposition in 15 Prinzipalstimmen, 28 Flötenregister, 11 Gambenstimmen, 9 Mixturen, 8 Quinten, 4 Terzen, eine kleine Septime, 5 aufschlagende und 5 durchschlagende Rohrwerke, mit einer Gesammtzahl von 5367 Pfeifen[3] – diese letzteren stehen auf 23 Windladen, für die 12 große Cylinderbälge den erforderlichen Wind geben. Außerdem hat die Orgel noch 5 Ausgleichungsbälge.

Auch für die oben erwähnte pneumansche Maschine ist das System der Cylinderbälge nach einer von Ladegast neu erfundenen Methode hier zum ersten Male in Anwendung gebracht worden, sowie denn überhaupt mancherlei sinnige Einrichtungen und Erfindungen des Meisters in dem Werke enthalten sind, deren genaue Beschreibung mehr die Sache der Fachblätter sein dürfte.

Der Charakter der Ladegast’schen Intonation wurde oben bereits im Allgemeinen bezeichnet. Es mag hier noch etwas Specielles über die Nicolai-0rgel zu Leipzig folgen. Eine jede Stimme, einzeln gehört, zeugt davon, daß ihr Meister vorzüglich zu charakterisiren versteht, daß er jedoch diese Seite seiner Kunst nur so weit verfolgt, als es sich mit dem höchsten Wohllaut, dem Geschmack eines feingebildeten Tonsinns vereinbaren läßt. Die Grenze des wahrhaft Schönen wird nie überschritten. Deshalb findet sich hier nichts Manierirtes, wie es bei so vielen modernen Orgeln – auf die ich später zurückkomme – der Fall ist. Die alte Starrheit und Herrschsucht des Tones nähert sich vielmehr dem orchestralen Charakter, dem von Menschenhauch beseelten Chor von Bläsern[4]. Man höre z. B. die durchschlagenden Rohrstimmen Oboe und Fagott, im Verein mit den milden Flötenklängen, und man wird zugeben müssen, daß solche Klänge ganz geeignet sind, uns in eine liebe, weihnachtsfrohe Stimmung zu versetzen. Andererseits spricht sich in Verbindung der „Flöten“ mit den dumpferen Farbentönen, dem ängstlichen Beben, dessen die Orgel fähig ist, eine rührende, eindringliche Klage aus, wie sie einer Charfreitagsstimmung den vollen Ausdruck giebt.

Ich habe das Wort „Stimmung“ gebraucht. Die Bedeutung desselben für die Sprache der Töne will ich hier nicht erörtern, jeder gebildete Kunstfreund kennt sie. Bei den größern Werken Ladegast’s, und besonders bei dem in Rede stehenden, ist die Möglichkeit gegeben, den mannigfachsten religiösen Stimmungen den präzisesten Ausdruck zu geben. Soviel über dieses Werk, das am 16. November 1862 zum ersten Male im Dienst des Allerhöchsten gespielt wurde. Eine besondere musikalische Festlichkeit, zu welcher dies vollendete Kunstwerk nicht weniger geeignet ist, als die Merseburger Orgel, hat in der Musenstadt Leipzig an demselben Tage nicht stattgefunden.[5]

Es wurde Eingangs darauf hingewiesen, welche Umstände zur Zeit Silbermann’s auf die schnelle Verbreitung seines Ruhmes günstig einwirkten. Bei Ladegast waren es andere Verhältnisse, die ihm nicht minder schnell die allgemeinste Anerkennung erwarben. Eine so grenzenlose Pfuscherei, wie sie vor hundert Jahren und neben Silbermann bestand, existirt heute Gott Lob nicht mehr. Damals besaß die protestantische Kirche neben der Orgel aber noch einen anderen Schmuck, der ihr heute abhanden gekommen ist: die Kirchenmusik. Alle mittleren Städte hatten früher ihre kirchlichen Gesangchöre, und wenn diese auch nicht immer Muster von Kunstinstituten waren, so gab es doch deren ganz vortreflliche. Die Schätze protestantischer Kirchenmusik jener Zeit erregen noch heute unsere aufrichtige Bewunderung. Unsere heutige Kirche ist in dieser Beziehung am Bettelstabe. Der Strom einer nüchternen, prosaischen Periode hat die herrliche Gesangkunst aus der Stätte ihres Ursprunges, der Kirche, hinausgeschwemmt. Jetzt fühlt man diese Lücke. Die große Einfachheit der heutigen Form des protestantischen Gottesdienstes strebt nach einem Ersatz, und dieses Streben äußert sich erkennbar in dem Aufschwunge der Orgelbaukunst innerhalb dieser Kirche. So große und vollkommene Werke, als in den letzten Decennien entstanden, gab es früher überhaupt nicht. Es ist, als ob die Orgel den abhanden gekommenen Schmuck der Kirchenmusik ersetzen, resp. übertragen solle.

In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts nahm der Orgelbau einen eigenthümlichen Charakter an. Man forcirte damals den Ton und entwickelte oft mit wenigen Stimmen eine große Kraft. Das gefiel den Leuten eine Zeit lang und wurde sogar Mode. Doch wie alles Unschöne sich schnell überlebt, so geschah es auch hier. Die Rohheit des Tones konnte sich nicht lange behaupten; man nannte solche Instrumente mit Recht „Brüllorgeln“.

Wie wir bereits sahen, schlug Ladegast den entgegengesetzten Weg ein. Seine gehobene Künstlernatur appellirte an den besseren Geschmack unserer Tage. Er belebte seine Werke durch wahrhaft herzerhebende Klänge. An die Stelle der rohen Kraft trat die ideale Seite des Tons und zündete – zündete tief und nachhaltig. Dieser

  1. Bekanntlich wird die ganze umfangreiche Tonreihe in verschiedene Ortaven getheilt, welche von unten nach oben die Namen: große Contra-, Contra-, große, kleine, eingestrichene, zwei-, drei- und viergestrichene Octave führen.
  2. Die Merseburger Domorgel hat den Tonumfang vom großen C bis zum dreigestrichenen g, außerdem am Rückpositiv noch ein fünftes Manual und selbstständiges Pedal, mithin im Ganzen fünf Manuale und zwei Pedale.
  3. Die Merseburger Domorgel hat deren 5686 und 37 Stahlstäbe, mithin 5723 klingende Körper.
  4. Professor Töpfer in Weimar, den ich für den intelligentesten Orgelkenner halte, war zur Privatbesichtigung dieser Orgel in Leipzig und äußerte über die Intonation: „das ist mir allerdings ganz was Neues.“
  5. Wohl aber einige Wochen später ein von bedeutenden einheimischen und auswärtigen musikalischen Kräften unterstütztes Concert, welches in dem musikübersättigten Leipzig eine so unerhörte Theilnahme fand, daß Hunderte vor den Thüren zurückgewiesen werden mußten.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_094.jpg&oldid=- (Version vom 9.12.2016)