Seite:Die Gartenlaube (1863) 097.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Ein Vertheidiger.
Von J. D. H. Temme.


In dem geräumigen Schwurgerichtssaale befand sich eine zahlreiche Zuschauermenge. Sie gehörte meist den höheren Ständen aus der Stadt und der Nachbarschaft an. Der Fall, der verhandelt werden sollte, hatte in der Gegend eine Berühmtheit erlangt und betraf Personen und Verhältnisse der höheren Stände. Ein adliger Gutsbesitzer der Gegend hatte bei seiner schönen Frau einen jungen Officier betroffen und ihn niedergeschossen. Er hatte dem Paare, gegen das ihm schon seit einiger Zeit Verdacht erweckt war, aufgelauert; er war daher der vorbedachten Tödtung, des Mordes, angeklagt, und seine Strafe war, wenn die Geschworenen ihn schuldig erklärten, die Strafe der Hinrichtung durch das Beil.

Ob die Geschworenen ihn schuldig erklären würden, das war die allgemeine Frage, die den Zuschauerraum des Gerichtssaales mit allen den erwartungsvollen Menschen gefüllt hatte. Auch ich hatte mich hinbegeben. Nicht der Schreiber dieser Zeilen. Dieser hat seit zehn Jahren sein deutsches Vaterland nicht wiedergesehen, und die Geschichte, die er hier niederschreibt, ist erst vor wenigen Jahren in Deutschland passirt. Aber ein Freund aus der Heimath besuchte ihn im vorigen Sommer und erzählte ihm, was hier niedergeschrieben werden soll, und der Schreiber führt den Freund erzählend ein.

Ich war fremd in der Stadt, auf der Durchreise nach der etwa sechs Meilen entfernten Hafenstadt. Einen Abend vorher hatte ich im Gasthofe nur von dem morgenden Criminalfalle sprechen hören; ich war kein großer Freund der Schwurgerichte und theilte um so mehr die allgemeine Spannung. Ich mußte der Verhandlung der Sache beiwohnen. In der Hafenstadt kam ich auch am zweiten Tage noch früh genug an.

„Ist die Sache so klar, wie ich von allen Seiten höre,“ hatte ich gefragt, „wie kann man dann zweifelhaft sein, ob die Geschworenen verurtheilen werden?“

„O, mein Herr,“ war mir geantwortet worden, „der Angeklagte wird von dem berühmtesten Advocaten der Residenz vertheidigt.“

„Können denn die berühmten Advocaten Ihrer Residenz den hellen Tag zur Nacht, oder schwarz zu weiß machen?“

„Hm, mein Herr, der Zufall hat eigenthümlich bei der Auswahl der Geschworenen gewirkt.“

„Entschuldigen Sie, an einen Zufall bei der Auswahl der Geschworenen glaube ich nicht recht.“

„Mein Herr, die Geschworenen sind ausgeloost!“

„Ah –! Aber wie ist die Stimmung der Beamtenwelt gegen den Angeklagten? der Regierungs- und Gerichtspräsidenten, die doch auch bei jener Ausloosung gewirkt haben?“

Man zögerte mit der Antwort.

„Der Ermordete,“ sagte endlich Einer, „war Officier und gehörte den ersten adligen Familien des Landes an.“

„Und der Angeklagte?“

„Er ist fremd hier. Er hat sich erst vor anderthalb oder zwei Jahren in der Gegend angekauft und niedergelassen.“

„Aber, mein Herr,“ nahm ein Anderer etwas eifrig das Wort, „Sie werden nicht glauben, daß diese Umstände auf die Verhandlung und Entscheidung der Sache irgend welchen Einfluß ausüben können!“

„Ich bin entfernt davon, meine Herren. Indeß die Geschworenen?“

„Sind meist Personen aus den mittleren Ständen: reiche Bauern, wohlhabende Handwerker, kleine Kaufleute.“

„Und,“ fiel der Eifrige ein, „kein einziger pensionirter Officier ist dabei, und nur drei Adelige auf sechsunddreißig Geschworene; Sie müssen zugeben –“

„Daß da der Zufall allerdings auffallend unparteiisch gewirkt hat!“

„So meine ich.“

Es war indeß in der Gasthofsgesellschaft Einer, der nicht eifrig war und der Meinung des Eifrigen nicht zu sein schien.

„Solche Leute aus den mittleren Ständen,“ meinte er, „pflegen zuweilen verzweifelt mittelmäßig an Kopf und Charakter zu sein und eines Führers zu bedürfen, dem sie dann um so unbedingter folgen, je fremder ihnen das Gebiet ist, das sie betreten sollen.“

„Um so mehr,“ warf der Eifrige ein, „würden sie dem berühmten Advocaten aus der Residenz folgen.“

„Ich meine, um so weniger. Von dem berühmten Advocaten aus der Residenz wissen sie eben nichts, als daß er ein berühmter Advocat ist, und die Berühmtheit eines Advocaten bringt die Menge nur zu leicht in Verbindung mit Pfiffen und Kniffen, mit Schlichen und Rechtsverdrehungen; da ist man auf der Hut und sieht sich um so angelegentlicher nach einem anderen, als bewährt bekannten Führer um, und das ist der Präsident des Schwurgerichts, den eben Jedermann kennt.“

„Und wer ist der Präsident des Schwurgerichts?“ fragte ich.

„Ein braver Mann und ein tüchtiger Jurist, der in allgemeiner Achtung steht.“

So meinte ich!“ sagte in einem etwas eigenthümlichen Ton der, der dem Eifrigen opponirt hatte. Und von einer Opposition konnte in dem öffentlichen Gasthofe der Provinzstadt nicht weiter die Rede sein.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_097.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)