Seite:Die Gartenlaube (1863) 107.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)


dem Ressort der weltlichen Obrigkeit gehören. Der alte Hegediener, welcher zugleich Gastwirthschaft betrieb, war froh, wenn sein amtlicher Beruf ihn nicht in Anspruch nahm und er seine Zeit zur Bedienung oder Unterhaltung seiner Gäste verwenden konnte. Und der Vogt, welcher die Siebenzig längst überschritten hatte, ward selten anderswo gesehen, als innerhalb der Grenzen der Vogtei, eines alten baufälligen städtischen Amtsgebäudes mit der Jahreszahl 1605, welches dem jeweiligen Vogt als Wohnung dient und außerdem die nöthigen Localitäten für die „Rostocker Herren“, im Fall sie dort ihre obrigkeitlichen Amtspflichten ausüben, und einige Logirzimmer für Badegäste enthält. Wenn der alte Herr mit seiner hohen, breiten und mächtigen Gestalt, mit dem schwarzen Sammetkäppel auf dem ehrwürdigen weißlockigen Haupte und mit seiner ständigen Begleiterin, der Pfeife mit meerschaumenem Kopfe, nach seiner Gewohnheit vor der breiten Fronte der Vogtei auf und nieder wandelte und so ehrfurchtgebietend und gutmüthig zugleich dareinschaute, dann freute sich Alt und Jung. Die Gäste aus Rostock kamen selten nach Warnemünde, ohne den alten Vogt gesprochen oder begrüßt zu haben. Als der alte Herr sich in’s Privatleben und damit in eine Privatwohnung zurückgezogen hatte, da vermißten Viele den ehrwürdigen alten Herrn, und die Vogtei lag ohne ihn recht verlassen da. Und als er vor ein paar Jahren entschlief, da trauerten Alle, die ihn kannten.

Mich knüpfte noch eine besondere Vorliebe an den alten Herrn. Er war mit meinem alten Vater, der mit ihm in ziemlich gleichem Alter stand, lange befreundet. Mein Vater unterließ nie, ihn bei seiner Anwesenheit in Warnemünde zu besuchen. Ich vergesse den Eindruck nicht, welchen es immer auf mich machte, wenn die beiden alten Herren sich ehrfurchtsvoll begrüßten, der Vogt, indem er sein schwarzes Käppchen abzog, und mein Vater, indem er seinen Hut abnahm, und mit entblößten weißen Häuptern einander gegenüberstanden, und sich dann treuherzig die Hände schüttelten und einander fragten, in welchem Jahre und an welchem Tage doch der Andere geboren sei, und dann die Differenz berechnet wurde, und wenn sie dann wieder in derselben Weise sich trennten und mit dem stillen ernsten Bewußtsein, daß sie sich wohl zum letzten Male gesehen hätten, auf Wiedersehen wünschten. Die wohlwollenden Gesinnungen, welche den alten Vogt beseelten, zeigten sich auch darin, daß er sich ungern entschloß, seine polizeilichen Functionen auszuüben, und, wenn irgend möglich, Alles in Güte abzumachen suchte. Die folgende wahre Anekdote legt davon Zeugniß ab und charakterisirt zugleich die patriarchalischen Zustände, in welchen sich damals der Ort noch befand.

Ein Gensd’arm überlieferte ihm eines Abends einen auf benachbartem Gebiete eingefangenen Spitzbuben, um denselben bis zum anderen Morgen, wo er weiter befördert und an die zuständige Obrigkeit abgeliefert werden sollte, in Haft zu behalten. Der Vogt gerieth darüber in große Verlegenheit, denn ein Gefängniß existirte am Orte nicht, und noch niemals hatte er einen Gefangenen zu bewachen gehabt. Seine angeborene Gutmüthigkeit sträubte sich auch gegen die Function eines Kerkermeisters. Er versuchte, mit dem Gensd’armen zu capituliren und ihn zu bestimmen, seinen Gefangenen noch bis zur nächsten Station zu bringen. Aber der Gensd’arm wollte nicht darauf eingehen: es sei schon spät, und alle Verantwortlichkeit fiele auf den Vogt, wenn dieser die Aufnahme des Gefangenen verweigerte. Was sollte der unglückliche Vogt machen? Gensd’arm und Arrestant wurden erst mit einem guten Abendessen regalirt und dann der Letztere in das Backhaus eingelassen. Ein hölzerner Riegel ward vor die Thüre desselben geschoben, und zu mehrerer Sicherheit wurden verschiedene Scheite Holz gegen die Thüre gestellt. Als aber am andern Morgen der Gensd’arm seinen Arrestanten abholen wollte, fand er den Riegel zerbrochen und die Thüre halb geöffnet. Der Vogel war davongeflogen, und Niemand hatte sich darüber im Stillen wohl herzlicher gefreut, als der Vogt.

Der gänzliche Mangel an polizeilicher Ueberwachung erhöhte natürlich die Annehmlichkeiten des Badelebens in Warnemünde. Höchstens murrte wohl ein Berliner Badegast, wenn er zu seiner großen Verwunderung seinen an den Vogt geschickten Paß sofort mit dem Compliment zurückerhielt, daß solche Berliner Sitten in Warnemünde nicht existirten. Vermißt ward die Polizei in keiner Weise. Denn Diebstähle kannte man dort nur dem Namen nach. Dieser Respect vor fremdem Eigenthum wirft ein um so helleres Licht auf die Reinheit der Warnemünder Sitten, als die Gelegenheit zum Stehlen nirgends besser sein kann, als gerade dort. Den Zugang zu den Passagen nach den Höfen (Tüschen), von wo man in das Vorder- und Hintergebäude gelangen kann, bildet eine nur mit einem hölzernen Riegel versehene Thür. Als höchste Vorsicht gilt, daß, wenn Niemand im Hause zurückbleibt, der Schlüssel zur Hausthüre hinter dem äußeren Fensterladen versteckt wird. Der ausgeprägte Eigenthumssinn der Warnemünder würde einen Proudhon zur Verzweiflung bringen. Im Uebrigen könnte er dort sein Problem der Anarchie verwirklicht finden. Ist es nöthig, daß Recht und Gerechtigkeit geschützt werden, so geschieht dies im Wege der Selbsthülfe und Association, wie nachfolgender Vorfall zeigt.

Ein englisches Schiff, dessen Capitain den Hafen, ohne die Lootsengelder zu zahlen, verlassen wollte, ward mitten in der Fahrt von mehreren mit jungen Warnemünder Seeleuten bemannten Böten attaquirt. Die kräftigen Jungens kletterten, wie die Eichkätzchen, im Nu die steilen Schiffswände hinauf, sprangen auf’s Deck, kriegten Capitain und Mannschaft beim Kragen, und hatten innerhalb weniger Augenblicke die Zahlung der Schuld beigetrieben. Keine Obrigkeit hätte so prompte Justiz üben können.

(Fortsetzung folgt.)



Ein Genie im Wohlthun.


Wenn ein Nicht-Hannoveraner auf der letzten Station der Eisenbahnen von Berlin-Branuschweig, Köln-Minden oder Göttingen-Kassel her der Residenz an der Leine so nahe gekommen, daß er die Hauptthürme derselben, den Marktkirchenthurm und den Aegidienkirchenthurm erblickt, und nun seinen Nachbar im Coupé fragt: „Um Entschuldigung, was ist denn wohl das Merkwürdigste in Hannover, so das Sehenswertheste, wie man zu sagen pflegt, für einen Fremden?“ – so wird der Gefragte, wenn er ein echter stadthannoverscher Philister ist, antworten: „Die Waterloosäule!“ – und wenn dieser Philister noch nebenher ein Goldschmied ist, so wird er antworten: „Die Silberkammer auf dem Schlosse!“ – und wenn ein Pferdehändler: „der Königliche Marstall!“ – und wenn er kein Philister, sondern ein Gelehrter ist, so wird er antworten: „Leibnitzens Manuscripte auf der Königlichen Archivbibliothek!“ – wenn ich, Schreiber dieses, aber der gefragte Philister wäre, so würde ich unbedingt antworten: „Das Merkwürdigste in Hannover ist der Pastor Bödeker!“ – „Wie? Ein Pastor – und das Merkwürdigste – in dieser Residenzstadt von 60000 Einwohnern?“ – wird dann der Fremde erwidern. – „Ja,“ antwortete ich, „er ist das Merkwürdigste in Hannover und zwar aus dem einfachen Grunde, weil er – ein Genie ist, und zwar – ein Genie im Wohlthun.“ –

Paster Bödeker’s Weltanschauung, aus welcher sein ganzes Wirken hervorgeht, ist die: daß die Hauptaufgabe jedes Menschen, neben der fortwährenden Arbeit zur Läuterung und Besserung der eigenen Seele durch die allseitig geöffneten Erkenntnißquellen, darin bestehe, so viel als nur irgend möglich die innere und äußere Glückseligkeit anderer Menschen zu befördern. Darum hat Bödeker den größten Theil seiner Thätigkeit dahin gerichtet, das Elend der unteren und mittleren Classen zu mindern, im Großen, wie im Einzelnen, wo er solches nur aufzufinden vermag. Um aber dies aufzufinden, ist nöthig, daß man darnach suche. Und wie hat er darnach gesucht seit nunmehr einem halben Säculum, und wie sucht er noch täglich mit unverminderter Ausdauer darnach? Für diesen großen selbsterwählten Zweck hat er sein ganzes bisheriges Leben in Tagesmühen, Nachtwachen, Geldopfern von Tausenden, ja in der Entbehrung von eigenem häuslichen und Familienglück obendrein, zum Opfer gebracht, er hat für dieses Ziel nichts gescheut und durch nichts sich davon abschrecken lassen. Um so erfreulicher ist es daher, daß der gesunde Sinn des Volkes, das Vorhandensein einer vernünftigen und damit gerechten Majorität in der Menschheit unserer deutschen Gegenwart, welches sich Gottlob auch in den andern großen politischen und socialen Fragen der Epoche unzweifelhaft kundgiebt – sich auch in diesem Einzelfalle hier bei uns Hannoveranern (die wir sonst eben nicht die Vorkämpfer der deutschen Erkenntniß sind) bewiesen hat; der Pastor Bödeker ist längst allgemein anerkannt als ein wahrer Volksmann im edelsten Sinne des Wortes, als Einer der Ersten und Besten seiner Kategorie im ganzen Lande Hannover.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_107.jpg&oldid=- (Version vom 23.6.2022)