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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Ein Vertheidiger.
Von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)


Der Angeklagte wollte dem Gerichtsdiener folgen, aber er wurde noch einen Augenblick aufgehalten. Hinten im Zuhörerraume, unmittelbar neben der Thür war ein Geräusch entstanden. Der Angeklagte warf schnell den Blick dahin. Sein vor Zorn und Stolz glühendes Gesicht erbleichte plötzlich wieder. Ein Ausruf wollte über seine Lippen gleiten. Er hielt ihn zurück, aber seine unruhigen Augen suchten die Menge zu durchbohren, die sich an der Thür angesammelt hatte. Er mußte dem Gerichtsdiener aus dem Saale folgen. Ein Gensd’arm folgte ihm. Er warf noch im Gehen einen schnellen Blick nach der Thür des Zuschauerraums hin; eine peinliche Unruhe spiegelte sich in seinen Augen. So verließ er den Saal. An der Thür mußte das blasse Mädchen noch stehen. Ich weiß nicht, ob Viele im Saale seinen Blicken und Bewegungen gefolgt waren, verstanden waren sie wohl nur von Zweien, dem Vertheidiger und mir.

In den Zügen des Vertheidigers zeigte sich wieder Angst. Er suchte sie zu verbergen und die Aufmerksamkeit des Saales auf etwas Anderes zu lenken.

„Herr Präsident,“ sprach er mit erhöhter Stimme, die von Allen gehört sein wollte, „ich muß feierlich gegen die Hinausführung des Angeklagten aus dem Saale protestiren. Sie hatten sie ihm allerdings mit Recht für den ausgesprochenen Fall angedroht. Aber der Fall ist nicht eingetreten; Sie mußten ihn abwarten; Sie durften vorher Ihre Drohung nicht ausführen.“

Aber ich mußte wissen, was an der Thür geschehen war. Daß der Präsident, von dem fremden Advocaten schon einmal compromittirt und, wie es mir mehr und mehr schien, absichtlich gereizt, nicht nachgeben werde, auch wenn er sich im Unrechte befand, war mir klar; da war der Streit mir gleichgültig. Ich hatte meinen Platz im Zuschauerraume zwar ziemlich nahe vorn, aber auf der Seite. Die Eingangsthür des Saales war hinten in der Mitte der Wand. In dem Augenblicke, als jenes Geräusch entstanden war, hatte ich nur ein Zusammeneilen der Menschen an der Thür sehen können. Die Leute standen noch so beisammen; ich drängte mich hin. Um irgend einen Gegenstand hatte sich ein dichter Kreis gebildet. Nach dem Kerne hin waren es nur Frauen, welche still mit etwas beschäftigt waren.

„Was giebt es da?“ fragte ich.

„Ein junges Mädchen ist ohnmächtig geworden,“ war die Antwort.

Ich konnte nur an das blasse Kind denken. „Wer ist sie?“ fragte ich.

„Man kennt sie nicht,“ antwortete mir eine Frau.

Ein Mädchen aus den unteren Ständen trat herzu. Sie hatte meine Frage gehört.

„Die Tochter des Gefangenwärters,“ sagte sie.

Die Tochter des Gefangenwärters! Ich rief es nicht, aber in meinem Innern hatte ich keinen andern Gedanken mehr, als an die Tochter des Gefangenwärters und an den angeklagten Freiherrn, der drei Monate Gefangener gewesen war, und wie das Kind so schüchtern vorhin in den Saal hereingeschlichen war, und wie sie so ängstlich nach dem Angeklagten hingesehen und wie bei ihrem Erscheinen den Vertheidiger eine so stechende Angst gefaßt, und wie aus dem Gesichte des stolzen Freiherrn bei ihrem Anblicke auf einmal aller Stolz entflohen und er mit so inniger Wehmuth nach ihr geblickt, wie zuletzt auf einmal die peinliche Unruhe ihn ergriffen hatte.

„Was war die Veranlassung ihrer Ohnmacht?“ fragte ich die Frauen.

„Es kam auf einmal. Gerade, als der Angeklagte sprach. Die große Hitze im Saale mußte es thun. Und die Stärkste ist sie auch nicht; man sieht es ihr an.“

Der Kreis der Frauen öffnete sich. Man hatte der Ohnmächtigen, damit der Athem ihr zurückkehre, das Mieder geöffnet. So hatte man sie nicht den Blicken der Männer zeigen können. Darum war sie nicht sogleich aus dem heißen Saale gebracht worden. Jetzt war ihre Brust mit einem Shawl zugedeckt. Zwei Frauen trugen sie hinaus; sie war noch ohnmächtig. Aber das feine, schneeweiße Gesicht war auch in dem Schlafe, der dem Tode glich, schön wie ein Engelsgesicht, und der Schmerz, den man um die geschlossenen Lippen zucken zu sehen glaubte, verlieh ihm einen wunderbar wehmüthigen Reiz. Und sie war ohnmächtig geworden, gerade da der Angeklagte von seiner Ehre und von der Treue und Liebe seiner edlen Frau gesprochen hatte; gerade da war die Hitze des Saales an sie herangetreten! Und der Vertheidiger hatte nicht gewagt, sein erschrockenes Auge zu ihr zu wenden!

Ich mußte dem Zeugnisse des alten Kammerdieners Bartholomäus folgen und kehrte auf meinen Platz zurück. Der alte Mann hatte sich wieder erhoben. Er stand neben dem Stuhle, auf dem er sich hatte niederlassen müssen. Aber er stand gebeugt. Sein Blick war noch scheu; so sah er nach dem leeren Platze, den sein Herr auf der Anklagebank eingenommen hatte. Die Entfernung des Angeklagten schien ihn noch mehr zu drücken, als vorhin dessen Anwesenheit.

„Sie wollten erzählen,“ sagte der Präsident zu ihm, „wie der Graf Hochhausen seinen Freund betrogen habe!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_129.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)