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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)


Theil aus den Zuschüssen der Gesellschaft gebildet ist. Dies nennen wir Socialismus der rechten Art. – Die Maschinenwerkstätte, schon jetzt in schönster Blüthe, scheint einer noch bedeutendern Zukunft entgegen zu gehen. Schon dehnt sie ihre Wirksamkeit über die Bedürfnisse der Centralbahn aus; sie construirt schon jetzt für andere Bahngesellschaften eiserne Brücken und lieferte kürzlich unter anderm für die Eidgenossenschaft 36 eiserne Lafetten nach der eigenen Erfindung des Directors Riggenbach, deren Modell an der Londoner Weltausstellung die Aufmerksamkeit und den Beifall der Sachkenner aus sich zog.

Der Eisenbahntourist, der von Basel herkommend nicht ohne einigen leisen Schauder den langen Tunnel passirt hat, wird über der prachtvollen Fernsicht auf das Aarthal und die Alpen, die sich unversehens wie durch Zauber vor ihm öffnet, die langen Reihen von Gebäuden mit den rothen Ziegel- und grauen Schieferdächern, die zu seinen Füßen liegen, kaum beachten. Aber kommt er vielleicht mit einem Abendzug daher und sieht die hundert Gasflammen tief unter sich und fragt, was das wohl sei, so wird er die Antwort erhalten: „Das ist der Bahnhof von Olten mit der Maschinenwerkstätte.“ Die freundlichen neuen Häuser ringsherum und das neue Kirchlein in der Nähe, das Alles ist Neu-Ultinum, der Eisenbahnknotenpunkt.

A. H.


Gottfried Kinkel’s Befreiung.
Von Moritz Wiggers.


Alle Vorbereitungsmaßregeln zur Flucht waren getroffen. Der noch fehlende Nachschlüssel zu der Stube für die Inspectoren der Anstalt, der sogenanten Revierstube, in welcher die Schlüssel zu der Zelle Kinkel’s sich befanden, war glücklich herbeigeschafft. Man hatte von dem Schlüssel zu jener Sube, der am Tage im Schlosse steckte, einen Abdruck in Thon gemacht und danach einen Schlüssel anfertigen lassen. Ein zweiter Gefangenwärter, nach der Anklageacte des Oberstaatsanwalts der Aufseher Beyer, war gewonnen und hatte sich bereit erklärt, Kinkel durch das Thor der Anstalt herauszulassen, sobald er den Nachtpförtnerdienst hätte. Die Stunde der Entscheidung nahte.

In der Nacht vom 5. auf den 6. November 1850 sollte Beyer die Nachtwache am Thore haben. Kinkel ward benachrichtigt, daß er sich am Abende zwischen 8 und 9 Uhr bereit halten möge. Beyer hatte wirklich den Nachtpförtnerdienst an jenem Abend, Brune die Nachtwache im Corridor. Die Freunde waren den empfangenen Ordres gemäß auf ihren Posten. Carl Schurz war am Thore der Anstalt zum Empfange Kinkel’s bereit. Der Gutsbesitzer X. hielt mit seinem Wagen in der Nähe des Zuchthauses. Relais waren in Entfernungen von einigen Meilen bis nach Teterow in Mecklenburg-Schwerin aufgestellt. Die auf den verschiedenen Stationen wartenden Freunde hatten die Ordre, so lange zu warten, bis der Wagen mit den Flüchtlingen ankäme, um sie dann bei sich aufzunehmen und in Carrière bis zum nächsten Posten weiter zu befördern. Um Mißverständnisse zu vermeiden, waren bestimmte Erkennungszeichen, welche im Dunkel der Nacht mit Feuerstein und Stahl gegeben werden sollten, verabredet. Alles war so wohl vorbereitet, daß man den glücklichen Erfolg nicht bezweifelte.

Aber vergebens wartete Kinkel auf seine Erlösung.

„O, es war eine furchtbare Nacht, die ich erlebte,“ äußerte er zu mir, bei Erzählung seiner Flucht, „ich schaudere, wenn ich an sie zurückdenke, die Erinnerung daran wird mich noch auf meinem Todbette verfolgen. Als meine Zelle am Abend 7 Uhr vorschriftsmäßig visitirt und verschlossen war, erhob ich mich wieder von meinem Lager und zog mich an. Um mich herrschte tiefe Dunkelheit; bei der Visitation war mir wie gewöhnlich die Lampe weggenommen worden. Von 8 Uhr an horchte ich, mit dem Ohr an die hölzerne Gitterthüre meiner Zelle gelehnt, mit athemloser Spannung auf Alles, was draußen vorging. Der Gehörssinn schärft sich im Isolirgefängnisse, nichts entging meinem Ohr, in dem sich alle Sinne concentrirt zu haben schienen. Jeder Laut, jedes Geräusch, jeder Schritt, jeder Tritt verkündigte mir den Befreier. Ich war so sicher, daß er kommen müßte. Aber die Stunden schwanden bleiern dahin, und unzählig waren die getäuschten Hoffnungen. Ich hatte die Uhr 11 schlagen hören und immer noch lauschte ich an meiner Gitterthür. Mein Blut war in fieberhafter Wallung, mein Kopf glühte, der Angstschweiß perlte von meiner Stirne, meine Adern waren zum Zerspringen angeschwollen und alle meine Nerven bis zur höchsten Höhe angespannt. Ich hörte es noch 12 schlagen. Da durchzuckte mich der Gedanke an Verrath. Ich verlor die Hoffnung, und der Wahnsinn packte mich. „Lebenslänglich begraben!“ schrie ich wiederholt. „Begraben!“ echote ein Chor von teuflischen Dämonen mit höllischem Hohnlachen. Ich brach endlich zusammen und fiel bewußtlos auf die harte Diele meiner Zelle. Als ich am andern Morgen früh erwachte, fühlte ich mich an allen Gliedern wie gerädert und schüttelte vor Frost, mühsam schleppte ich mich auf mein Strohlager.“

Der Zufall hatte sein unglückliches Spiel getrieben. Brune öffnete zur verabredeten Zeit die Revierstube mit dem Nachschlüssel, begab sich nach der dort befindlichen Spinde, in welcher die Schlüssel zu den Zellen aufbewahrt wurden, nahm den auf der Spinde liegenden Schlüssel zu derselben, schloß die Spinde damit auf und suchte die Schlüssel zu der Kinkel’schen Zelle. Aber er suchte vergeblich. Der Polizeiinspector Semmler hatte zufällig gerade an diesem Abend die Schlüssel zu dieser Zelle mit nach Hause genommen.

Brune setzte Beyer und dieser den draußen wartenden Carl Schurz von dem unglücklichen Zufall in Kenntniß. Es ward noch versucht, den Aufseher Michaelis, der in der folgenden Nacht den Pförtnerdienst hatte, zu gewinnen. Jedoch ohne Erfolg. Deshalb beschloß man, die Flucht auf vier Wochen, wo Beyer wieder den Nachtpförtnerdienst haben würde, zu verschieben.

Aber als man am andern Morgen die Chancen näher erwog, kam man zu einem andern Resultat. Ein Aufschub bot allerdings große Vortheile. Kinkel konnte, wenn Beyer wieder die Nachtwache am Thore hatte, ungehindert und ohne Gefahr durch dasselbe hindurch auf die Straße passiren. Die Relais, welche voraussichtlich nach vergeblichem Warten bis Tagesanbruch der empfangenen Instruction gemäß davon gefahren waren, konnten bei einem längeren Aufschub wieder zur Stelle sein. Dagegen hatte eine Verzögerung die große Gefahr, daß von dem Plane etwas ruchbar werden würde. Bei der Menge von Personen, welche in das Geheimniß gezogen wurden, konnte innerhalb vier Wochen sehr leicht ein unbestimmtes Gerücht von der beabsichtigten Flucht aufkommen. Ein solches war begreiflich schon sehr gefährlich. In diesem Falle würde man die Sicherheitsmaßregeln verstärkt oder die Versetzung Kinkel’s nach einem anderen Zuchthause vorgenommen haben. Es konnte auch der schlimmste Fall eintreten, daß das Vorhaben verrathen werden würde. Wollte man aber auch dies Alles nicht als wahrscheinlich annehmen, wer bürgte dafür, daß um vier Wochen nicht wiederum derselbe oder ein anderer unglücklicher Zufall eintreten würde? Man beschloß daher, die Flucht sobald irgend möglich zu bewerkstelligen.

Am Mittage hatte Carl Schurz eine Zusammenkunft mit Brune.

„Können Sie ohne weitere Mithülfe Kinkel aus dem Zuchthause befördern?“ fragte er Brune.

„Ja, wenn Kinkel Muth hat!“

„Wie?“

„Durch’s Dachfenster und von da mittelst eines Taues auf die Potsdamerstraße.“

„Wann?“

„Wenn’s sein muß, diese Nacht.“

„Sind Sie bereit dazu?“

„Ja.“

„Nun wohl, diese Nacht.“

Die weiteren Arrangements wurden getroffen. Kinkel hatte Muth. Jeder Weg, der aus der Schreckensanstalt führte, war ihm recht. Zwischen 11 und 12 Uhr sollte das Werk beginnen.

Am Mittwoch, den 6. November 1850, Abends, wurde Kinkel,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_134.jpg&oldid=- (Version vom 4.6.2023)