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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Brockelmann so plötzlich und unerwartet Weizen nach England verladete, da bei den damaligen ungünstigen Conjuncturen ein solches Geschäft voraussichtlich großen Schaden im Gefolge hatte. Außerdem fiel es auf, daß die Fuhrleute, angespornt durch kleine Belohnungen, mit ihren rasselnden und zwerchfellerschütternden Strandwagen in so großer Eile von und zu den Kornspeichern durch die Straßen jagten, um die „Anna“ zu beladen. Der Schiffer der „Anna“, Capitain Niemann, welcher bereits in seinem Wohnorte auf dem Fischlande die Winterquartiere bezogen hatte, ohne zu ahnen, daß ihm sobald eine neue Seereise bevorstände, ward plötzlich durch einen Brief Ernst Brockelmann’s der Nähe und Gemüthlichkeit des Familienlebens entrissen. So große Eile war ihm gemacht, daß er kaum die Zeit erübrigte, um die nöthigen Vorbereitungen für die beschwerliche Seereise während der rauhen Jahreszeit zu treffen.

Alle jene Thatsachen konnten freilich ihre sehr natürliche Erklärung in einer in den Nimbus des Geheimnisses gehüllten kaufmännischen Speculation finden. Aber es war doch auch die Besorgniß begründet, daß das Publicum den richtigen Grund errathen werde. Die Kinkel’sche Flucht bildete damals das allgemeine Tagesgespräch. Es bedurfte nur der kühnen Conjectur eines Bierhauspolitikers, um das Gerücht, daß Kinkel in Rostock sei, hervorzurufen. Ein solches bloßes Gerücht genügte, um die preußische Polizei, welche ohnehin schon an sich und beim Mißlingen ihrer sonstigen Nachforschungen auf Rostock hatte verfallen können, uns auf den Hals zu hetzen. Dazu kam, daß die Leute im Brockelmann’schen Hause davon zu Andern sprechen konnten, daß zwei mysteriöse Fremde, welche bei Tage das Haus nicht verließen und nur am Abende beim Mondschein in dem an der Warnow liegenden Garten frische Luft schöpften, sich dort aufhielten. Wie leicht konnte Jemand daraus den Verdacht schöpfen, daß einer der beiden Fremden Kinkel sei, und dies um so mehr, als die bekannten edlen Gesinnungen Brockelmann’s dafür bürgten, daß er einem politisch Verfolgten ein Asyl in seinem Hause nicht versagen werde. Da überdies Manche den damaligen Aufenthaltsort der beiden Flüchtlinge kannten, so ist es erklärlich, daß unsere Besorgniß vor Entdeckung mit jedem Tage zunahm.

Unsere Besorgniß steigerte sich zum Alarm, als ich am 14. November aus dem Strelitzschen einen Brief von unbekannter Hand und ohne Namensunterschrift entpfing, welcher die geheimnißvollen Worte enthielt: „Beschleunigen Sie die Versendung der Ihnen anvertrauten Waaren, es ist Gefahr im Verzuge.“ Dieser Brief stammte offenbar von einem Freunde, der um die Flucht wußte.

In Folge dieses Briefes ward beschlossen, die Abreise auf das Aeußerste zu beschleunigen. Während anfänglich dieselbe bis dahin ausgesetzt werden sollte, daß die „Anna“ die volle Weizenladung an Bord hätte, beschlossen wir jetzt, daß die Ladung nur so weit completirt werden solle, als es für die Sicherheit des Schiffes unumgänglich erforderlich war. Die „Anna“ sollte am Freitag noch soviel Ladung als möglich einnehmen und am Sonnabend nach Warnemünde gehen, um am Sonntage, den 17. November, falls der noch immer fortdauernde Nordoststurm sich gelegt habe, die Anker zu lichten.

Am Freitag Abend saß ich in meiner Arbeitsstube am Schreibtisch, als es draußen anklopfte. Ein mir unbekannter Mann von großer Gestalt mit einem langen dunklen Vollbart trat herein, ohne mein „Herein“ zu erwarten. Ich war ihm mit meinem Licht zum Vorzimmer entgegengegangen. Anstatt mich zu begrüßen, schaute er sich allenthalben vorsichtig um, wie wenn er sich versichern wollte, daß wir nicht behorcht würden, und flüsterte mir zu:

„Ich soll Sie grüßen von Ihrem Freunde N.“

Und während er dies sagte, nahm er seinen um den Hals gebundenen großen Shawl ab, breitete denselben auf den Tisch, faltete ihn auseinander, holte einen darin verborgenen Brief hervor und überreichte ihn mir mit den Worten: „Dies zu meiner Legitimation.“

Die geheimnißvolle Weise des Fremden erregte Verdacht in mir. „Vielleicht ein preußischer Polizeispion!“ dachte ich erschrocken.

Der Brief enthielt in wenigen Zeilen eine Empfehlung des Ueberbringers mit dem Zusatz, daß ich demselben ganz vertrauen könne. Aber ich kannte die Handschrift meines Freundes nicht genau. Und wenn sie es auch war, konnte er nicht selbst ein Betrogener sein? Konnte nicht auch der für den wirklichen Freund bestimmte Brief von der Polizei aufgefangen sein und von ihr dazu benutzt werden, mich zu überlisten und über den Aufenthalt Kinkel’s auszuhorchen?

Beim Lesen dieses Briefes fuhren mir alle diese Fragen durch den Sinn. Ich hielt mich verpflichtet, unter allen Umständen mein Geheimniß zu bewahren.

„Empfohlen durch meinen Freund N., sind Sie mir herzlich willkommen,“ sagte ich unbefangen. „Nehmen Sie gefälligst Platz. Womit kann ich Ihnen denn dienen?“

Der Fremde fixirte mich scharf und fragte leise: „Ist Kinkel noch hier?“

Ich fühlte mein Herz und meine Pulse klopfen bei dieser Frage. „Es ist in der That ein Spion,“ sagte ich mir „wenn ein Blick, eine Miene ihm das Geheimniß verräth, dann ist Kinkel verloren.“ Ich nahm alle meine Kraft zusammen und fragte erstaunt:

„Kinkel?“

„Ist er denn nicht hier gewesen?“

„Wie sollte er hierher gekommen sein?“ rief ich verwundert.

„Aber, mein Gott, Ihr Name ist doch in der Versammlung, in welcher der Fluchtplan festgestellt ward, genannt.“

„Sie müssen im Irrthum sein, mindestens weiß ich nichts davon. Darf ich bitten mir zu sagen, in welcher Weise Sie bei der Flucht Kinkel’s betheiligt sind?“

„Ich bin der Gutsbesitzer X. aus Z. und habe Kinkel von Spandau bis Strelitz gefahren. Von Strelitz aus ist der Stadtrichter Petermann mit ihm weiter gefahren, um ihn nach Rostock zu bringen.“

„Dies kann nicht geschehen sein. Denn mein Freund Petermann würde mir jedenfalls davon Mittheilung gemacht haben. Es wäre doch zu arg, wenn man mir als einem der Führer der demokratischen Partei eine solche Begebenheit verschwiegen hätte!“ rief ich anscheinend empört. „Aber was führt Sie jetzt hierher? Ihre Anwesenheit hierselbst kann Verdacht erregen.“

„Die Ungewißheit über das Schicksal Kinkel’s hat mir zu Hause keine Ruhe gelassen. Ich wollte mich darüber hier vergewissern. Man wird mich jedenfalls mit einer Criminaluntersuchung verfolgen. Jeden Tag erwarte ich meine Verhaftung. Ich fürchte dieselbe nicht, wenn ich die tröstende Gewißheit habe, daß Kinkel frei ist. Uebrigens habe ich anderweitige Geschäfte in der Nähe und damit einen guten Vorwand für meine Herreise.“

„Ich werde Alles thun, um Ihren Wunsch zu erfüllen, und deshalb die genauste Erkundigung einzuziehen suchen. Freilich wird dies zu nichts führen, da ich nicht glauben kann, daß Kinkel sich hierher gewendet hat. Aber zu Ihrer Beruhigung will ich auch ohne Aussicht auf Erfolg das Meine thun. Wenn Sie mich morgen früh 10 Uhr wieder beehren wollen, so werde ich Sie von dem Resultat meiner Bemühungen in Kenntniß setzen.“

Der Fremde dankte mir für meinen guten Willen, versprach mich um die bezeichnete Zeit wieder zu besuchen, und verabschiedete sich.

Ich athmete tief auf, als der Fremde fort war. Die Flüchtlinge mußten von seiner Anwesenheit benachrichtigt werden. Ich wollte sofort zu ihnen eilen. Aber ich bedachte, daß der Fremde, wenn er wirklich ein Spion war, mir aufpassen könnte. Deshalb wartete ich noch eine Viertelstunde, setzte mein Licht, welches von draußen gesehen werden konnte, wieder auf den Schreibtisch, um einen etwaigen Beobachter glauben zu machen, daß ich ruhig weiter arbeitete, und ging darauf nicht zu den Flüchtlingen, sondern zu der „Lesehalle“, wo ich einen eingeweihten Freund ersuchte, die Flüchtlinge sofort von dem Besuche des geheimnißvollen Fremden in Kenntniß zu setzen. Ich erhielt die Nachricht zurück, daß die gegebene Beschreibung desselben auf den Gutsbesitzer X. paßte, daß aber, um möglichste Gewißheit zu erreichen, der Kaufmann Schwarz ihn bei mir sehen und dann über das Aeußere desselben einen detaillirten Bericht zurück bringen solle.

Um 10 Uhr am andern Morgen fand sich der Fremde wieder bei mir ein. Ich sagte ihm, daß, wie ich erwartet, meine Nachforschungen fruchtlos gewesen wären, was ihn sichtlich beunruhigte. Bald darauf kam Schwarz, anscheinend in einer Geschäftsangelegenheit, betrachtete sich während des Gesprächs mit mir den Fremden, ohne daß dieser es merkte, und ging darauf wieder fort. Eine längere Unterredung mit dem Fremden erweckte in mir die Ueberzeugung, daß er in der That der Gutsbesitzer X. sei.

Am Nachmittage wollte er zur Besorgung seiner Geschäfte abreisen und am nächsten Montage über Rostock seine Rückreise antreten. Wir verabredeten, daß er dann wieder bei mir vorkomme.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_153.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)