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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

sich auf dem Deck der „Anna“ und des vorgespannten Dampfschiffs, das dicke Rauchsäulen aus seinem Schornstein blies und rasselnd den Dampf aus dem Ventil entsandte.

Der Führer der „Anna“, Capitain Niemann, war ganz bestürzt und erstaunt, als er beim Eintreten in die Cajüte dieselbe von so vielen Herren besetzt fand. Er hatte keine Ahnung davon gehabt, daß er in seiner kleinen Cajüte noch Passagiere beherbergen solle.

„Capitain,“ sagte Ernst Brockelmann zu ihm. „Sie nehmen diese beiden Herren,“ auf Kinkel und Schurz zeigend, „mit nach Newcastle. Bei Helsingoer segeln Sie, ohne anzulegen, vorbei und zahlen den Sundzoll auf der Rückreise. Bei ungünstigem Winde setzen Sie lieber das Schiff an der schwedischen Küste auf Strand, als daß Sie nach einem deutschen Hafen zurückkehren. Paßt Ihnen der Wind nach einem andern Hafenort der englischen oder schottischen Ostküste besser als nach Newcastle, so segeln Sie dorthin. Es kommt nur darauf an, daß Sie möglichst rasch nach England kommen. Ich werde es Ihnen gedenken, wenn Sie meine Ordres pünktlich ausführen.“

Nachdem Brockelmann dem Schiffer diese concise und entschiedene Instruction ertheilt hatte, umarmte er die beiden Flüchtlinge, wünschte ihnen aus der Tiefe seines Herzens eine glückliche Reise und trennte sich von ihnen, um an’s Land zu gehen. Es war eine kurze ergreifende Scene, die uns Allen Thränen in die Augen brachte, wie die Flüchtlinge sich von ihrem Erretter verabschiedeten.

Inzwischen war auch Schwarz an Bord gekommen und zu uns in die Cajüte gestiegen. Das Commando zur Abfahrt wurde gegeben, und der Dampfer setzte sich in Bewegung. So wohl war Alles arrangirt, daß zwischen der Zeit unserer Beilegung am Schiffe und der Abfahrt kaum zehn Minuten verstrichen waren. Der Steuermann der dem Großherzoge gehörigen Vergnügungs-Yacht war von der Ironie des Schicksals dazu ausersehen, auch auf dem Dampfschiffe, welches die „Anna“ mit den Flüchtlingen in die freie See bugsirte, das Steuerruder zu führen.

Als wir die letzten Häuser des Ortes passirt waren, stiegen wir aus der Cajüte auf’s Deck. Die Sonne war aus den Wolken hervorgetreten und erhellte mit ihren glänzenden Strahlen, wie wenn der Himmel selbst seine Freude über das Gelingen des Befreiungswerks bezeigen wollte, das vor uns liegende weite Meer. Auf der Mole, welche links von uns sich tief in die See hinein erstreckt, sahen wir Ernst Brockelmann etwa dreißig Schritte vor uns auf laufen, um noch, ehe wir vorbeipassirten, die äußerste Spitze der Mole zu erreichen. Kinkel und ich standen am vorderen Mast. Carl Schurz stützte sich mit dem Elbogen auf die vordere Schanzkleidung und betrachtete Kinkel von der Seite mit einem Blick, in welchem die Freude über die Errettung des Freundes, die Genugthuung über das Gelingen des Wagestücks und der Triumph über den Sieg wider die Feinde, deren mächtigen Händen er das Schlachtopfer entrissen, sich ausdrückten. Ernst Brockelmann war kaum am Ende der Mole angelangt, als auch schon das Dampfschiff an ihm vorbeidampfte. Darauf machte er Front gegen uns, und in demselben Augenblick, wo die „Anna“ an ihm vorbeipassirte, schwenkte er seine Mütze und warf sie mit lautem, jauchzendem „Hurrah“ wiederholt in die Luft. Die von der Sonne beschienenen grauen Locken wehten um das würdige entblößte Haupt. Wir wurden wie elektrisirt und jubelten laut und grüßten wieder. Kinkel ward überwältigt von dem Moment. Er stürzte sich schluchzend an meine Brust und bebte wie vom Fieberfrost geschüttelt in meinen Armen. Als er sich wieder erholt hatte, sagte er, melancholisch vor sich hinblickend: „Ich weiß nicht, soll ich mich freuen über meine Rettung oder soll ich trauern, daß ich wie ein Verbrecher und Ausgestoßener mein theueres Vaterland fliehen muß?“ –

Der Wind war zu Gunsten der Flüchtlinge ein wenig mehr nach Norden umgegangen. Aber er hatte doch noch einen Strich von Osten, so daß die „Anna“ ohne Hülfe des Dampfers die vorspringende „Nase“ nicht anders umschiffen konnte, als wenn sie verschiedene Male gekreuzt hätte. Da wir nun das kreuzen derselben im Angesicht des Hafens vermeiden wollten, so ließen wir sie durch das den stricte nördlichen Cours steuernde Dampfschiff etwa zwei Meilen in See über die „Nase“ hinaus bugsiren. Die „Anna“ setzte darauf die Segel bei, das Schlepptau des Dampfschiffes ward losgeworfen, wir sagten den Flüchtlingen Lebewohl und stiegen in das Boot des Dampfschiffes, um uns an Bord desselben bringen zu lassen. Die „Anna“ drehte inzwischen beim Winde bei, die flatternden Segel füllten sich, und den östlichen Cours haltend schoß sie vorwärts. Zum letzten Abschiedsgruß feuerten wir unsere Pistolen ab, während die Flüchtlinge ihre Seemannshüte schwenkten.

Als wir eine Stunde später wieder im Warnemünder Hafen anlangten, sahen wir von der „Anna“ nur noch einen kleinen schwarzen Punkt. Ernst Brockelmann erwartete uns mit einem Mittagsessen im Wöhlert’schen Gasthause, an welchem die ganze Gesellschaft, welche die Flüchtlinge begleitet hatte, Theil nahm. Wie fröhlich wir waren, mag der Leser sich ausmalen. Am Abende bei herrlichem Mondschein fuhren wir auf unseren Booten nach Rostock zurück.

Noch an demselben Abend ging, unter den gehörigen Vorsichtsmaßregeln, ein Brief an Johanna Kinkel ab.

Am Montag kam, wie verabredet, der Gutsbesitzer X. zu mir. Wie glänzte sein Gesicht vor Freude, als ich ihm die fröhliche Mähr von der gestrigen Abreise der Flüchtlinge meldete! „Nun, da ich weiß, daß sie gerettet sind, will ich gern alle Folgen auf mich nehmen,“ sagte er.

„Aber, mein Herr,“ erwiderte ich scherzend, „wie haben Sie mich und uns Alle so erschrecken und mich in die unangenehme Lage bringen können, Ihnen die Unwahrheit sagen zu müssen!“

„O, Sie haben Ihre Revanche genommen,“ rief er lachend. „Ich kann Ihnen das Zeugniß ausstellen, daß Sie Ihre Rolle meisterhaft gespielt haben.“ Bei einer Flasche Portwein schlossen wir Freundschaft und trennten uns nach einer Stunde wie alte Bekannte. Ich habe ihn seitdem nie wieder gesehen.

Aus den Schiffslisten erfuhren wir, daß die „Anna“ am 19. November im Sunde angekommen war, wir wurden aber zugleich durch die Nachricht alarmirt, daß um jene Zeit auch das preußische Kriegsschiff „die Amazone“ den Sund passirt habe. Das Zusammentreffen beruhte indeß glücklicher Weise auf reinem Zufall. Die Ankunft der Flüchtlinge in Leith und Edinburg, wohin sie sich, anstatt nach Newcastle, des besseren Windes wegen gewandt hatten, berichtete Kinkel in einem Briefe an die Brockelmann’sche Familie. Am 1. December hatten sie den freien Boden Britanniens betreten. Von Edinburg waren sie mit der Eisenbahn nach London gefahren. In Paris sah Kinkel seine Frau, welche noch kurz vor ihrer Abreise dahin eine polizeiliche Haussuchung zu bestehen gehabt hatte, und seine Kinder wieder.

In dem nachstehenden, auf der Fahrt nach England entstandenen Gedichte, welches er der Brockelmann’schen Familie zusandte, schildert Gottfried Kinkel die Empfindungen, welche ihn beim Scheiden aus ihrem Kreise bewegten.


An der See.      November 1850.

Nun sinken böse Sterne
Tief hinter mir in Nacht.
Es ladet mich die Ferne
Mit frischer Morgenpracht.

5
Die wanderfrohen Wellen

Mit weißem Kamme schwellen,
Von Süden weht’s mit Macht.

In wenig Stunden fodert
Der Bootsmann mich zum Strand.

10
Durch meine Seele lodert

Des Abschieds scharfer Brand.
Die Lippe fragt so bange:
Wie lang’, ach, auf wie lange
Meid’ ich das Vaterland?

15
Doch eh’ zum schwanken Loose

Ich frisch mich wende nun,
Eh’ neues Schlachtgetose
Mich ruft zu kühnem Thun:
War es mir doch beschieden

20
In deutschen Hauses Frieden

Noch einmal auszuruhn!

Ich kam auf Flüchtlingspfaden
Geächtet und gebannt;
Ich kam von Schmerz beladen,

25
Von Haß und Zorn entbrannt;

Es schlug die Flucht mir Wunden,
Sie wurden mir verbunden
Von mütterlicher Hand.

Hier fand ich deutsche Seelen

30
und echtes Sachsenblut;

Sie setzten ohne Wählen
An mich ihr Glück und Gut;
Hier an des Landes Marken,
Da fand ich noch den starken,

35
Den treuen Opfermuth!


O Eure fromme Güte,
Sie that sich nie genug!
Sie stillt mir im Gemüthe
Den Ingrimm, den ich trug;

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Ihr habt es mir verliehen,

Daß ich vermag zu ziehen
In’s Elend ohne Fluch.

Drum Segen diesem Heerde
Und Heil ihm ewiglich,

45
Wo noch nicht von der Erde

Das fromme Gastrecht wich!
Auf allen ihren Wegen,
Mein Kind, den Deinen Segen,
Und Segen auch auf Dich!

50
Bald wirst Du selbst ja schalten

Mit mütterlichem Sinn,
Des eignen Hauses walten
Zum freudigsten Gewinn;
Dem trefflichen Gemahle

55
Beutst Du der Jugend Schale,

Du liebe Schaffnerin!

Auch uns, drauf magst Du trauen,
Fällt anders bald das Loos.
Und rasch zu Euren Auen

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Wiegt mich des Meeres Schooß;

Aus Franken und aus Sachsen
Soll dann Zusammenwachsen
Ein Deutschland frei und groß!

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