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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

und winkte und rief ihr zu: „Komm nur her, Evi …“ sagte sie, „ich bin ganz allein – Du brauchst Dich nit zu scheuen vor mir!“

„Ich hab’ nur umkehren wollen,“ sagte Evi nähertretend, „weil ich gemeint hab’, es könnt’ Dir zuwider sein, wenn Du mich siehst – zu scheuen hab’ ich mich vor Niemand auf dem Bühelhof! – Wie geht’s Dir, Bäuerin?“ setzte sie theilnehmend hinzu. „Kannst immer noch nicht genug Atem schöpfen?“

„Schlecht geht’s mir, Evi – schlecht … Du kannst Dir denken, warum!“

„– Es wird wohl besser werden. …“

„Mit mir nimmer, ich spür’s; der Herbst nimmt mich mit und das fallende Laub’ … ich hab’ einmal zu viel ausgestanden! – Du bist ein gutes Leut, Evi, Du tragst es uns gewiß nit nach, was wir Dir zu Leid gethan haben. … Du nimmst gewiß Antheil an dem, was eine arme Mutter ausstehen muß! Wie sie mir den Buben fortgeführt haben aus dem Haus, das ist der Todesstoß gewesen … und wie es gar geheißen hat, daß sie ihn verurtheilt haben und haben ihn hineingefahren in Ketten und Banden nach München in’s … ich kann’s nit sagen, wohin … das war das Allerletzte, und ich kann’s nit begreifen, daß ich noch leb’! Und doch ich spür’s – wenn ich auch keine Kraft mehr hab’ zum Leben, ich kann doch auch nit sterben! Ich wär’ gern zu ihm hinein, eh sie ihn forthaben – aber der Vater hat’s nit erlaubt … und ich kann die Augen nit zumachen, ohne daß ich ihn noch einmal gesehen, ohne daß ich wenigstens gehört hab’ von ihm … Und zu all’ dem muß ich’s hinunter drucken in mich und darf nichts sagen … ich hab’ keine Seel’, der ich’s sagen könnt’, wie mir um’s Herz ist. …“

„Wenn das Dein Kummer ist, Bäuerin,“ erwiderte Evi herzlich, „da kann ich Dir ja vielleicht helfen. …“

„Ja thu’ das, Du gute Evi,“ sagte die Bäuerin eifrig, „führ’ mich in die Stube hinein, dort können wir besser reden miteinander … von meinem Buben, meinem armen Mentel – dort sieht auch keine Seele, und vor einer Stund’ kommt noch Keins vom Feld heim. … O ich hab’ so viel, so Schweres auf dem Herzen … ich will Deine Hand segnen, Evi, wenn Du mir’s leichter machst. …“

Mit liebevoller Sorgfalt geleitete sie die Bäuerin hinein; es war schon Abend, als sie hastig aus dem Hause schlüpfte und den Bergweg hinabeilte.

– Einige Tage später kniete sie in der Au, der Vorstadt von München, vor dem Standbilde des heiligen Johann von Nepomuk, das unter schattenden Bäumen stand. Damals ragte der prachtvolle gothische Dom noch nicht in Mitte einer breiten öden Sandfläche; die Sandfläche war damals üppig grünender Rasen, reich mit Gebüsch und mit Bäumen besetzt, unter denen das unscheinbare Pfarrkirchlein sich bescheiden verbarg. Ein zahlloser lärmender Kinderschwarm spielte im Gras und im Schatten und beachtete die einsame Beterin nicht. Endlich erhob sie sich mit gramvollem Herzen und wandermüden Füßen und schritt durch schmale Gäßchen dem ehemaligen Paulanerkloster zu, das zum Zuchthause umgestaltet war.

Ein unsäglicher Schmerz preßte ihr die Brust zusammen, als sie das ernste Gebäude mit den vielen schwer vergitterten Fenstern erblickte, als sie auf der Bank vor der Thüre einige Gerichtsdiener sitzen sah, den bloßen Säbel in der Hand, ihre ungeheueren Fanghunde neben sich. Sie schwankte, als sie nebenan einige Leute in Sträflingskleidern erblickte, welche an der Straße arbeiten und karren mußten; sie wußte kaum, was sie am Thor vorbrachte, und als die Eingangsglocke dröhnte und sie in der gewölbten düsteren Vorhalle, einem Theile der ehemaligen Kirche, stand, da glaubte auch sie sich verloren und für immer geschieden von der schönen, heiteren, schuldlosen Welt, die draußen leuchtete und sich freute.

Die erbetene Unterredung wurde gewährt.

Bald stand die Arme nebenan in einem kahlen, dürftigen Stübchen und hörte bald mit stockenden Pulsen das Herannahen schwerer klirrender Schritte.

Der Gerichtsdiener öffnete die Thüre – und vor ihr stand eine große Gestalt mit geschorenem Kopf, in grauer Jacke mit dunkelrothem Kragen, einen Eisenring um das Handgelenk, von welchem eine Kette herabhing und mit einem andern Reif am Fußknöchel verbunden war.

Das war Mentel.

Sie hätte ihn nicht wieder erkannt; er war bleich und aufgedunsen, der Mangel gewohnter Bewegung in freier Bergluft, der nagende Gram seiner Seele hatten seine Kraft und Frische gebrochen und ihm den Stempel des Gesängnisses aufgedrückt – sie hätte ihn nicht erkannt, denn ihre Augen verschwammen in Thränen.

Sie sah es nicht, wie eine glühende Röthe über das verkommene Antlitz flog, wie er die verkümmernden Arme nach ihr erhob – wie er auf sie zustürzen und sie umarmen wollte, wie ihn aber das Klirren der eigenen Kette davon zurückschreckte – wie er die Arme erblassend wieder sinken ließ und nichts hervorzubringen vermochte, als: „Evi … Du? Du kommst zu mir?“

Sie faßte sich, trat zu dem Erschütterten und ergriff seine Hand. „Grüß’ Dich Gott, Mentel,“ sagte sie, „ich bin’s wohl – die Mutter schickt mich zu Dir!“

„Du kommst zu mir?“ wiederholte er mit einem Tone, in welchem das tiefste Leid und die höchste Wonne sich umfingen. „Du gute, treue Seel’ … nach Allem, was geschehen ist, kommst Du zu mir?“

„Warum sollt’ ich nit? Du hast mir nichts angethan!“

„Sag’ das nit, Evi … thu’s nit beschönigen,“ rief er schmerzlich; „ich weiß gar wohl, was ich Dir angethan hab’! Aber wenn Du mich gesehen hättest, wie ich so manche Stund’ in der Nacht in meiner Keuchen aufgesessen bin auf meinem Strohsack und hab’ an Dich gedacht und Dich um Verzeihung gebeten … wenn Du gesehen hättest, wie viel blutige Zäher die Woll’ verschluckt hat, die ich hab’ kardätschen müssen … Du hättest mir längst Alles vergeben und vergessen!“

„Ich hab’ Dir nichts zu vergeben,“ erwiderte sie sanft, „aber von Deiner Mutter hab ich Dir zu erzählen. …“

„Von meiner Mutter!“ stöhnte der Sträfling und sank auf einen Stuhl, die Hände vor’s Gesicht schlagend. „Wie geht’s ihr? … Wie ist’s mit dem Vater?“

„Der Vater weiß nichts davon, daß ich da bin … der Mutter geht’s, wie Du Dir’s denken kannst … sie ist schwer krank … sie sieht das Laub wohl nit wieder fallen …“

Mentel weinte noch bitterlicher zwischen den festgeschlossenen klirrenden Händen hervor.

„Du sollst Dich d’rum nit kränken, laßt sie Dir sagen… es war ihr ja schon gar lang so letz – sie ist hergericht’ für die Ewigkeit und hat nur noch eine einzige Sorg’ auf dem Herzen – die Sorg’ wegen Deiner!“

„… Red’ …“ sagte Mentel dumpf und erhob das thränenüberströmte Kummergesicht.

„Sie kann nit leben und kann nit sterben,“ rief Evi nähertretend, „d’rum hat sie mir angeschafft, ich soll zu Dir gehen und soll Dich nochmal fragen, auf Dein Gewissen und auf Deine Seel’ und Seligkeit, ob Du wirklich unschuldig bist?“

Mentel stand auf und hob die gefesselte Hand wie schwörend zum Himmel, während er die andere auf die Brust legte. … „Ich bin’s,“ sagte er ruhig und ernst.

„Sie geht bald ein in die Ewigkeit,“ fuhr Evi fort, „dann sieht sie vom Himmel herunter in Dein Herz, ob Du sie nit mit einer Lüg’ hinübergeschickt hast. … Bist Du unschuldig, Mentel?“

„Ja!“ rief er feurig und fest, und Evi ergriff seine Hand, als wollte sie ihm beteuern, daß sie nie daran gezweifelt.

„Dann stirbt sie getröst’,“ sagte sie, „sie weiß ja, daß sie Dich wiedersieht im Himmel. …“

„Und das bald, Evi, bald!“ rief der Bursche in ausbrechendem Schmerz. „Das Leben da herinnen bringt mich um … sie wird in der Ewigkeit nit lang warten dürfen auf mich! … O Evi, Evi,“ schluchzte er, „es ist hart, es ist bitterhart, eine so schreckliche Straf’ leiden müssen und noch dazu unschuldig!“

„Die Mutter schickt Dir das kleine Kreuzel da,“ sagte Evi, und auch ihr begann die Stimme in Rührung zu brechen. „Du sollst unsern Heiland anschaun, den Herrn Jesum, den sie auch unschuldig an’s Kreuz geschlagen haben … Du sollst ihm Dein Leiden aufopfern, sollst sie und Dich und mich zu ihm hinhängen an’s Kreuz … damit Du Dich trösten kannst.“

„Ich kann’s nit,“ murrte er dumpf, „– ich halt’ es nit aus. …“

„Du kannst, Mentel – ich bring’ Dir den Segen Deiner Mutter – mit dem kannst Du’s!“

Wie unwillkürlich sank der Bursche in’s Knie; sie legte ihm

die bebende Hand auf das verstümmelte Lockenhaar. „Denk’ es ist Deine Mutter, die Dir die Hand auf’s Haupt legt,“ flüsterte sie,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_258.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)