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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

erwiderte Mary finster, „bei Ihnen aber,“ fuhr sie in sanfterem Tone fort, „ist’s noch lange nicht so weit gekommen – Wollen Sie Ihr Gewissen mit einem vielleicht ungerechten, jedenfalls aber unbegründeten Verdachte belasten?“

„Wollte Gott, es wäre so, liebe Mary, gern möchte ich Abbitte – Buße thun,“ und die blonde Mathilde neigte das Köpfchen und verfiel in eine melancholische Träumerei. Mary überließ sie ihren Gedanken, schweigend saßen sich die Freundinnen eine Zeitlang gegenüber, – da plötzlich fuhr eine brillante Equipage geräuschvoll durch Rue Montorgueil und hielt an der Hausthür. Mary warf einen Blick hinaus.

„Der Vicomte!“ sprach sie, „er kommt wohl Sie zur täglichen Promenade abzuholen.“

„Wahrscheinlich; – gieb mir meinen Hut und Shawl, liebe Mary, frische Luft wird mich erquicken.“

Jetzt trat Vicomte de Joly in’s Zimmer, es war ein schöner, schlanker, junger Mann, mit der tadellosesten Eleganz des Gentlemans in Haltung und Anzug. Er verbeugte sich ehrerbietig gegen Mathilde.

„Leo hat mir die schöne Hoffnung gegeben, gnädige Frau, daß Sie mir heute abermals die Ehre erweisen werden, von meiner Equipage Gebrauch zu machen.“

„Recht gern, Vicomte, ich nehme Ihren Vorschlag mit Dank an.“

„Mit Dank? … o gnädige Frau, das nennt man bei uns in Frankreich den Liebreiz der Gabe; Sie, die Geberin, danken dem beglückten Empfänger!“

Mary, die eben mit Hut und Shawl eintrat, hörte diese Worte, und nichts weniger als wohlwollend war der Blick, den ihre schwarzen Augen dem Vicomte zuwarfen. Nach einer Weile saß dieser an Mathildens Seite in der offenen Kalesche, die, mit zwei Rappen pur sang bespannt, dem Bois de Boulogne zuflog.

Mathildens zartes, von dem eleganten Hut umrahmtes Gesichtchen war gedankenumflort, die sanften blauen Augen blickten gleichgültig auf die bunten Reihen der Equipagen und Fußgänger im Bois de Boulogne, diesem täglichen Rendezvous-Ort des müßigen Paris zwischen drei und fünf Uhr. Noch hatte sie kein Wort mit dem Vicomte gewechselt. Dieser betrachtete sie mit einem Blicke, in dem sich so mannigfaltige Gefühle spiegelten, daß der feinste Physiognomist kaum hätte enträthseln können, was zunächst der unverhohlenen Bewunderung für die niedliche Gefährtin im tiefsten Hintergrunde dieses Blickes steckte, was dieses bisweilige, kaum merkbare Lächeln der feinen Lippen für einen versteckten Sinn hatte. Endlich brach der Vicomte das lange Schweigen.

„Wie mir scheint, gnädige Frau, hat unser Paris bis jetzt noch nicht Ihre volle Gunst gewonnen?“

„Sie irren sich nicht, Viceomte, es ist aber nicht zu verwundern. Sie wissen, wie sehr Leo seit unserer Ankunft in Anspruch genommen, – und ist man mit wichtigen, ernsten Dingen beschäftigt, so bleibt wenig Sinn für Genüsse und Vergnügungen, so reizend sie auch sind!“

Leo’s wichtige Geschäfte können Sie doch unmöglich treffen, gnädige Frau, ich will nicht einmal hoffen, daß er die Barbarei gehabt, Sie in dieselben einzuweihen? …“

„Wie so, Vicomte? Halten Sie mich für unfähig, mich mit ernsten Dingen zu befassen?“

„Das nicht, gnädige Frau; ich halte aber Leo für unfähig, Ihnen … gewisse Dinge mitzutheilen.“

„Leo theilt mir Alles mit,“ unterbrach ihn Mathilde lebhaft.

„Alles? … auch seine jetzigen …“

„Gewiß! … Alles, auch seine jetzigen Geschäfte!“

Der Vicomte verbeugte sich.

„Dann, gnädige Frau, darf es mich freilich nicht mehr wundern, Sie bisweilen in Gedanken zu sehen, denn der Grund, der Leo nach Paris geführt …“

„Sie kennen also den Grund?“ rief Mathilde unvorsichtig.

„Wie sollte ich nicht – ich, Leo’s alter Universitätsfreund, gewiß weiß ich Alles,“ sprach er mit Nachdruck, sie scharf beobachtend, „und um so weniger begreife ich Ihre Mitwisserschaft!“

„Leo sagt mir Alles,“ wiederholte Mathilde merklich verlegen, „wir haben uns das gegenseitige Versprechen gegeben, immer und in Allem ganz offen gegen einander zu sein.“

„Dann beuge ich bewunderungsvoll das Knie vor Ihnen, gnädige Frau, wenn ich auch Ihre Selbstverleugnungsfähigkeit nicht fasse!“

Mathildens fragend unruhiger Blick bestärkte den erfahrenen Beobachter in seiner Vermuthung. „Recht getroffen,“ dachte er, „sie weiß Nichts und brennt zu wissen, genug für den Augenblick!“ und er leitete das Gespräch auf ein anderes Thema.

Mathilde war aber so verstimmt, so zerstreut, daß sie nur mit Mühe hier und da eine Antwort zu Wege bringen konnte. Der Vicomte wußte, was sie ignorirte, er konnte durch ein Wort das sie quälende Räthsel lösen, aber ihn befragen war unmöglich, und auf geschickte Weise das Erwünschte von ihm herauslocken, war keine Aufgabe für die schlichte, unerfahrene Mathilde, dem schlauen Weltmann gegenüber. Mathildens Zerstreutheit entging dem Vicomte nicht, ihm stand die ganze Qual dieses gepeinigten Herzens deutlich vor Augen, er wurde aber um so gesprächiger, um so liebenswürdiger, schien den ersten Gegenstand des Gespräches völlig vergessen zu haben, und da Mathilde alle Hoffnung verloren, ihn wieder auf dieses für sie so interessante Thema zu bringen, beklagte sie sich über die Kälte und bat den Vicomte sie nach Hause zu bringen. Sie hüllte sich in ihren Shawl, drückte sich in die Ecke der Kalesche, und schweigend fuhren nun Beide durch Champs Elyées über Place de la Concorde. Plötzlich that der Vicomte eine rasche Bewegung, die selbstverständlich Mathildens Aufmerksamkeit auf sich ziehen mußte, im nächsten Moment saß er wieder still und blickte ruhig vor sich hin, Mathilde aber hatte sich umgewandt und sah – Leo – in traulichem Gespräche mit einer Dame, die er am Arme führte. Ein dichter Schleier verbarg ihre Züge, die Gestalt aber war die einer jungen Frau, die Tracht elegant und geschmackvoll. Leo hatte sich zu ihr gebeugt, schien ihren Worten zuzuhören und lächelte dabei freundlich. Mathilde hatte einen dumpfen Ausruf nicht unterdrücken können, eine Todesblässe überzog ihr Gesicht, und als der Vicomte, scheinbar durch ihren Ausruf aufgeschreckt, sie besorgt um den Grund frug, stammelte sie kaum vernehmbar: „Nichts – es ist Nichts … ich glaubte … das eine Pferd …“

„O, gnädige Frau, meine Pferde sind zuverlässig,“ sagte der Vicomte, „beruhigen Sie sich. Arme, arme Frau!“ fügte er leise hinzu, ihre Hand fassend und sie leise drückend. Mathilde ließ es geschehen, ohne weiter darauf zu achten.

Als die Equipage in Rue Montorgueil hielt und der Vicomte Mathilden zum Aussteigen die Hand reichte, hielt er diese Hand in der seinen zurück, auf diese Art Mathilden zwingend, ihn anzusehen. Sie begegnete einem feuchten, liebevollen Blick.

„Gnädige Frau,“ sprach der Vicomte mit bewegter Stimme, „Mathilde,“ flüsterte er leise hinzu, „ich gäbe mein Leben darum, um das Gesehene ungesehen, das Geschehene ungeschehen machen zu können; leider liegt es nicht in meiner Macht. Sie aber sind ein Engel, dem ja Alles gelingen muß; kann noch Jemand etwas ändern, so können nur Sie es! Darum fassen Sie Muth,“ fuhr er fort, „bedürfen Sie aber des Beistandes eines treuen Freundes, so bin ich da, ich bin ein Ehrenmann und Ihnen ergeben auf Leben und Tod!“

Mathilde, außer Stande ein Wort zu erwidern, zog langsam ihre Hand zurück, legte dann zum Zeichen des Schweigens einen Finger auf ihre bebenden Lippen und eilte die Treppe hinauf.

Vicomte de Joly sah ihr eine Weile nach. Der Ausdruck seines Gesichts hatte sich geändert, die Milde der Züge sich in ein sinnliches Lächeln verwandelt, die feuchten Augen funkelten von dämonischer Freude belebt – – „Nicht übel,“ murmelte er, „den Zufall nenne ich günstig, on a de la chance ou l’on n’en a pas! Guter Anfang, guter Anfang, et vogue ma galère!“

Er sprang in seine Kalesche und verschwand.



Es ging auf sechs. Leo und Mathilde saßen bei’m Mittagsessen, die junge Frau bleich und verweint, Leo ernst, sorgenschwer. Es war ein schöner Mann, dieser Leo, seine edlen Züge trugen den Stempel männlicher Energie, verbunden mit Geist und Güte, sein ehrliches braunes Auge sah treuherzig vor sich hin, und dieser klare reine Blick allein hätte genügt, allen Verdacht von Falschheit oder Verstellung zu entfernen, hätte nicht in seinem ganzen Wesen etwas Sicheres und Offenes gelegen, das gleich bei’m ersten Anblick ein unwillkürliches Vertrauen einflößte. Das Ehepaar war in sich gekehrt, stumm. Mathilde berührte kaum die vorgesetzten Speisen, und nur mit Mühe drängte sie die Thränen zurück, die jeden Augenblick drohten auf’s Neue aus ihren Augen zu strömen. Leo mußte in der That durch sehr schwere Sorgen absorbirt sein, um die tiefe Verstimmung seines geliebten Weibes nicht zu bemerken.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_290.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)