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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Zum Feste des Sanct Bartholomäus (24. August) strömen hier Tausende von Wallfahrern aus den nachbarlichen Bergen herbei, und in der darauffolgenden Nacht leuchten auf allen Höhen jener Gegend lodernde Festfeuer. Der Sage nach stand schon 1134 auf dieser von aller Welt abgeschiedenen Halbinsel eine Kirche, wo manches Wunder vollbracht wurde.

Im Jagdschlößchen wohnt ein alter Förster, bei dem man gutes Bier und die berühmten Saiblinge, eine Art von Lachsforellen, findet. Ein paar hübsche, herzige Mädchen, vermuthlich seine Töchter, besorgen das Hauswesen und bedienen die Gäste, die von solch ungeahnten ländlichen Schönheiten auf’s Angenehmste überrascht werden. Leider konnte ich nur kurze Zeit im behaglichen Försterstübchen weilen, da die anrückende Nacht an baldigen Aufbruch mahnte. Zwei thüringische Maler, die mich als deutschen Landsmann beim schäumenden Glase begrüßt hatten, forderten mich auf, die Rückfahrt nach dem Dörfchen Königsee in ihrer Gesellschaft anzutreten, wozu ich mit Freuden einwilligte. Der Abend war entzückend schön, als unser Boot vom Lande abstieß und fast lautlos über die ruhige Fluth dahinglitt. Vom glühenden Roth der scheidenden Sonne übergossen, spiegelten sich prachtvoll noch einige der höchsten Bergspitzen in dem dunklen See ab, über den sich schon die Dämmerung zu lagern begann. Die beiden Maler schienen jedoch weniger von der magischen Beleuchtung der Landschaft gefesselt zu sein, als vielmehr von unserer Schifferin, einer schmucken Blondine, die mit ihrem Bruder gemeinsam und schweigend das Ruder führte. An der sogenannten „Schallwand“ feuerte der Bursche eine Pistole ab, da rollt ein langhaltendes Echo in starken Schlägen gleich Donner durch das ganze Gebirg, und nach einer Weile, als bereits Alles stille geworden, vernehmen wir aus der hintersten Ecke des Bergkessels noch einmal den Wiederhall des Schusses. Ein zweiter Schuß wird losgebrannt, wieder kracht und dröhnt es dumpf und hohl durch die Berge; ein dritter und letzter Schuß folgt, diesmal von einem freudigen Hurrah unsererseits erwidert. Nun erreichten wir in Kurzem das Ziel unserer Fahrt, den Ort Königsee. Im dortigen Wirthshause trafen wir eine lustige Gesellschaft von Malern aus den fernsten Gauen des weiland deutschen Reichs beisammen, die alle hierher gekommen waren, um die großartigen und imposanten Staffagen der Umgegend zu studiren und sie mit werthvollen Skizzen auszubeuten.

Als ich später dem lärmenden Kreise entschlüpfte, um nochmals an den See hinauszugehen, stand der Vollmond hell und glänzend über den schwarzen, geisterhaften Bergen. Wie ganz anders war jetzt die Physiognomie der Landschaft! Welche Unterschiede zwischen den Eindrücken des heutigen Morgens, wo ich den Königsee zum ersten Male erblickte, und jenen der Abendfahrt, wo ich von ihm Abschied nahm! Und nun die warme, herrliche Nacht, und diese zaubervolle, fast märchenhafte Umgebung! –

Von etwas träumerischen Gedanken beschäftigt, hatte ich eine Zeitlang am Strande geruht, als ich plötzlich ein sonderbares Geräusch über den See zu vernehmen glaubte. Ich lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit, das Geräusch wird als ferne Ruderschläge hörbar, und es ertönt dazu ein sanfter, schöner Gesang. Immer lauter schallen die Lieder, immer näher plätschern die Ruder, und immer reger wird der Wasserspiegel. Ein Kahn nähert sich allmählich dem Ufer, und darin sitzen einige Mädchen vom Dorfe, welche die schöne Nacht noch so spät auf den See gelockt hatte. Jetzt halten sie unweit vom Gestade an und singen ein Alpenlied, das eine tiefergreifende, sehnsuchtsvolle Melodie hat. Sobald der Gesang beendigt war, landete das Boot; schäkernd und jodelnd hüpften die munteren Dirnen an’s Ufer, wo sie von den Dorfburschen jauchzend empfangen wurden.

Glücklich und beneidenswerth möchten uns diese schlichten Menschen in den Bergen dünken, wenn wir nicht wüßten, daß auch sie Leid mit Freud tragen müssen, wie ja Alle, die auf Erden wallen. Einen für das Leben kostbaren Schatz bewahren sie aber: es ist das ihre allgemeine Genügsamkeit und die daraus hervorgehende Zufriedenheit mit ihrem oft harten und entbehrungsvollen Dasein!




Die deutsche Strafrechtspflege sonst und jetzt.
Der Staat ohne Strafgewalt – Anklage vor dem Volksgericht – Bußsystem – Zweikampf und Eideshelfer – Gottesurtheil – Proceßverfahren im zehnten Jahrhundert.

Eine gute Gesetzgebung schützt heutzutage unser Leben, Gesundheit, Eigenthum und Ehre. Nicht leicht entrinnt ein Verbrecher seiner Strafe und verfällt ein Unschuldiger in solche. Die Leiden, die dem Missetäter zugefügt werden, sind seiner Schuld angemessen und arten namentlich nicht in Unmenschlichkeit aus. Aber wie Viele fragen darnach, ob es zu allen Zeiten so gewesen? Die Meisten begnügen sich mit dem Bewußtsein, daß unsere heutige Strafrechtspflege auf einer hohen Stufe ihrer Vervollkommnung steht, unbekümmert darum, daß es zweier Jahrtausende bedurft, ehe sie diese Höhe erreicht hat. Doch nur der kann den Segen der Gegenwart wahrhaft begreifen, der die Vergangenheit mit ihren oft traurigen Verirrungen kennt. Versuchen wir daher in großen Zügen ein Bild von dem Entwickelungsgang des deutschen Straf- und Strafproceß-Rechtes zu entwerfen.

In den ältesten Zeiten hatte die Volksgemeinde, der Staat an und für sich keine Strafgewalt. Der Staat war weder verpflichtet noch berechtigt, aus eigener Veranlassung, im öffentlichen Interesse ein Verbrechen zu bestrafen, weil, wie bei allen Völkern in ihrem Kindesalter, auch bei den Deutschen die staatliche Verbindung eine sehr lockere war. Die alten Deutschen faßten ihr gesammtes Rechtsverhältniß als ein Friedensverhältniß auf. Sache des Einzelnen war es, den durch ein Verbrechen gestörten Frieden eigenmächtig zu rächen, und die Gemeinde, wenn sie nicht besonders dazu aufgefordert wurde, mischte sich darein nicht. Es galt das Princip der Privatrache. Der Friedensbrecher wurde ein Feind, ein Blutsfeind des Verletzten. Dieser kündigte dem Verbrecher Privatkrieg, Fehde an und brauchte nicht eher zu ruhen, als bis er durch das Blut seines Feindes sich Genugthuung verschafft hatte. Doch waren deshalb unsere Vorfahren keineswegs solche Barbaren, als die wilden Indianer mit ihrer Blutrache noch heute sind. Der Indianer scheut sich nicht, aus einem Versteck heraus seinem Feind den vergifteten Pfeil durch die Brust zu jagen, ihm meuchlings den tödtlichen Streich zu versetzen; die Deutschen aber suchten im offenen Kampf, Mann gegen Mann den Friedensbrecher zu besiegen, und als feig und eines freien Mannes unwürdig galt es ihnen, einen wehrlosen Feind zu überfallen.

Ueberdies war es nicht immer auf das Blut des Uebelthäters abgesehen. In vielen Fällen konnte er die Fehde abkaufen, d. h. ein Sühnegeld, eine Buße zahlen, deren Höhe der Verletzte zu bestimmen hatte. Durch Erlegung der Buße war das Verbrechen gesühnt. Die Parteien gelobten sich von Neuem Frieden und bekräftigten diesen durch einen feierlichen Eid.

War der Verletzte ein Fehdeunfähiger oder gar getödtet, so trat seine Familie, d. h. die waffen- und fehdefähigen Verwandten vom Mannesstamme, für ihn ein. Durch ein Verbrechen war nicht nur der Friede des Einzelnen, sondern der Familienfriede gestört. Deshalb war es Pflicht der ganzen Familie, die den Deutschen als eine Schutz- und Trutzgenossenschaft galt, an dem Friedensbrecher Rache zu nehmen. Es entspann sich in solchen Fällen ein Familienrachekrieg, denn auch dem Befehdeten war dessen Familie zum Beistand verpflichtet, wenn sie ihn nicht als einen ihrer Unwürdigen aus der Genossenschaft ausstieß.

Die Fehde war indeß nicht das einzige Mittel zur Wiederherstellung des gestörten Friedens. Sonst hätte ja auch der Starke und der durch eine mächtige Familie Geschützte jedes Verbrechen begehen können, ohne die Rache des Verletzten fürchten zu müssen. Es gab einen zweiten Weg: die Anklage vor dem Volksgericht. Dasselbe wurde in den frühesten Zeiten in der Volksversammlung abgehalten, welche aus den waffenfähigen, freien Männern der einzelnen Familien eines Volksstammes bestand. jeder Friedensbrecher konnte vor das Volksgericht geladen werden. Hielt dieses den Angeklagten für schuldig, so verurtheilte es ihn zur Erlegung einer Sühne. Verstand sich aber der Angeklagte und seine Familie nicht dazu, auf diese Weise das Verbrechen zu sühnen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 317. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_317.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)