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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

daß an Einspruch von irgend einer Seite nicht zu denken war. Als die Thür hinter dem jungen Manne sich geschlossen, rümpfte Frau Präsident Werner freilich die Nase und sagte spöttisch, sich zu ihrer Nachbarin wendend. „Herr Assessor Nordheim ist immer etwas rasch und absonderlich in seinem Thun und Handeln! Aber lassen wir uns in unserm guten, Gott gefälligen Werke nicht stören. Fahren wir fort!“ Und den Namen des nächsten Kindes aufrufend, begann die Vertheilung der Christgaben auf’s Neue.

Der junge Mann war mit seinem kleinen Schützling auf die Straße getreten. Es war kalt, der Schnee knarrte unter seinem Tritt. Das Kind, dünn und leicht für die Jahreszeit gekleidet, zitterte und fror. Er wickelte es dichter in seinen Ueberzieher und schritt rasch dahin, es dabei zugleich nach seiner Mutter und deren Wohnung fragend.

Das Kind, das bald ruhiger und durch die Güte und Milde des Tragenden zutraulich geworden war, erzählte kindlich verständig, wie es daheim bei der Mutter sei und was die große Schwester mache.

So erfuhr der junge Mann mehr, als es der Mutter und Schwester vielleicht lieb sein mochte. Er ersah aus dem Geplauder des Kindes, daß die Eltern früher bessere Tage gesehen und seit dem Tode des Vaters zurückgekommen sein mußten. Er fühlte es aus den Worten des Mädchens heraus, daß die Mutter eine gebildete Frau sein müsse, daß die große Schwester zeichne, wohl gar male, und daß tiefes, plötzliches Unglück die Familie in Noth und Armuth gebracht habe. Sie wohnten seit Kurzem erst im Ort.

Dies Alles erkennend und erwägend, fühlte Nordheim um so mehr innere Genugthuung und Befriedigung, das Kind von der mehr beschämenden, als erfreuenden Schaustellung im Saale errettet zu haben; er fühlte aber auch zugleich, daß er das Kiud höchstens bis zum Hause, bis zur Thüre der Wohnung bringen dürfe, um Mutter und Schwester durch sein Kommen nicht noch mehr niederzubeugen, als dies durch die ganze Weihnachtsbescheerung schon geschehen sein mochte. Wie man Marie überhaupt zu derselben hatte senden können, blieb ihm ein Räthsel. Als er aber mit seiner kleinen Last so durch die belebten und erleuchteten Straßen der großen Stadt dahin schritt und Marie zuletzt freudig aufjauchzte, als sie an dem großen Schaufenster eines erleuchteten Ladens die kostbar schönen Puppen stehen sah, trat er rasch mit ihr in das Magazin, wo er den Kaufmann ersuchte, ihm eine Pnppe für das Kind herüber zu reichen.

Die Augen Marie’s strahlten vor innerer Glückseligkeit; aber dennoch erfaßte sie zugleich eine momentane Scheu; das Glück, die Puppe zu besitzen, erschien ihr doch gar zu groß – und nur mühsam brachte sie die Worte heraus: „Soll das meine sein?“

Und als der Assessor dies lächelnd bejahete, hinzusetzend, daß der Weihnachtsmann sie gebracht habe, hörte und sah das Kind nichts mehr, sondern nahm in Hast seine Puppe in den Arm, ergriff seine Hand und sagte, ihn zur Thüre ziehend: „Mama wartet!“

Er mußte schon folgen, wenn er anders seinen kleinen Schützling nicht verlieren wollte, der von nun ab für weiter nichts Sinn und Augen hatte, als für seine Puppe, Jetzt war alle Kälte, aller Schmerz vergessen, und nur mit Mühe vermochte er noch sie in einen Laden zu ziehen, um ihr einige Pfefferkuchen und anderes Naschwerk zu kaufen. Gleich darauf war die Wohnung der Kleinen erreicht. Und das Kind, hoch seine Puppe haltend, lief vorauf – und der Assessor hörte noch, wie es bereits schon im Flur rief und schrie: „Mutter, Mutter! eine Puppe!“

Mehr hörte und vernahm er nicht. Rasch, als fürchte er von einem der Angehörigen der kleinen Marie entdeckt zu werden, eilte er davon.

Andern Tages aber, als Kinder und Erwachsene in freudiger Erregtheit durch die Straßen liefen und sich im Stillen wunderten, daß die Stunden, trotz aller Hast und Eile, doch so langsam dahin schlichen, daß es nicht Abend werden wollte, saß Alexandrine, die einzige Tochter des verstorbenen Kreisgerichtsraths Waldow, wehmüthig, verstimmt am Tisch. Sie hatte ihre Weihnachtsarbeiten längst vollendet, sie lagen eingewickelt und geordnet in der Kommode und konnten in jeder Minute an die Betreffenden ausgetheilt werden, aber die Freude, die sie beim Arbeiten empfunden hatte, war seit gestern, seit der Christbescheerung der armen Kinder, wo sie auch thätig gewesen war und der Frau Präsident Werner hülfreiche Hand geleistet hatte, merklich gewichen. Die Handlungsweise des Assessor Nordheim, die sie im Grunde des Herzens nicht tadeln konnte, hatte doch ein zu großes Aufsehen erregt, als daß nicht mannigfache Anspielungen und Tadel hätten laut werden sollen, die auch sie verletzen mußten. Nordheim war schon bei Lebzeiten des Vaters vielfach in ihrem Hause gewesen; der Verstorbene hatte den talentvollen jungen Mann, der gleichsam unter seinen Augen, als der Sohn eines früh verstorbenen Freundes, aufgewachsen war, geschätzt und geliebt, und so war es auch natürlich, daß Alexandrine sich ihm nähern mußte, zumal auch die Mutter, nach dem Tode des Gatten, ihn nicht ungern in ihrer Nähe sah. Es hatte sich dadurch ein eigenthümliches, fast geschwisterhaftes Verhältniß zwischen ihnen gebildet, und wenn die Welt sie natürlich auch bereits als Verlobte und Versprochene betrachtete, so war doch von dem Assessor so wenig wie von Alexandrinen jemals ein Wort gefallen, das ein Verhältniß der Art bestätigen konnte.

Jetzt aber, heut zum ersten Male regte sich in der Brust des jungen Mädchens ein eigenthümliches Gefühl, das sie ehedem nicht gekannt, oder das ihr doch nicht so klar vor Augen gelegen hatte, als eben jetzt. Die Stichelreden der Damen hatten seit gestern doch einen eigenen Sturm in ihrer Brust hervorgebracht; es war ihr klar geworden, daß man sie als die Braut des Assessors bestimmt betrachtete – und sie, sie mußte es sich gestehen, daß derselbe ihr doch mehr sei, als sie bislang selbst geglaubt hatte; während sie doch auch wieder mit sich im Zwiespalt lag, ob sein gestriges Verhalten sie mehr erfreuen oder betrüben sollte. Er schien so herzenswarm, so nach dem Rechten gehandelt zu haben, und doch – –! Aber es war nicht Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen; der Assessor trat soeben ein.

Alexandrine erschrak ein wenig. Sie vermochte nicht, ihm in gewohnter Unbefangenheit entgegen zu gehen, und Nordheim, dies bemerkend, lachte und rief: „Hat Frau Präsident von Werner mich so abgekanzelt, daß auch Sie an mir irre geworden sind?“

Und als er sah, daß sie erröthend schwieg, fuhr er, nicht ohne einige Bitterkeit, fort und sagte: „Daß die Welt in ihrem Egoismus sich doch niemals in die Lage Anderer versetzen kann! Glauben Sie es denn wirklich, daß die Kinder es nicht fühlen, daß sie blos zur Schaustellung für die Erwachsenen dorthin beordert sind, daß die Welt mit ihrer Barmherzigkeit sich brüsten will? Das reine Kindesgefühl wird durch solches Bloßstellen abgestumpft, der Neid der Kinder wird gegenseitig erregt, das Verschämtsein der Armen vernichtet, die bettelnde Frechheit der Liederlichen sanctionirt und permanent gemacht. – O Alexandrine, war der tiefschmerzliche Nothschrei des kleinen Mädchens nicht die einschneidendste Kritik der ganzen Bescheerung? Ich weiß nicht, wer die Eltern des Kindes sind, wenn ich auch den Namen der Mutter weiß, das aber hat mich sein Schrei gelehrt, daß sie einst bessere Tage gesehen und es ein Fehler war, dies Kind zur Weihnachtsbescheerung hinzuzuziehen!“

Er sprach nicht weiter, er fühlte, daß er in seiner Erregtheit zu weit gehen möchte, und so lachte er gezwungen und sagte, dem jungen Mädchen die Hand hinreichend: „Hier, Alexandrine, meine Hand! Mag die Art und Weise meines Einschreitens nicht die richtige gewesen sein, das aber weiß ich, daß die Freude, die ich dem Kinde bereitet habe, mir den Zorn der Frau Präsident von Werner tausendfach aufwiegt. Und nun kommen Sie, Alexandrine, nehmen Sie Hut und Mantel und lassen Sie uns einige Straßen und Weihnachtsausstellungen durchwandern. Es will Abend werden, und durch die Fenster in den Stuben angezündete Weihnachtsbäume brennen zu sehen, ist für mich ein eigener Genuß. Man wird mit den fröhlichen Kindern zum Kinde wieder. Kommen Sie! Ihre Frau Mutter, die ich bereits sprach, hat ihre Einwilligung gegeben!“

Wenige Augenblicke darauf schritten sie Arm in Arm durch die hell erleuchteten, buntbewegten Straßen dahin, und wer sie so gehen sah, Arm in Arm, fröhlich plaudernd, hier und dort das Schaufenster eines reichgeschmückten Ladens bewundernd, dort eintretend, Kleinigkeiten kaufend, der mochte dem pfiffig dreinschauenden Jungen nicht Unrecht geben, als er seinen Hampelmann Alexandrinen zum Kauf anbot und keck hinrief: „Kaufen Sie, schönes Fräulein, den besten Hampelmann für den gnädigen Bräutigam!“

Jetzt standen sie vor dem Local des Kunsthändlers, in dessen permanenter Ausstellung sich gerade einige der bedeutendsten Schöpfungen berühmter Maler vorfanden, und der Assessor, den Arm seiner Begleiterin fester anfassend, sagte: „Lassen Sie uns einen Augenblick eintreten. Ich meine, man kann den heutigen Abend nicht besser

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