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verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Lehrer und eine Dame, die nach der Schule gekommen sei, sie bestimmt habe, an jenem Abende auch zu erscheinen. Das Kind in seiner Unschuld hatte gemeint, es käme ihr diese Auszeichnung für ihren Fleiß zu, denn der Lehrer hatte sie einige Mal gelobt; und wir, die wir keine Ahnung von der eigentlichen Sachlage hatten, glaubten, es solle dem Kinde vielleicht ein gedrucktes Weihnachtssprüchlein gegeben werden, wie dies in einzelnen Schulen Sitte ist. Wie konnte ich ahnen, daß man mein Kind in Folge seines dünnen Röckchens oder wegen seines bleichen Gesichtchens herabzuwürdigen gedachte – ihr – – O, lassen Sie es mich nicht weiter aussprechen. Annette von Droste spricht in einem ihrer Gedichte von dem Mißgeschick, das der guten Freunde übergroßer Eifer zumeist anrichte. Hier könnte man von Aehnlichem reden, von den Wunden, die solch zur Schau gestelltes Wohlthun schlage, wenn man nicht eben wüßte, daß das Ganze zumeist nicht der Armen wegen gethan wird, sondern der Leute wegen, die sie ob ihres Wohlthuns preisen sollen! O über die Menschen, die nie fühlen und empfinden wollen, daß keine Gabe den Armen tiefer kränkt, als solche öffentlich zur Schau gestellte. Diese Bälle, diese Vergnügungen zum Besten der Armen, was sind sie Anderes, als schneidende Messer, die den Bettler in das Fleisch schneiden und Bitterkeit in seine Wunde träufeln, denn die Ballmusik erklingt ihm in seinem Schmerz und seiner Einsamkeit wie bitterer Spott und Hohn. Glauben Sie mir, diese prunkende Wohlthätigkeit ist ein Krebsschaden unserer Zeit!“

Mit einiger Bitterkeit fuhr sie fort: „Sie sehen mich an und meinen, woher diese Weisheit mir komme; aber wer, wie ich, ehedem selber vermögend war – und nun arm und gedrückt dasteht, der empfindet Manches tiefer, als er es vielleicht aussprechen sollte.“

„O, sagen Sie nicht: arm geworden,“ fiel Nordheim, der aufgestanden war, mit Wärme ein. „Ich will mich nicht in Ihre Verhältnisse drängen, der Zufall hat mich Ihnen näher gebracht; aber unmöglich können Sie von Armuth und Entbehrung sprechen, beim Anblick Ihres Kindes!“

Die Mutter lächelte schmerzlich und nahm ihren kleinen Liebling auf den Arm. „Sagen Sie Kinder!“ sprach sie ernst. „Ich habe zwei Töchter! – aber liegt nicht eben im Anblick der Kinder für mich der tiefste Schmerz? – Mein Gatte wurde in Folge seiner Betheiligung am Aufstand in Baden zu einer Zuchthausstrafe verurtheilt. Er entzog sich derselben durch die Flucht. Ich folgte ihm. Wir lebten als Verbannte in der Schweiz. Sagt das nicht genug? Mein Gatte, als früherer Fabrikbesitzer, der redlich nach Kräften für seine Arbeiter gesorgt hatte, der ihnen ein milder Herr, ein Freund, ein Helfer in der Noth gewesen war, glaubte, es würde ihm auch in der Fremde glücken. Es sollte nicht sein! Ein schleichendes Fieber erfaßte ihn; er blieb jahrelang krank. Wir würden gedarbt, gehungert haben, hätte meine älteste Tochter, meine Elise, nicht ihr Talent, das sie in der Jugend zum Vergnügen, zur Freude spielend geübt, verwertet. Sie war es, die das Brod im Exil uns schaffte, die es auch gegenwärtig hier gethan. Mein Mann starb, fern der Heimat, ich kehrte zurück um den letzten Rest meines Vermögens zu retten. Es gelang mir nicht. Ein falscher Freund, ein pflichtwidriger Kaufmann, betrog mich um das Letzte. Arm, gemieden von frühern Bekannten, zog ich hierher. Sie wissen, daß man in einer großen Stadt am leichtesten einsam und unbemerkt nach seiner Decke sich strecken kann. Ueberdies lag die einzige Hoffnung vor, daß Elise hier sich weiter ausbilden – und ihr Talent zur Anerkennung gelangen werde. – Aber auch hierin sollten wir bittere Erfahrungen machen. Auch dem Künstler muß ein Glücksstern leuchten, wenn er sich über die Menge hervor arbeiten soll. Auch hier ist die Armuth eine Fessel, die die schönsten Blüthen knickt. Doch ich bin wohl ungerecht und undankbar! war Marie doch so glücklich – sie ist im Exil geboren – und Elise – –“

Nordheim, der bis hierher die Redende durch keine störende, unzeitige Frage unterbrochen hatte, der den Schmerz ehrte, der aus und in den Worten sichtbar wurde, konnte sich nicht länger halten, eine bisher in seiner Brust schlummernde Ahnung schien in ihm nun zur Gewißheit geworden, freudig rief er. „Ihre Tochter ist Malerin. Ich habe vielleicht ihr Bild – –“

Er konnte nicht weiter sprechen. Die Thüre ging auf, und herein trat jenes junge Mädchen, das er im Saal des Kunsthändlers gesehen – und dessen Erscheinen einen so nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht hatte, und dessen Bild so bedeutende Spuren wirklichen Talents verrieth.

Die Mutter, in sichtbarer Freude und mit mütterlichem Stolz die Eintretende bemerkend, rief, sie vorstellend. „Meine Tochter Elise!“ während sie zugleich, zu Letzterer sich wendend, lächelnd sprach: „Unsere Marie hat den Herrn zu uns geführt. Es ist –“

Aber sie sprach nicht aus, was sie sagen wollte, denn die Tochter hatte bereits dem jungen Mann freundlich, unbefangen die Hand gereicht. „Von ganzem Herzen willkommen!“ rief sie freudig. „Ich sehe, Sie haben nicht meine Schwester allein zu Ihrem Schützling erkoren; auch ich bin Ihnen bereits zu Dank verpflichtet.“ Und sich zur Mutter wendend, sprach sie: „Herr Nordheim war es, der sich meiner bei Herrn Sohr annahm. Ihm verdanken wir es, daß mein Bild gekauft wurde!“ Und sich wieder zu dem Assessor wendend, rief sie, seinen Worten, die er entgegnen wollte, zuvorkommend. „Ich weiß, was Sie freundlich sagen wollen. Aber es war nicht das Geld, welches ich für meine Copie erhielt, was mich erfreute, obschon es trostlos gewesen wäre, wenn ich nichts erhalten hätte; Ihr Kommen befreite mich aus drückender Lage. Und dafür sei Ihnen herzlich gedankt. – Es ist trostlos, wenn man wegen eines Werks, das man mit Lust und Liebe geschaffen, feilschen und markten muß!“

Nordheim, der die Schönheit des jungen Mädchens erst jetzt zu bemerken Gelegenheit hatte, der aber zugleich auch den Schmerz gewahrte, der in den Worten lag, suchte dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Er ging rasch auf einige andere Kunstgegenstände über, betrachtete ihre angefangenen und ausgeführten Skizzen und Studien und brachte es auf diese Weise dahin, daß Elise ihres Schmerzes vergaß und ihre Ansichten, Ideen und Hoffnungen offen darlegte. Wie gediegen, klar durchgebildet fand er das junge Mädchen auch hier! – Der Augenblick, den er zu bleiben gedachte, dehnte sich auf diese Weise unbewußt zu einer Stunde aus. Die kleine Marie, die im Anfange an seinem Knie gelehnt gestanden und ihn mit ihren großen Augen angesehen hatte, war endlich zu ihren Spielsachen gegangen und hatte dort, unbekümmert um die Anwesenheit eines Fremden, eifrig, harmlos fort gespielt. Jetzt kam sie, und zu dem Assessor hinantretend, sagte sie, ihm ihr Weihnachtsgeschenk hinhaltend: „Es ist schon spät, meine Puppe will Dir Gute Nacht sagen; sie ist müde.“

Nordheim erröthete bei diesen kindlichen Worten unwillkürlich, sie mahnten ihn daran, daß es Zeit sei, sich zu verabschieden. Hastig stand er daher auf und sagte lächelnd, dem Kinde die dargereichte und angenommene Puppe wiedergebend: „Leg’ sie nur zur Ruh’!“ Und sich zu der Mutter und Elisen wendend, sagte er entschuldigend: „Verzeihen Sie mein ungebührlich langes Bleiben!“

Mit diesen Worten wandte er sich zur Thür, doch hier angekommen, wendete er sich nochmals. „Werden Sie mich für zudringlich erachten,“ sagte er, „wenn ich Sie bitte, mir den Namen des Banquier zu nennen, durch den Sie Ihr Geld verloren? Vielleicht gestatten Sie mir auch eine Einsicht in die betreffenden Papiere. Ich bin Jurist.“

Die Angeredete lächelte schmerzlich. „Sie wollen eine leise Hoffnung in meiner Brust aufkommen lassen!“ sagte sie. „Ich hoffe nichts! Banquier Wallbot hat fallirt – und Hamburg verlassen!“

„Wallbot! Wallbot!“ rief der Assessor hoch aufhorchend. „Und er hat früher in Hamburg gewohnt? – O bitte, zeigen Sie mir die Documente. Wallbot macht gegenwärtig hier eins der anständigsten, besten Häuser.“

Hastig ergriff er die ihm zitternd dargereichten Papiere, und dieselben ernst, rasch, aber umsichtig prüfend, gab er sie endlich zurück. „Lassen Sie uns hoffen!“ sagte er, der Mutter die Hand zum Abschiede reichend. „Vielleicht gelingt es mir. Ihnen schon nach einigen Tagen Gutes mittheilen zu können. Ich glaube mich nicht zu irren, Wallbot ist kein schlechter Charakter!“ Mit diesen Worten empfahl er sich und ließ Mutter und Tochter in nicht geringer Aufregung zurück.

(Schluß folgt.)



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