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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Verkümmerte Existenzen.
Aus den Aufzeichnungen eines alten Wanderers.
mitgetheilt von Roderich Benedix.

Zwischen Reisen und Wandern ist ein großer Unterschied, und dieser wird täglich größer. Der Reisende wird jetzt meistens durch die Kraft des Dampfes befördert, der Wanderer ist auf den Dienst seiner Füße angewiesen und benutzt ausnahmsweise eine „Gelegenheit“ zum Weiterkommen. Der Reisende hat keine Mühe, als die des Aus- und Einsteigens, der Wanderer hat die Mühe, die jede körperliche Anstrengung verursacht. Der Reisende durchfliegt die Welt, der Wanderer durchschreitet sie.

Und doch ist, wenn man das Reisen und Wandern gegen einander abwägt, der Vortheil mehr auf der Seite des Letzteren. Es ist wahr, der Reisende durcheilt mühelos in unglaublich kurzer Zeit fast ganz Europa, während der Wanderer sich mit kurzen Strecken begnügen muß, die er kennen lernt. Allein was sieht der Reisende? Im Fluge durch die schönsten Gegenden eilend, von denen er nie einen bleibenden Eindruck erhält, sieht er die großen Städte und ihre todten Merkwürdigkeiten. Menschen lernt er nicht kennen, mit Ausnahme der Gastwirthe und Kellner, der Schaffner und Packträger, die in ganz Europa einander auffallend ähnlich sind.

Der Wanderer dagegen schaut mit bewundernden Augen, wie herrlich der alte Gott seine schöne Welt ausgeputzt hat mit Bergen und Thälern, mit Flüssen und Seen, mit Haide und Wald. Seiner Mühe Belohnung ist die Freude an der Herrlichkeit der Natur. Und mehr noch, er lernt Menschen kennen. Der Reisende kommt wohl hier und da mit der sogenannten guten Gesellschaft zusammen, aber nicht mit dem Volke. Die gute Gesellschaft hat aber in allen europäischen Ländern ziemlich dasselbe Aussehen. Die gute Gesellschaft ist wirklich unter einen Hut gebracht, wenn es auch leider der Pariser Cylinder ist, die gute Gesellschaft hat es wirklich zu der Verwischung des Volksthümlichen gebracht, von der einige „Kosmopoliten“ träumten, wenn auch die erlangte Gleichmäßigkeit nur im französischen Frack und der Crinoline besteht.

Aber das Volk, das der Wanderer kennen lernt, hat die allgemeine Uniform noch nicht angelegt. Das Volk bewahrt noch immer die Eigenthümlichkeiten des Volksthums, mit deren Verlust ein Volk aufhört ein Volk zu sein. Ist doch von jeher die Wiedergeburt der Staaten, der in sittlicher Fäulniß versunkenen Zeiten vom Volke ausgegangen. Man liebt es in gewissen Kreisen, die Wörter Volk und Pöbel für gleichbedeutend zu halten. Das aber ist der schmählichste Irrthum. Der Pöbel erstreckt sich durch alle Classen der Gesellschaft und ist in den höchsten oft am meisten vertreten. Denn Unsittlichkeit und Gemeinheit sind die unterscheidenden Kennzeichen des Pöbels. Ich bin ein alter Wanderer und liebe das Volk, und namentlich unser Volk, weil ich es kennen gelernt habe. Die Tugenden, die in höhern Kreisen nicht immer zu Hause sind, beim Volke habe ich sie oft gefunden. Und doch wie wenig wird das Volk gewürdigt, ja nur beachtet! Die Geschichte selbst kennt nur Massen, aus denen einzelne Geister hervorragen, Geister, die durch eigne Kraft oder durch geistige Stellung bedeutend sind. Die Geschichte kann nicht anders. Der Einzelne verschwindet eben in der Menge. Auch die Dichter liebten es vordem, die Großen der Erde durch ihre Dichtung zu verherrlichen, wie die andern Künste auch. Erst in neuerer Zeit hat man angefangen, dem Volke Beachtung zu schenken, und wie die Malerei immer mehr Genrebilder liefert, so steigen die Dichter auch in die Hütten der Armuth, um dort ihre darzustellenden Figuren zu holen. Und das mit Recht. Je weniger in der Geschichte der Einzelne beachtet werden kann, je mehr im Leben der Einzelne in der Menge verschwindet, desto mehr soll die Kunst dem Einzelnen zu der verdienten Geltung verhelfen.

Denn jeder Einzelne ist ein Mensch, der gelitten und sich gefreut hat, der des Lebens Noth und Lust gekostet, der gekämpft und gesiegt hat oder im vergeblichen Ringen untergegangen ist. Jedes Grab auf dem Kirchhofe deckt ein Herz, in dem Liebe und Haß, Hoffnung und Schmerz, Gutes und Böses gewohnt hat, das in freudigen Schlägen und in schmerzlicher Verzagtheit geklopft hat. Unaufhörlich dreht sich die Erde um die Sonne, die Zeit steht nicht still, unaufhörlich folgt Geschlecht auf Geschlecht, die Menschheit ist unsterblich. Der Einzelne aber stirbt, wird begraben und vergessen. Und doch habe ich viele Einzelne gekannt, die nicht vergessen zu werden verdienten. Ich will etwas von Diesem und Jenem aufschreiben – zu meiner eigenen Erinnerung oder für Freunde, denen meine Aufzeichnungen vielleicht einmal in die Hände fallen können.

Zu dichterischer Gestaltung wird sich nicht eignen, was ich aufschreibe. Es sind eben Eindrücke, die ich auf meinen vielfachen Wanderungen erhalten, Thatsachen, die ich erfahren habe. Darnach beurtheilt meine Aufzeichnungen, Ihr Freunde, wenn sie Euch jemals zu Gesichte kommen sollten. Vergeßt aber nicht, daß alles Thatsächliche, was Ihr finden werdet, wahr und selbst erlebt ist. Es wird meistens traurig sein, was ich aufschreibe. Giebt es so viel Trauer in der Welt, oder habe ich mich immer vorzugsweise zu den Leidenden hingezogen gefühlt? ich will es nicht untersuchen. So viel weiß ich, daß der Eindruck, den ein Leidender macht, tiefer und nachhaltiger ist, vielleicht schon darum, weil man über die Ursachen des Leidens nachdenkt, weil man sich klar zu werden sucht, wie viel der Leidende selbst verschuldet hat, oder wie viel die äußern Umstände die Ursache des Leidens sind.


1.

Mein Weg führte mich einst in eine der größern deutschen Hauptstädte. Man hatte mir dort ein Weinhaus gerühmt, in dem man ein Glas echten unverfälschten Getränks und deshalb viel und muntere Gesellschaft fände. Ich ging dahin. Neben einem größeren Zimmer waren zwei kleinere. Da das größere voll von Gästen war, suchte ich mir einen Platz in einem der kleinern. Hier mochte sich wohl jeden Abend eine bestimmte Gesellschaft versammeln, weshalb die übrigen Gäste dasselbe vermieden, wie sich in vielen Wirthshäusern für Stammgäste solche Bedingungen wie von selbst machen. Jeder der nach mir Eintretenden musterte mich mit einem befremdeten Blick, als wollte er sagen: Was machst du denn hier? Ich ließ mich aber nicht stören. Der Wein war wirklich gut, und ich betrachtete mir, da ich von meinem Platze das größere Zimmer bequem überschauen konnte, die einzelnen Trinker und ihre verschiedenen Manieren, was immer sehr ergötzlich für mich gewesen ist. Nach und nach füllte sich das Zimmer, in dem ich saß, und ich bemerkte bald, daß sich hier wirklich eine besondere, gewähltere Gesellschaft zu versammeln pflegte. Es wurde nicht blos getrunken, sondern auch gesprochen und gut gesprochen. Die Ereignisse des Tages in Kunst, Literatur, Politik wurden berührt, und manch treffendes Urtheil, manch gutes Witzwort kam dabei zum Vorschein. Offenbar hatte ich es hier mit künstlerisch und wissenschaftlich gebildeten Männern zu thun, und ich lauschte immer aufmerksamer auf die treffenden Bemerkungen, die von allen Seiten fielen.

Mittlerweile war die Zeit vorgerückt, die „Bürgerglocke“, wie man sagt, hatte geschlagen, das größere Zimmer war nach und nach ziemlich leer geworden. Da trat plötzlich noch ein später Gast ein, der mir sogleich merkwürdig auffiel. Er war ziemlich groß von Gestalt, seine breiten Schultern, seine hoch gewölbte Brust verriethen einen kräftigen Körper. Seinen großen Kopf umwallte dichtes, langes, etwas in Locken fallendes Haar, das man mit einer Löwenmähne vergleichen konnte. Sein Gesicht war groß, von scharf ausgeprägten Zügen, mit lebendigem Mienenspiel. Seine großen Augen waren unruhig und feurig, die hohe Stirn, die starke, etwas gebogene Nase verriethen geistige Bedeutung. Bald erfuhr ich, wer der Ankömmling war, ein berühmter Schauspieler, den ich Egidius nennen will.

Rasch trat er ein, schritt auf das kleinere Zimmer zu und rief guten Abend. Ein lebhaftes Willkommen tönte ihm von allen Seiten entgegen. „Franz,“ rief er dem Kellner, „ein Dutzend Flaschen Chambertin!“

„Was giebt’s, was giebt’s?“ rief einer der Anwesenden, „wenn Sie gleich mit einem Dutzend anfangen, werden wir wohl mit einem Eimer aufhören!“

„Wenn wir einen Eimer bewältigen können,“ rief Egidius, „ich gebe ihn zum Besten.“

Ich kam mir jetzt wie ein Eindringling in diesem Zimmer vor und wollte mich entfernen. Allein Egidius hielt mich bei den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 329. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_329.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)