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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

allerdings nicht. Was Egidius liebt, ist die Aufregung lustiger Gesellschaft, wie sie bei Wein und Spiel sich zusammenfindet. Vielleicht ist ihm diese Aufregung unentbehrlich geworden. In seinem Kopfe sprudelt und gährt es von Einfällen, Witz, Laune, dafür sucht er einen Ableiter, ihm ist Mittheilung Bedürfniß. Die Welt urtheilt hart über ihn. Man nennt ihn liederlich, unsittlich. Ob dieses Urtheil ganz gerechtfertigt ist, mag ich nicht untersuchen. Schlecht ist Egidius nicht, denn er thut Niemandem Böses. Gut kann man ihn auch nicht nennen, denn er lebt nur für sich, ohne sich um das Wohl Anderer zu bekümmern. Daß er gutmüthig ist und gern giebt, mit Anderen theilt, kann ihm nicht so hoch angerechnet werden. Aber eins ist er gewiß, leichtsinnig, bodenlos leichtsinnig.“

„Wie aber hält er ein solches aufregendes Leben aus,“ frug ich, „das jeden Anderen in wenig Jahren zerrütten müßte?“

„Sehen Sie sich seine kräftige Gestalt an,“ erwiderte der Fremde, „diese festen, markerfüllten Glieder. Sein Körperbau ist auf die Dauer eines Jahrhunderts angelegt. Er wird durch seine Art und Weise vielleicht die Hälfte seines Lebens vergeuden, aber fünfzig bis sechszig Jahre hält er aus.“

Als ich am andern Morgen R. verließ, kam ich bei Egidius’ Wohnung vorbei. Ich warf einen Blick nach dem kleinen Hause, in dem er lebte. Er lag im offenen Fenster, das Hemd geöffnet und den Kragen zurückgeschlagen und badete seine offene Brust in der kühlen Morgenluft. Sie mochte ihm wohl thun nach durchschwelgter Nacht. Als ich eben vorbeiging, warf er sein reiches Haar zurück, das ihm in’s Gesicht fiel, wie es seine Gewohnheit war, und noch einmal sah ich mit Wohlgefallen den herrlichen ausdrucksvollen Kopf des berühmten Schauspielers. Ein Bildhauer hätte kein schöneres Modell finden können. –

Fünf Jahre später war ich in Norddeutschland auf einer Wanderung. Ein anhaltender Regen hinderte mich eines Tages, mein bestimmtes Ziel zu erreichen, und zwang mich, in einem kleinen Städtchen zu übernachten, das von einem Dorfe sich nur durch den Namen unterschied. Eine wandernde Schauspielertruppe hatte ihren augenblicklichen Sitz hier aufgeschlagen. Der Wirth machte mich darauf aufmerksam und überreichte mir einen Theaterzettel. Derselbe war geschrieben und enthielt unten die Bemerkung: „Dieser Zettel wird wieder abgeholt.“ Und wieder fand ich auf ihm den Namen Egidius. Ich erschrak. So tief war der herabgesunken, der einst von Fürsten gehätschelt worden! Doch vielleicht war dieser Egidius ein anderer! Ich ging in den Saal und sah eine aus Bierfässern errichtete Bühne. Roh gemalte Leinwandfetzen stellten Decorationen vor, blecherne Kasten mit Salz gefüllt erleuchteten qualmend und trübe den elenden Schauplatz, schmierige Kleider hüllten die Menschen ein, die hier die Worte der Dichter dem Volke durch Darstellung vermittelten. Auf diesen Bretern im eigentlichsten Sinne des Wortes, in diesem trüben flackernden Lichte, in diesen schmierigen Kleidern erschien auch Egidius. Er war es. Ja, das war noch der herrliche Kopf, das große rollende Auge, aber die Stimme war es nicht mehr. Matt und gebrochen tönte sie aus der Brust hervor, er spielte nachlässig, mit Unmuth, wie ein Arbeiter, der zu einem ihm widerwärtigen Geschäft gezwungen wird. Mir war dieser Anblick peinlich, und nach wenigen Minuten verließ ich den Saal.

Meine Stube lag gerade über der allgemeinen Gaststube. Als die Vorstellung beendigt war, wurde es unten wie lebendig. Es wurde laut gesprochen, zuweilen gelacht. Ob Egidius mit da unten sein mochte? Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, mich davon zu überzeugen. Ich trat in’s Zimmer. Die gewöhnlich einzeln stehenden Tische waren zusammen gerückt und bildeten eine einzige lange Tafel, um welche dicht gedrängt eine große Anzahl von jungen und alten Bürgern saß – mitten unter ihnen Egidius. Ein abgetragener Sammtrock, unter dem keine Weste befindlich, bildete seinen Anzug. Die Gäste hatten Bier, er ein Glas dampfenden Grogs vor sich stehen. Er führte das Wort, er erzählte Schnurren und Anekdoten, er gab Einzelne der Gesellschaft durch Neckereien dem Gelächter der Anderen Preis, die vor Vergnügen förmlich wieherten. Wiederholt hörte ich die Bemerkung: „es ist doch ein Teufelskerl, der Komödiant.“ Ich sah ihn jetzt genauer, ohne Schminke. Er war sehr gealtert. Tiefe Falten durchfurchten sein Gesicht, seine Haare begannen sich grau zu färben, nur die Augen hatten noch das alte Feuer, wenigstens jetzt beim Glase starken Gekänks. Das erste Mal, wo ich den Mann sah, saß er auch in munterer Gesellschaft und riß Alles zu tollem Jubel hin durch die sprühenden Funken seines Geistes. Und jetzt kitzelte er das Zwerchfell ungebildeter Bauern. Welch’ ein Abstand von damals und jetzt! –

Ein Jahr darauf las ich in einer Zeitung, daß in einem Lustwäldchen der Leichnam des bekannten Schauspielers Egidius gefunden worden sei. War die Kraft seines Körpers vor der Zeit zu Ende gewesen und hatte die Natur ihn oder er sich selbst getödtet? Ich habe nichts Genaueres erfahren. Die Welt hat ihm ihr Verdammungsurtheil mit in’s Grab gegeben.

Ist aber die sittliche Kraft, die dem Leichtsinn im Charakter die Wage hält, nicht auch angeboren oder durch Erziehung angebildet? Und wenn das Gleichgewicht zwischen sittlicher Kraft und Leichtsinn bei einem Menschen kein günstiges ist, wer mag ihn für ganz zurechnungsfähig erklären? Es ist eine gewichtige Frage, die der Zurechnungsfähigkeit! Sie urtheilt nach den äußeren Erscheinungen und ist immer geneigter, den Stab über einen armen Sünder zu brechen, als ihn zu entschuldigen. Aber die Welt hat andere Fragen zu lösen. Egidius trug sein Verdammungsurtheil mit in die Grube – und er ist jetzt vergessen.




Ein „deutscher“ Mann als Minister.

Noch sind es nicht dreißig Jahre her, daß die badische zweite Kammer als die kühnste Vorkämpferin für deutsches Verfassungsrecht und die volle Ausbildung des Rechtsstaates in die Schranken trat; die badische Opposition hatte die Augen von ganz Deutschland auf sich gelenkt, die Namen Itzstein, Rotteck und Welcker waren ein leuchtendes Dreigestirn freiheitlicher Denkart, politischer Fähigkeit und ungebeugten Mannesmuthes in der Darlegung ihrer unerschütterlichen Ueberzeugung. Baden half durch sie das Jahr 1848 vorbereiten; aber die Bewegung von 1848 und 1849 tobte sich in Baden auch aus. Von vollberechtigten Anfängen ausgehend, in engem ursächlichem Zusammenhange mit der Durchführung der Reichsverfassung und der Grundrechte wurde sie in ihrem Verlaufe mehr und mehr über die Grenzen der gegebenen politischen Möglichkeiten hinausgetrieben in ein Gebiet, wo ihr zugleich die Kraft und die Sympathie des Volkes fehlen mußte. Aus einer Aufwallung des schönsten und des edelsten Idealismus deutschen Glaubens und deutscher Hingebung an die Idee des Rechtes und die Idee der Einheit artete die deutsche Bewegung in Baden aus zu einem Acte politischer Verzweiflung; durch ihre Anlage nicht, und nicht durch den Charakter ihrer Führer, nur durch ihren Verlauf wurde die badische Bewegung zu dem, was sie allerdings endlich geworden ist, zu einem Heerde ausschweifender politischer Unmöglichkeiten.

Die ganze Reactionsgenossenschaft hatte sich wieder in eine feste Phalanx gesammelt zum Widerstande gegen die 48er Ideen. Mit der wiedergefundenen Kraft waren alle vorgängigen Zusagen in den Wind geschlagen, und die badische Bewegung war der willkommenste Sündenbock für die legitimen Gewalten. Die Geschichte der Niederwerfung des badischen Aufstandes ist noch tief in die deutschen Herzen gegraben. Die Todesurtheile der Standgerichte stehen wie blutige Marksteine an der Grenze zwischen dem fünfziger und dem sechziger Jahrzehnt. In dieser schmalen Grenzscheide liegen viele kugelzerrissene Leiber; sie hatten gesündigt nach dem siegreichen Gesetze, aber selbst in den Verirrtesten war ihr Vergehen herausgewachsen aus wahrer Liebe zum Vaterlande und aus geraubter Hoffnung auf sein Glück.

Es war nothwendig, diesen Schattenriß der Vergangenheit als Grundlage der Gegenwart zu geben. Mit der Niederwerfung des 49er Aufstandes trat die Reaction ein, und was wäre von ihr zu erzählen? Ihre Freunde sagen, sie habe die Verirrten wieder in den Kreis des Gesetzes und der Gottesverehrung zurückgeführt; der landläufige Liberalismus weiß von ihr als besonderes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 331. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_331.jpg&oldid=- (Version vom 30.1.2019)