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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Erscheinung hat man sich bisher wenig gekümmert. Man hat übersehen, daß jene großen Seuchen des Mittelalters, deren ich später zu erwähnen habe, nur die natürlichen Folgen von Vorgängen sind, die sich fast tagtäglich vor unsern Augen wiederholen; man hat, wo man um eine Erklärung in Verlegenheit war, statt auf die innere Natur des Menschen zurückzugehen, es vorgezogen, den Zeitgeist zum Urheber der Erscheinungen zu erheben. Indem ich einen andern Weg einzuschlagen versuche, erinnere ich an das bekannte Goethe’sche Wort:

„Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigener Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.“

Dieses Wort des Dichters steht mir zur Seite, wenn ich bei der Betrachtung der Geistesepidemien von den einfachsten Gesetzen unseres Seelenlebens ausgehe und an dem Grundsatze festhalte, daß nur durch richtige Würdigung unserer geistigen Anlage eine Einsicht in jene sonst räthselhaften Phänomene gewonnen werden kann. Die Neugier, mit welcher man bisher den Geistesepidemien gefolgt ist, erlangt damit eine ernstere, wissenschaftliche Basis, und hierin glaube ich vom Standpunkt des Naturforschers eine genügende Entschuldigung zu finden, wenn ich für wenige Augenblicke Ihre Aufmerkfamkeit für einige Grundlehren des Seelenlebens in Anspruch nehme. Das erste Glied unserer Geistesthätigkeit ist bekanntlich die Sinnesempfindung, oder schlechtweg die Empfindung. Wir verstehen darunter das Bewußtwerden eines äußern Reizes, der, mit Hülfe der Sinnesorgane, durch die Sinnesnerven zum Gehirn geleitet wird. So erhalten wir durch die Sehnerven Lichtempfindungen, durch die Hörnerven Schallempfindung u. s. w. Alle fünf Sinne sind in fortwährender Thätigkeit, um dem Gehirn neue Reize, neue Bilder zuzuführen, eine Empfindung drängt die andere, und unser Gehirn würde förmlich mit Empfindungen überladen werden, wenn nicht ein Ausweg für diese fortwährende Zufuhr vorhanden wäre, und diese Ausgabe, diese Entladung unsers Gehirns besteht in der Bewegung. Bewegung, als einen Theil unsers Seelenlebens, nennen wir einen vom Gehirn ausgehenden Reiz, der sich einem sogenanten Bewegungsnerven mittheilt und durch diesen irgend eine Muskelpartie unseres Körpers in Thätigkeit setzt. Wir können uns also das Gehirn vorstellen als eine elektrische Batterie, die geladen wird mit Empfindungen und sich entladet in Bewegungen. Betrachten Sie nur das Kind in seinen ersten Lebensmonaten. An seinen Bewegungen, und zwar an ganz bestimmten Bewegungen, bemerkt man, daß die Sinne anfangen, Eindrücke aufzunehmen. Sehen und danach greifen, Musik hören und taktförmig die Beine in Bewegung setzen. Geruch empfinden und niesen, das sind Vorgänge, die wir beim Kinde überall als zusammengehörige auftreten sehen.

Beim Erwachsenen freilich gestaltet sich die Sache anders. Zwischen Empfindung und Bewegung schiebt sich allmählich ein anderes selbstständiges Gebiet, auf welchem die eigentliche Seelenthätigkeit zur Erscheinung kommt, das Gebiet der Vorstellungen. Die Empfindungen dürfen nun nicht mehr so ohne weiteres passiren, sie werden mit anderen bereits früher dagewesenen verglichen und müssen sich über ihren Werth und über ihre Berechtigung ausweisen. Wir lassen sie nicht mehr ohne weiteres in irgend eine Bewegung ausschlagen, wir werden zurückhaltend, oder zugeknöpft, wie es die Diplomaten zu nennen pflegen. Wie oft hemmen wir unsere Schritte, besinnen uns eines Besseren und kehren auf halbem Wege wieder um, wie manche Ohrfeige, die schon als natürlicher Ausdruck einer frischen Empfindung in vollem Gange war, bleibt uns im Gehirn stecken, oder wir lassen es höchstens bis zu einem Jucken in den Fingerspitzen kommen, und wie manches Wort, zu dem wir schon die Stimmbänder gespannt hatten, wird im Kehlkopfe zurückgehalten! Diesen Zustand, in welchem wir also jede neue uns durch einen der fünf Sinne zugeführte Empfindnug gehörig abzuwägen und den dadurch hervorgerufenen neuen Gehirnreiz richtig zu verwenden im Stande sind, nennen wir den Zustand der Besonnenheit. Die Besonnenheit kann aber durch verschiedene Umstände aufgehoben werden, und dann tritt jener ursprüngliche innere Zusammenhang zwischen Empfindung und Bewegung wieder in sein volles Recht ein. Ist ein Sinneseindruck außerordentlich stark, so können wir, selbst im Zustande vollständiger Besonnenheit, den sofortigen Uebergang in Bewegung nicht verhindern. Wird unser Ohr z. B. plötzlich von dem Schall eines Kanonenschlages getroffen, so erfährt der ganze Körper eine erschütternde Bewegung, wir fahren zusammen. Jede Empfindung, die das Gefühl des Angenehmen oder Unangenehmen in starkem Maße hervorruft, treibt uns zugleich an, uns derselben in irgend einer Weise zu entäußern, wie es die Sprache ganz richtig in den Ausdrücken: sich ausweinen, sich ausschütten vor Lachen, bezeichnet, und bei allen stärkeren Erregungen unseres Gemüths werden wir die äußere Form selten vermissen, in welcher diese oder jene Empfindung sich ausspricht. Es ist keineswegs Zufall, wenn der Betende die Hände faltet, wenn der Reuige in die Kniee sinkt, wenn der Zornige die Fäuste ballt; hier kommen keine Verwechselungen vor, sondern mit innerer Nothwendigkeit geschieht hier das Eine, dort das Andere.

So kommt es denn auch, daß wir häufig das Eine für das Andere setzen, und wenn wir von Jemand sagen, er lasse den Kopf hängen, oder er trage die Nase hoch, er krieche oder er mache einen krummen Buckel, so wollen wir damit das gewöhnliche Maß seiner Empfindungen bezeichnen, das sich eben in einzelnen Bewegungen vorwiegend zu erkennen giebt. Gleichartigkeit des Eindrucks und Ausdrucks, der Empfindung und der Bewegung, das ist also das erste Naturgesetz, dem wir bei Betrachtung der geistigen Vorgänge begegnen. – Aber der Zusammenhang zwischen beiden Processen ist ein so inniger, ist ein so tiefliegender und unveränderlicher, daß er auch in umgekehrter Reihe sich geltend macht, und mit diesem zweiten Gesetz befinden wir uns auf dem Boden der Geistesepidemien.

Eine Bewegung, die wir sinnlich wahrnehmen, erregt in uns dieselbe oder eine ähnliche Empfindung als diejenige war, welche jener Bewegung vorausgegangen war, die sie hervorgerufen hatte. Wir sehen Jemand weinen und werden traurig gestimmt, wir hören lachen und wir werden zur Heiterkeit aufgelegt. Ist der Eindruck stark genug oder sind wir überhaupt dazu geneigt, so kommt es bei uns ebenfalls zum Weinen oder Lachen, und auf diese Weise sehen wir z. B. in den Schauspielhäusern Wein- oder Lach-Epidemien von mehr oder minder großem Umfange sich ausbreiten. Alle Bemerkungen, die Sie hier und da über Sympathien, über das Mitleid, über den Nachahmungstrieb finden mögen, sie fallen alle in die Breite dieses einfachen Gesetzes. Von diesem Gesetz lebt die Mode, jene merkwürdige, epidemische Verbreitung der Trachten, die von Auge zu Auge wandernd zur Nachbildung der wahrgenommenen Form auffordert. Nicht das Nützliche entscheidet hier, nicht das Zweckmäßige, sondern jede einmal den Sinnen zugängliche Erscheinung pflanzt sich bis in das Unendliche fort. Nichts ist wahrer, als das Sprichwort, daß man unter Wölfen heulen müsse, und daß böses Beispiel gute Sitten verderbe.

Es ist bekannt, daß öffentliche Hinrichtungen die Verbrechen vermehren, denn der sinnliche Eindruck und der unwillkürliche Antheil an dem Verbrecher und seiner schwarzen That führt in denselben Ideengang hinein und fordert zur Nachahmung auf. Nichts reizt mehr, auf die Mensur zu treten, als wenn man öfter Zuschauer bei Duellen gewesen ist, und wer sich in die Schriften über den Selbstmord vertieft, dem kann es passiren, daß ihm zu seinem eigenen Befremden der Gedanke an den Selbstmord nahe tritt und daß ihm etwas von jener unheimlichen Lust überkommt, die Süßigkeit des Selbstmordes zu kosten, von der, wie Plutarch erzählt, die Jungfrauen von Milet einst ergriffen wurden. Diese erfaßte ein so heißes Sehnen nach dem Tode, daß sie sich aller Bitten, aller Thränen der Ihrigen unerachtet schaarenweise erhängten. Und nicht eher habe man dieses schrecklichen Triebes Herr werden können, als bis man ein anderes und mächtigeres Gefühl, das der Scham und Schande, dadurch hervorgerufen habe, daß man die nackten Körper der Selbstmörderinnen mit einem Stricke um den Hals auf öffentlichem Markte zur Schau stellte. Auch in der Form des Selbstmordes entscheidet die Mode. War es doch eine Zeit lang in Paris gebräuchlich, daß alle Selbstmörder von den Thürmen und öffentlichen Säulen heruntersprangen, und im Invaliden-Hotel hingen sich, nachdem erst das erste Opfer gefallen war, dreizehn hintereinander an derselben Säule auf, bis diese endlich entfernt und damit der Sache ein Ende gemacht wurde. In der That, wir haben Duell- und Selbstmord-Epidemien gehabt, gegen die die härtesten Gesetze ohne Erfolg waren.

Aber lassen Sie mich an weniger tragische Erfahrungen erinnern, lassen Sie mich das Gesetz der Fortpflanzung von Bewegung zur Empfindung und so weiter an einem Vorfall erläutern, der alltäglich und Jedem von uns geläufig ist. Sie kennen Alle das Gefühl der Müdigkeit; es entsteht dadurch, daß uns vermittelst

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_351.jpg&oldid=- (Version vom 24.4.2018)