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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

der Gefühlsnerven von diesem oder jenem Theil unseres Körpers her ein Verbrauch von Kraft zum Bewußtsein kommt. Hat diese Empfindung eine gewisse Stärke erreicht, so spricht sie sich in einer Bewegung aus, welche darin besteht, daß wir den Mund weit öffnen und tief ein- und wieder ausathmen, kurz in einer Bewegung, die man mit einem Wort „Gähnen“ nennt. Diese Bewegung nun ist im Stande, dem, der sie mit ansieht, ebenfalls die Empfindung der Müdigkeit zu erwecken und zwar bis zu dem Grade, daß er selbst gähnen muß, und so kann in jeder Versammlung durch einen einzigen leichtsinnigen oder böswilligen Gähner eine Gähn-Epidemie hervorgerufen werden, die Solchen, die mit den Gesetzen unseres geistigen Lebens unbekannt sind, zu ganz falschen Vorausstzungen Veranlassung geben kann.

Es giebt aber Bewegungsformen, die weniger unschuldig sind, als die eben erwähnte, und dieselbe Neigung zu epidemischer Fortpflanzung in sich tragen, ich meine die Krämpfe, die Convulsionen. Unter unzähligen Beispielen der Art erwähne ich nur eines, das mich von jeher, schon der handelnden Persönlichkeit wegen, in hohem Grade interessirte, und das mir für meine heutige Aufgabe von ausgezeichneter Beweiskraft zu sein scheint. Zu Anfang des 18. Jahrhunderts ereignete es sich, daß im Armenhause zu Harlem ein Mädchen in Folge eines starken Sinneseindrucks erschrak und in Krämpfe verfiel. Ein anderes Mädchen, welches Zuschauer der Scene war, stürzt bald darauf ebenfalls, von Convulsionen ergriffen, zu Boden, es folgt ein drittes, ein viertes, auch die Knaben werden mitergriffen, endlich ist das ganze Armenhaus ein Schauplatz des Schreckens und der Verwirrung. Aber nicht genug damit, die Scenen wieherholen sich beinahe tagtäglich und spotten der ärztlichen Kunst, die von allen Seiten entboten wird. Damals lebte in Leyden ein Arzt, dessen Ruf die Grenzen Europa’s bereits überschritten hatte. Der Stolz seiner Mitbürger, wurde er häufig mit fürstlichen Ehren gefeiert, und als er einst, so erzählt uns sein Biograph, nach längerer Krankheit zum ersten Male wieder sein Haus verließ, um seinem Berufe zu folgen, da habe ganz Leyden im Glanze unzähliger Lichter gestrahlt. Dieser Mann, Hermann Boerhave ist sein Name, hörte von den Vorfällen in Harlem und folgte willig dem Rufe nach Hülfe. Es traf sich nun, daß, gerade als er in das Haus trat, ein Mädchen in Convulsionen zusammenstürzte, dem bald ein zweites folgte. Boerhave beobachtete genau, dann plötzlich ließ er sämmtliche Inwohner des Hauses um sich versammeln und befahl, ein Becken mit glühenden Kohlen mitten in den Saal zu stellen und die Gluth gehörig zu schüren. Nun legte er Glüheisen in die Kohlen und hieß sämmtliche Anwesende den rechten Arm entblößen, denn die Krankheit erfordere, daß derjenige sofort bis auf den Knochen gebrannt werde, der nun zunächst befallen würde. War es nun der außerordentliche Ruf des Mannes, war es der feierliche und bestimmte Ton seines Auftretens, oder war es vielmehr die Furcht vor der schmerzlichen Operation – kurz, Niemand wurde mehr von Krämpfen befallen, und die ganze Epidemie hatte ein für allemal ihr Ende erreicht. Darin bestand aber in diesem Falle der Scharfsinn dieses Mannes, daß er die Krankheit als den Ausdruck verloren gegangener Versonnenheit erkannte und durch einen neuen mächtigeren Eindruck den Kreislauf zwischen Bewegung und Empfindung zu sprengen suchte.

Solchen ungeregelten Bewegungen liegt immer eine krankhafte Anlage im Nervensystem zu Grunde, und wir sehen sie deshalb öfters bei schlecht genährten Kindern, in Waisen- und Armenhäusern zum Ausbruch kommen. Aus denselben Ursachen sind auf große verheerende und erschöpfende Volksseuchen ähnliche Geistesepidemien von kolossalem Umfange beobachtet worden. Es war um die Mitte des 14. Jahrhunderts, als Europa von einer der fürchterlichsten Seuchen heimgesucht wurde, die die Welt jemals gesehen hat. Aus China kommend durchzog sie Asien, die Krim, Italien, Frankreich und England und erreichte im Jahre 1349 Deutschland, wo allein 2000 Dörfer vollständig ausstarben. Die Opfer des schwarzen Todes, so nannte man diese Krankheit, zählte man nur nach Millionen; ihre Wirkung auf das sociale Leben finden Sie in dem Decamerone des Boccaccio, mit der plastischen Wahrheit, die diesem Dichter eigen ist, beschrieben. Die rohesten Auswüchse mittelalterlichen Aberglaubens traten zu Tage, und es schien, als ob der Böse selbst in die Massen gefahren sei, die in tollem Wirbel sich aufrieben. Damals zeigte sich jene merkwürdige Erscheinung, die von den Schriftstellern als die Tanzwuth oder Tanzplage beschrieben worden ist. Zu Aachen, das ganze Rheinthal auf und abwärts und in den Niederlanden erschienen Schaaren von Männern und Frauen, welche in bacchantischer Ausgelassenheit und unter den Sprüngen und Verrenkungen sich drehten. Hand an Hand schlossen sie Kreise und tanzten, ohne Scheu vor den Umstehenden. in wilder Raserei, bis sie wuthschäumend zur Erde stürzten. Immer mehr wuchs die Zahl der Neugierigen, die sich an dem wundersamen Schauspiel weideten, immer mehr aber auch die Zahl der Ergriffenen. Der Anblick der rothen Farbe, die Töne der Musik und manche andere Sinneseindrücke beförderten sichtlich den Ausbruch der dämonischen Bewegungen, welche allen Heilmitteln der Aerzte, allen Beschwörungsformeln der Priester zu trotzen schienen. Man nannte sie St. Johannistänzer, wie Einige meinen, weil bei der Feier des St. Johannisfestes das Uebel seinen Ausgang genommen, wie Andere behaupten, weil man die Befallenen dem Schutze des heiligen Johannes empfohlen hielt. Als später im Jahre 1418 in Straßburg die Tanzwuth losbrach, benutzte man die Capelle des heiligen Veit zu Beschwörungen, und von da an hießen die Ergriffenen St. Veitstänzer. Die Form der Aufzuge, wie sie die Schriftsteller der damaligen Zeit beschreiben, blieb immer dieselbe: Voran einige Sackpfeifer, dann eine Heerde Neugieriger, dann die Befallenen in ihren wunderbaren Sprüngen und Tänzen, endlich die jammernden Angehörigen, die vergebliche Anstrengungen machten, die unglücklichen Opfer zurückzugewinnen. Bisweilen versuchte man durch Schläge und Stöße die Besonnenheit bei den Tänzern zurückzurufen, und her einigen schien dies in der That zum Ziele zu führen. Bei manchen dagegen steigerte sich die Ausgelassenheit bis zum vollständigen Verlust des Bewußtseins; schäumend und brüllend tanzten sie, bis sie todt niederfielen, oder sie stürzten sich blindlings in das Wasser oder zerschmetterten den Kopf an den Wänden. So währte der Spuk in mannigfachen Variationen bis zu Anfang des 15. Jahrhunderts, wo er sich ganz allmählich verlor.

Vergebens suchen wir nach einer geistigen Triebfeder dieses wüsten und haltlosen Treibens. Es scheint vielmehr nur, als ob die durch den vorangegangenen Jammer eingetretene Erschöpfung des Nervensystems in dieser Weise die thierische Natur des Menschen herausgekehrt habe. Vor solcher trostlosen Misere hat die Vorsehung die spätern Jahrhunderte gnädig bewahrt, aber in anderer Form tritt uns der Verlust der Besonnenheit, als ein ansteckendes Massenübel, noch oft genug entgegen. – Sobald nämlich eine einzelne dunkle Vorstellung sich in den Vordergrund unseres Bewußtseins drängt, so hört das Abwägen, das Ueberlegen des Fürundwider im Bereiche unserer Vorstellungen mehr oder weniger auf, alle Empfindungen nehmen denselben Weg, und es entsteht ein unbestimmtes Streben, das sich in ebenso unbestimmten Bewegungen ausspricht und fortpflanzt. Solchen Epidemien begegnen wir auf allen Gebieten unserer Geistesthätigkeit, und es kann deshalb, wenn wir die ursprünglich treibende Idee berücksichtigen, von religiösen, von politischen und von wissenschaftlichen Geistesepidemien die Rede sein.

Gehen wir zurück bis auf die Zeit der Kreuzzüge, so begegnen wir da einem leitenden Gedanken, einem Gedanken, der Jahrhunderte lang ausschließlich die Gemüther beherrschte. Hervorgegangen aus dem tief religiösen Gefühle, die heiligen Stätten zu säubern und die frommen Pilger, die sie besuchten, vor dem Druck der Türken sicher zu stellen, stieß dennoch die Idee des Kampfes gegen die Saracenen und der Befreiung des heiligen Landes, in richtiger Erkenntniß der großen Schwierigkeiten, die sich solchem Unternehmen entgegenstellen mußten, aus zahllose Widersacher, ja es war gerade in Deutschland, wo die ersten Kreuzfahrer geradezu als Verrückte verschrieen wurden. Als es aber dazu kam, daß die Enthusiasten sich das Kreuz auf die Schulter hefteten, da schien plötzlich ein anderer Geist in die Menge zu fahren. Wie wir es heutzutage noch bisweilen erleben, daß ein Band im Knopfloch einen umstimmenden Einfluß auf die Ansichten eines Menschen ausübt, so geschah es damals im Großen. Es entstand ein hastiges Drängen, sich dem Zuge der Kreuzfahrer anzuschließen, nachdem erst in dem sichtlichen Symbol des Kreuzes ein gemeinsamer Sinneseindruck gewonnen war, der beständig an die treibende Idee erinnerte. Wenn wir bei den ersten Kreuzfahrern noch eine gewisse Einsicht in die unvermeidlichen Gefahren, in die Schwierigkeiten des vorgestecken

Zieles vorfinden: später verlor sich die gesunde Ueberlegung mehr und mehr und ging in eine regellose epidemische Bewegung über.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 352. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_352.jpg&oldid=- (Version vom 14.1.2020)