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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Wilson die Ingenieure unten beauftragt, nur mit halber Schnelligkeit zu fahren.“

„Wir fahren jetzt,“ sagte Dammann, denn so hieß der zweite Officier, „zwölf Meilen die Stunde, und wenn wir die Nacht so fortmachen, so sitzen wir morgen früh, ehe es hell wird, irgendwo bei den Scilly-Inseln auf dem Felsen. Mäßigen wir die Schnelligkeit auf sechs, so können wir nach meiner Rechnung immer noch ein Dutzend Meilen westlich von Bishops-Rock sein, und wenn dann der Alte“ – er meinte den Capitain „keine Vernunft annimmt, so können wir je nach den Umständen handeln. Sie, Doctor, müssen das Beste dabei thun, denn Sie tragen die Hauptverantwortlichkeit, wenn wir gezwungen sein sollten, den Alten festzunehmen.“

„Jedenfalls,“ antwortete der Schiffsarzt, „halte ich es für besser, einem Unzurechnungsfähigen das Commando abzunehmen, als Schiff und Passagiere dem sichern Untergange auszusetzen. Wir Alle wissen, wie strenge die Gesetze der Disciplin an Bord sind, und welche Strafe auf Meuterei steht, doch sind wir hier im Ausnahmezustande.“

Es schlossen sich hier dem Gespräche noch mehrere Passagiere an, welche von Wilson über den Zustand des Capitains unterrichtet waren, und wir Alle beschlossen erwartungsvoll die Nacht über aufzubleiben. Die Officiere bestimmten den vom Capitain vorgeschriebenen Curs so lange einzuhalten, bis sich directe Gefahr zeige, was, da die Maschine jetzt nur mit halber Kraft arbeitete und eine rauhe See gegen uns stand, vor Anbruch des Tages wohl nicht zu erwarten war. Es wurde auch, um keinen unnützen Lärm zu machen und namentlich um die Damen und Kinder an Bord nicht zu erschrecken, welche vielleicht durch ihr Geschrei den Capitain hätten erwecken können, unter uns ausgemacht, den Rest der Passagiere ruhig schlafen zu lassen. So verging ein Theil der stürmischen Nacht, ohne daß weiter etwas Besonderes vorfiel, außer daß die Wache vorn zu besonderer Aufmerksamkeit aufgefordert wurde, da wir in der Nachbarschaft des Landes waren. Wir steuerten nämlich noch immer direct östlich, unmittelbar auf die Scilly-Inseln zu, in deren bedenklicher Nähe wir uns befinden mußten. Wer jene Gegenden des atlantischen Oceans kennt, wird wissen, daß jedes Schiff gern einen weiten Umweg macht, da dieser kleine Archipelagus voll der gefährlichsten Untiefen und Klippen ist.

Von weitem gesehen, gleichen diese öden, nur von einem halbwilden Fischervölkchen bewohnten Inseln den Rücken riesiger Schildkröten, so gänzlich entbehren diese flachkuppigen Felsen aller Vegetation, da die convergirenden Stürme des Oceans und der irischen See keinen Pflanzenwuchs aufkommen lassen. Für einen menschenfeindlichen Einsiedler kann man sich keinen bessern Platz wünschen, und wenn ein Maler die letzten Schrecken der Sündfluth darstellen wollte, wie die tosenden Wogen die granitnen Spitzen der höchsten Berge zu überschwemmen drohen, die äußerste Zuflucht des Menschengeschlechtes, so könnte er hier die passendsten Studien machen. Am weitesten nach Westen vorgeschoben, der äußerste Vorposten Englands, liegt ein schwarzer Schieferfelsen, der Bishops-Rock, von dem die Sage geht, daß St. Patrick, der Apostel Irlands, sich dort in der Einsamkeit, von dem scharfen Geschrei der Möven unbeirrt, zu seinem heiligen Berufe vorbereitet habe. Hier hat die englische Regierung in ihrer bekannten Vorsorge für die Seefahrer einen Leuchtthurm gebaut, dessen weitscheinendes Drehlicht die vom Westen kommenden Schiffe in finstrer Nacht vor dem Verderben schützen soll, das in diesem Labyrinth voll Klippen auf den Unvorsichtigen oder den von Sturm gepeitschten Seemann lauert.

Während ich an die Thür des Maschinenraums gelehnt den feurigen Schein beobachtete, welcher aus dem mächtigen Schlote des Dampfers in der Finsterniß aufsteigend die schlanken Masten und Spieren erhellte, schlich eine Gestalt geräuschlos auf mich zu. Ich erkannte Dammann, den zweiten Officier. „Kommen Sie,“ sagte er, „hier in meine Koje. Ich will Ihnen etwas zeigen.“ Dort sah ich bei dem schwachen Scheine der Laterne, welche bei dem starken Stampfen und Schlingern des Schiffes hin und her schwankte, einen Revolver in seinen Händen. „Sie wollen doch nicht? Um Gottes Willen, was soll das bedeuten?“ war meine hastige Anrede.

„Seien Sie ruhig,“ erwiderte er. „Sie verstehen nicht, was ich damit will. Dieser Revolver gehört dem Capitain, und ich schlich, um ihn ja nicht aus dem Schlafe zu erwecken, in Strümpfen vor sein Bett, um mich der Waffe zu bemächtigen. Sie wissen nicht, welche übertriebene Ideen er von Subordination hat, und es steht zu fürchten, daß er, wenn es zu dem Aeußersten komm’, auf uns schießen wird, um Gehorsam zu erzwingen. Es handelt sich nun darum, den Revolver unschädlich zu machen. Sie sehen“ – dabei zeigte er mir die sechs Mündungen der Waffe – „er ist scharf geladen, und die Zündhütchen sind erst frisch aufgesetzt. Ich will ihn aber so zurichten, daß der Capitain keinen Schaden damit anrichten kann und daß er nichts davon merkt. Sollte er also auf den Doctor, Wilson oder mich abdrücken, so brauchen Sie keine Sorge zu haben; jedenfalls müssen Sie dann aber bezeugen, daß er den Versuch der Tödtung machte. Auch werden Sie gut thun, die eingeweihten Passagiere von der Unschädlichkeit der Waffe zu unterrichten.“

Nach diesen Worten zog Dammann sorgfältig die sechs Kugeln aus den Läufen und schüttelte das Pulver vorsichtig bis auf das letzte Korn aus. Dann rammte er jene wieder an ihren alten Platz, so daß Niemand bemerken konnte, was mit der Waffe vorgegangen war. Hierauf schlich er sich leise die Treppe nach der Kajüte hinunter, um den Revolver wieder über des Capitains Kopfe aufzuhängen, und erschien einige Minuten später wieder mit der Nachricht, daß Alles in Ordnung sei.

Es war ungefähr fünf Uhr Morgens, kurz vor dem Grauen des Tages, als die Wache vorn ausrief: „Licht in Sicht! gerade vor uns!“

„Das muß Bishops Rock sein!“ rief der erste Officier, indem er nach der Back eilte, „es verschwindet schon; in ein paar Minuten werden wir es wieder sehen.“

Wirklich erschien das Licht bald wieder, ein Beweis, daß der Leuchtthurm, den wir vor uns hatten, ein Drehfeuer enthielt. Aus dem Umstande, daß der glühende Schein ziemlich hoch über dem Horizont stand, ging hervor, daß der Dampfer jener gefährlichen Reihe von Riffen, welche die Scilly-Inseln im Westen wie ein Bollwerk gegen den Andrang des Oceans schützen, schon ziemlich nahe gekommen sein mußte. Aus diesem Grunde rief Wilson durch das Sprachrohr in den Maschinenraum hinunter: „slow!“ (langsam), während Dammann zu den Leuten am Steuer eilte und ihnen befahl, das Schiff nach Südost zum Süden herumzulegen. Der mächtige Dampfer schwenkte nun langsam nach rechts um, und die starke See, welche früher gegen uns stand, drückte denselben fast auf die Seite. Die veränderte Bewegung mußte nothwendiger Weise den Capitain wecken, und so war es auch. Schon unten in seinem Bett mochte er an dem Compaß, der über seinem Kopfe hing, gesehen haben, daß wir einen andern Curs, als den vorgeschriebenen, steuerten, denn schon auf der Treppe, ehe er nur das Deck betrat, brach er in die heftigen Worte aus: „Gott verdamme mich! Wer hat die Wache? Ist der Kerl nicht recht bei Sinnen, den Curs abzuändern!“ Wilson trat vor und machte die Meldung, daß das Feuer von Bishops Rock in Sicht sei, deshalb habe er nach Süden umlegen lassen. „Ach was,“ schrie der Capitain, „Sie haben nichts zu thun, als meine Befehle aufzuführen, und die Leute da unten in dem Maschinenraume soll der Teufel holen, wenn sie nicht gleich ordentlich auffeuern. Mit voller Dampfkraft!“ rief er mit donnernder Stimme dem diensthabenden Ingenieur hinunter, eilte dann nach dem Ruder und befahl dem alten erfahrenen Matrosen am Steuer, den alten Curs wieder einzuhalten. Während dieser Auftritte war es allmählich Tag geworden, und das Licht auf dem Leuchtthurm erlosch nach und nach bei der zunehmenden Helle. Der erste und zweite Officier standen vorn an dem Bollwerk der Back in eifrigem Gespräch mit dem Doctor, von Zeit zu Zeit mit dem Fernrohr nach vorn auslugend, da sie von der drohenden Nähe des Landes überzeugt waren. Wir Passagiere, welche die rauhe Nacht mit so unangenehmen Eindrücken durchwacht hatten, befanden uns auf dem Promenadedeck, wo der Capitain mit seinem Sprachrohr unter dem Arme auf und ab schritt, heftige Worte in sich hinein murmelnd. Ich beobachtete ihn genau und konnte außer einem krankhaften Zucken der Lippen und einem rastlosen Zwinkern mit den Augenlidern nichts an ihm entdecken, was einer Geistesstörung ähnlich sah, und diese Symptome konnte man ja auf Rechnung seiner gestrigen Trunkenheit setzen. Doch war sein Benehmen offenbar das eines Unsinnigen, indem er bei dem nebligen Wetter, wo man fast keine Meile vor sich sehen konnte, den Dampfer mit voller Schnelligkeit, zwölf Meilen die Stunde, fahren ließ und das noch dazu in einer Richtung, welche uns nothwendiger Weise in kurzer Zeit zwischen die gefährlichsten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 394. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_394.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)