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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Riffe bringen mußte. Jetzt nahte sich Dammann dem Capitain und machte die Bemerkung, ob es nicht besser sei, die Schnelligkeit des Dampfers auf drei Meilen zu reduciren oder ganz beizulegen, bis sich der Nebel vor uns verzogen habe.

„Verdammt will ich sein, wenn ich das thue; scheren Sie sich an Ihre Arbeit!“ war die brüske Antwort.

Einige Minuten später erschien Wilson mit demselben Vorschlage und wurde ebenso barsch abgefertigt. Beide Männer gingen nun nach vorn und conferirten wieder mit dem Doctor, der von seinem Standpunkte aus den letzten Vorschlag zur Güte machen sollte.

„Capitain,“ sagte er, „Sie sind nicht wohl und sollten lieber wieder nach unten gehen und sich zu Bett legen; die scharfe Morgenluft bekommt Ihnen nicht.“

„Was? Ich nicht wohl?“ sagte der Angeredete, indem er dem ruhig forschenden Blick des Arztes auszuweichen suchte, „ich glaube, Sie sind selbst nicht recht bei Sinnen. Niemals in meinem Leben befand ich mich besser. Machen Sie, daß Sie fortkommen!“

„Und ich sage Ihnen,“ sagte der Doctor mit Festigkeit, einen besorgten Blick nach vorn werfend, wo sich die Nebelbank zu verziehen im Begriff war, „Sie sind nicht in einem Zustande, das Commando über dieses Schiff noch länger zu führen. Wissen Sie, daß Sie durch Ihre Tollheit das Leben von dreihundert Menschen auf das Spiel setzen? Wissen Sie ...“

Hier wurde der Arzt durch das Geschrei der Wache auf der Back und des Mannes oben in den Wanten des Fockmastes unterbrochen, die fast gleichzeitig ausriefen: „Brandung vor uns! Brandung im Luv!“ Alles lief durcheinander, und die Verwirrung, welche durch die im Nachtanzuge auf das Deck stürzenden Passagiere noch vermehrt wurde, drohte einen Augenblick verderblich zu werden, doch die Geistesgegenwart der Officiere ließ nichts zu wünschen übrig. Wilson sprang nach der Maschinentreppe und rief mit donnernder Stimme hinunter. „stop!“ und im nächsten Augenblicke – der Ingenieur hatte offenbar auf diesen Befehl gewartet – entflogen dicke Wolken weißen Dampfes aus der Ventilröhre, während das Schiff noch einige Augenblicke vorwärts schoß und dann im Trog der See heftig zu rollen begann. Dammann war unterdessen in das Steuerhaus geeilt und hatte sich des Ruders bemächtigt, den Moment erwartend, wann die Maschine wieder arbeiten würde. Unsere Lage war in der That höchst gefährlich. Der Leuchtthurm auf seinem von den hohen Wellen gepeitschten Felsen lag keine dreihundert Schritt entfernt vor uns, und wir konnten deutlich sehen, wie die Leute oben auf der Gallerie eilig hin und her stürzten. Zu beiden Seiten der schwarzen Klippe lief eine sichelförmige Reihe von dunklen Riffen aus, über welche sich die rauhe See mit großer Gewalt brach, so daß wir gewissermaßen in einem Halbkreise von Verderben steckten. Als Wilson nun den Befehl gab, die Maschine rückwärts arbeiten zu lassen, donnerte der Capitain, der in dem ersten Augenblicke der Verwirrung ganz unbeachtet geblieben war, dem unten beschäftigten Ingenieur durch sein Sprachrohr zu, nicht zu gehorchen, sondern im Gegentheil mit aller Gewalt vorwärts zu fahren.

„Ich werde thun, was meine Pflicht ist,“ ertönte als Antwort, und der Dampfer bewegte sich langsam zurück. Jetzt stürzte der Wüthende nach dem Steuerhause, um Hand an Dammann zu legen, hier fand er aber die Thür verriegelt.

„Dick, meinen Revolver!“ rief er nun, „ich will Euch zeigen, wie man Meuterei bestraft. Alle Hände auf Deck!“

Die Feuerleute und Matrosen, welche nicht im Dienst und nicht auf Wache gewesen waren und daher von dem bis dahin Vorgefallenen nichts wissen konnten, eilten nun aus ihren Kojen herauf und machten, da sie an blinde Subordination gewöhnt waren, Miene, dem tobenden Capitain beizustehen; indessen, da sie sofort die gefährliche Lage des Schiffes erkannten, und außerdem Wilson und Dammann in hoher Achtung bei ihnen standen, besannen sie sich bald eines Besseren und nahmen eine ziemlich neutrale Haltung an. Wie der Doctor gesagt hatte, daß Methode in des Capitains Wahnsinn sei, so verhielt es sich auch, denn als Dick mit der verlangten Waffe ankam, entriß er ihm diese zwar schnell, doch unterwarf er dieselbe, ehe er sich zum Feuern anschickte, einer eiligen, aber scharfen Inspektion. Als er sich überzeugt hatte, daß Kugeln und Percussionshütchen am richtigen Platze waren, machte er Anstalt, in den Maschinenraum zu steigen, fand aber die Thür barricadirt. Außer sich vor Wuth lief er dann nach dem Steuerhause, wo Dammann am Rade stehend den Augenblick erwartete, den Dampfer nach Süden umlenken zu können.

„Ich frage Sie nun, Mate, wollen Sie das Ruder abgeben und herauskommen oder nicht?“ rief der Capitain mit heiserer Stimme, den Hahn des Revolvers spannend.

Dammann lächelte still in sich hinein, antwortete aber nicht und verfolgte mit seinen Augen die immer mehr in der Ferne schwindenden Umrisse des Riffes. Mit den Zähnen knirschend orderte der Rasende nun die umstehenden Matrosen auf, sich des Mates zu bemächtigen und denselben in Eisen zu legen; Niemand aber rührte sich, da die Kunde von des Capitains Geisteskrankheit sich mit Blitzesschnelle auf dem ganzen Schiff verbreitet hatte, selbst Dick, der treue Dick, welcher aus Dankbarkeit wie ein Hund an seinem Herrn hing, wußte nur die Hände zu ringen. Jetzt näherte sich Wilson mit dem Doctor, um der traurigen Scene ein Ende zu bereiten, und als Letzterer Miene machte, den Tobenden durch sanfte Worte zu beruhigen, drückte dieser seine Waffe auf ihn ab. Der Schuß versagte begreiflicher Weise, ebenso die andern fünf Läufe, die in rascher Folge an die Reihe kamen, und dem bestürzten Wahnsinnigen blieb weiter nichts übrig, als seinem vermeintlichen Feinde den Revolver in das Gesicht zu schleudern. Man warf sich nun von allen Seiten auf den Capitain und band ihn trotz seines Tobens und Widerstrebens an Händen und Füßen, so daß es möglich wurde, ihn ohne weitern Aufwand von Gewalt auf sein Bett zu schaffen, wo der Doctor zwei handfeste und verständige Leute als Wache bei ihm ließ. Dann wurde unter dem Vorsitz von Wilson, während der Dampfer unter Dammann’s kundiger Leitung in sicheres Fahrwasser gebracht wurde, ein Protokoll aufgenommen, welches den ganzen Vorgang constatirte und von sämmtlichen Schiffsofficieren und den Passagieren erster Classe unterzeichnet wurde. Einige Stunden später steuerten wir wieder den richtigen Curs und Nachmittags hatten wir schon die Freude, die beiden bekannten Leuchtthürme von Cap Lizard, welche von ihrer felsigen Höhe die nach Europa Zurückkehrenden so freundlich grüßen, zu erblicken, für uns ein doppelt angenehmer Anblick, da wir soeben einer schrecklichen Katastrophe entronnen waren. –

Andern Tages waren wir in Cowes, auf der Insel Wight, wo die Post abgegeben wird, und die Passagiere für Southampton und Havre aussteigen. Wie das bei solchen Fällen Gebrauch ist, zogen wir die Notflagge auf, und der dortige amerikanische Consul kam dann auf dieses Zeichen mit einigen Beamten an Bord, um über den traurigen Vorfall eine Untersuchung anzustellen, zu der denn auch einige Aerzte vom Lande als Fachkundige gezogen wurden, welche dann auch das Urtheil des Doctors vollständig endossiren konnten, weil der Zustand des Capitains wahrscheinlich in Folge des letzten Auftritts in vollständige Raserei übergegangen war. Daß der Consul hierbei mit der größten Gründlichkeit zu Werke ging, war ihm nicht zu verdenken, da kein Verbrechen auf der See strenger bestraft wird, als Meuterei. Ein Schiff mit seiner Mannschaft bildet gewissermaßen einen kleinen monarchischen Staat, dessen absoluter Herrscher der Capitain ist, welcher dafür aber auch alle Verantwortlichkeit tragen muß. Es müssen daher auch sehr gewichtige Gründe vorliegen, um diesem den Gehorsam aufzusagen und dessen Person unschädlich zu machen. Wenn aber ein solcher durch geistige Unzurechnungsfähigkeit oder durch boshafte Tollwuth planmäßig das Schiff und die Existenz Aller an Bord dem Verderben weihen will, dann hat auch die Mannschaft das formelle und moralische Recht, sich zu empören und den Capitain des Commandos zu entsetzen. Nach diesen unbestreitbaren Grundsätzen, welche auch in jedem vernünftigen Staatsrecht zu finden sind, urtheilte auch der Consul, indem er das Benehmen der Schiffsofficiere, die fast den letzten entscheidenden Moment abwarteten, ehe sie Gewalt anwandten, unbedingt rechtfertigte und Wilson als erstem Mate den Befehl übertrug. Der Capitain wurde in ein Privatirrenhaus bei Southampton gebracht, wo er so lange bleiben sollte, bis seine Verwandten in Amerika nähere Bestimmungen über ihn treffen würden. Dick, der treue Diener, blieb zu seiner Pflege zurück, und der stolze Dampfer, der eben noch einem fast sicheren Verderben entronnen war, setzte, majestätisch die Wellen durchpflügend, seine Reise nach der grünen Nordsee fort, wo ihn kundige Lootsen vor der blonden Weser erwarteten.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 395. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_395.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)