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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

wir standen, nach einem weniger erleuchteten Flecke neben dem Pförtchen. Es war eine Laube da. Eine einzige Lampe erleuchtete sie. Zu einer Ecke der Laube saß eine ältliche Frau allein. Wir hatten sie bisher nicht bemerkt. Sie war blaß, fast so bleich wie das Mädchen, und in dem abgehärmten Gesichte zeigte sich Schmerz, Sorge, Unruhe, Angst. Das Mädchen trat in die Laube .und warf sich in die Arme der blassen, von Schmerz und Angst verzehrten Frau.

„Mutter, ich sterbe!“

Die Angeredete zitterte heftig. „Möchte ich mit Dir sterben können, mein Kind!“ schluchzte sie.

Dann preßte die Mutter krampfhaft die Tochter an sich. Beide weinten. Hinter ihnen rauschte die lustige Tanzmusik, tanzten und sprangen die fröhlichen Paare, lachte, scherzte und jubilirte Alles.

Aus dem Haufen der Jubilirenden kam wieder Jemand hervor. Es war diesmal ein noch junger Mann, vielleicht im Anfange der dreißiger Jahre, von hohem, kräftigem Körperbau, von stolzer, vornehmer Haltung. Das aristokratisch geschnittene Gesicht war wettergebräunt, dunkelglühende Augen brannten unheimlich darin. Eine sonderbare Unruhe ergriff mich plötzlich bei dem Anblicke des jungen Mannes.

„Mein Gott, den habe ich irgendwo gesehen!“ mußte ich meinem Freunde zurufen.

„Still, still,“ ermahnte der Steuerrath mit seinem leisesten Flüstern. „Er könnte uns hören, er hat Augen, von denen man glauben sollte, er könne die Nacht damit durchbohren.“

Ich schwieg. Der Steuerrath hatte Recht. Der Mann war stehen geblieben, als er sich dem Haufen entwunden hatte. Er sah sich nach allen Seiten um, als suchte er etwas. Seine Augen fielen auch in die Richtung, in der wir standen. Sie bohrten sich brennend, leuchtend in die Finsterniß hinein, die uns hinter dem Pförtchen und den Zweigen und Blättern der Nußstaude barg. Sie schienen mit ihrem Glühen und Leuchten die Finsterniß zu durchbohren, zu erhellen. Dieser Blick war es, der jene plötzliche Unruhe, der eine etwas beängstigende, aber völlig unbestimmte Erinnerung in mir geweckt hatte, eine um so beängstigendere, je unbestimmter sie war.

„Um des Himmels willen, wo habe ich den Menschen gesehen?“ mußte ich mich selbst fragen, da ich den Freund nicht mehr fragen durfte. Eine Antwort hatte ich nicht. Die Blicke des Mannes hatten sich von dem Pförtchen, hinter dem wir standen, nach der Laube neben dem Pförtchen gewandt. Auch hier hafteten sie fest. Ihr Inneres schien er wirklich durchbohrt zu haben. Er schritt mit raschen Schlitten auf sie zu. Im Eingange blieb er stehen, die Mutter und die Tochter hatten ihn nicht bemerkt. Sie hielten sich noch umfangen und weinten noch still. Sie hatten sich in der einsamen Laube wohl sicher gefühlt.

Der Mann schaute finster auf die weinenden Frauen. Er stand kaum fünf Schritte von uns, und das Licht der Lampe in der Laube fiel voll auf sein Gesicht. Das war ein stolzes, herrisches, hartes Gesicht. Und wie verzehrend und vernichtend blickten die dunklen, glühenden Augen! Er stand so dicht vor mir, daß ich jeden Zug des Gesichts erkannte, aber den Menschen erkannte ich nicht wieder. Er schritt in die Laube hinein, nach Mutter und Tochter hin.

„Ah, hier?“ sagte er.

Nur die zwei Worte sprach er, aber finster, hart, herrisch, feindlich. Der ganze Charakter des Mannes sprach aus dem Tone der zwei Worte. Hätte ich ihn noch nicht gesehen gehabt, aus diesem Tone hätte ich mir den Mann zusammensetzen müssen, mit seiner Gestalt, mit seinem Gesichte. Die Stimme war mir fremd, ich hatte sie noch nie gehört. Mutter und Tochter waren auseinander gefahren, die Tochter war aufgesprungen. Er nahte sich ihr, und ich glaubte sie zittern zu sehen.

„Darf ich bitten?“ sagte er zu ihr.

Er bot ihr seinen Arm. Sie legte ihren zitternden Arm hinein. Er sah sie darauf an.

„Ah! und auch Thränen? An ihrem Polterabend darf die Braut ihren Gästen keine Thränen zeigen.“

Ja, sie feierten einen Polterabend, und das hochaufgeputzte junge, schöne, blasse und zitternde und weinende Mädchen war die Braut. Und der hohe, stolze, vornehme, harte, herrische, finstere Mann war der Bräutigam? Er hatte die Worte wieder so hart und herrisch und befehlend gesprochen. Das Mädchen trocknete hastig ihre Thränen.

„Hast Du nicht auch ein Lächeln?“ fragte er, und seine Frage war wieder ein harter, strenger Befehl.

Aber ein Lächeln hatte die Arme nicht. Sie wollte es erzwingen, aber sie vermochte es nicht.

„Zwinge Dich!“ sagte er dennoch zu ihr.

So führte er sie aus der Laube. Sie wollte noch einen Blick auf die Mutter werfen, aber sie wagte es nicht, an der Seite und unter den Blicken des finsteren und befehlenden Mannes, der mit der Frau kein Wort gesprochen, sie nicht einmal angesehen hatte. Er führte sie zu dem Haufen der jubelnden Gäste zurück, und die Gäste jubelten lauter bei dem Erscheinen der Beiden, stießen mit den klirrenden Gläsern an und riefen, daß es weit durch den Garten und durch die dichte Taxushecke in den dunklen Wald hineinschallte: „Hoch lebe das Brautpaar! Hoch und hoch und hoch!“

Und die Gläser erklirrten von Neuem, und die Musik spielte einen rauschenden Tusch, der all das Rufen und Gläserkirren und Jubeln übertönte. Ob da die blasse Braut das Lächeln gefunden hatte, das sie in der Laube nicht hatte erzwingen können? Die Mutter in der Laube saß noch still, mit verhülltem Gesicht, da. Sie weinte wohl noch immer. Mein Freund und ich durften wieder mit einander sprechen.

„Du hast den Menschen schon früher gesehen?“ fragte er mich.

„Ich weiß es nicht.“

„Du sagtest es!“

„Ich meinte es im ersten Augenblicke, da er dort aus der Menge heraustrat. Aber ich besinne mich seitdem vergeblich auf ihn, und seine Stimme war mir völlig unbekannt. Ich mußte mich geirrt haben.“

„Du bist seit vielen Jahren Criminalrichter, vielleicht aus Deiner Amtspraxis? Du kommst mit so vielen Leuten in Berührung, an so manchen Orten.“

„Als Criminalrichter sollte ich ihn gesehen haben, meinst Du?“

„Warum nicht? Hat er mit allem seinem stolzen, vornehmen Wesen nicht auch auf Dich einen unheimlichen Eindruck gemacht?“

„Ich kann es nicht leugnen, und ich muß Dir auch zugeben, der erste Eindruck, den ein Mensch auf mich gemacht hat, hat sich mir nachher noch immer als der richtige bewährt.“

„So lassen wir den Menschen nicht aus den Augen,“ sagte mein Freund.

„Aber welche entsetzliche Verhältnisse sind das hier!“ mußte ich ihm noch bemerken.

„Gerade darum! Indeß sehen wir jetzt zu der Gesellschaft!“

„Ich bin bereit.“

„Wir müssen zu unserem Wagen zurück. Nur in ihm dürfen wir anlangen und müssen vorn am Hause vorfahren.“

Wir verließen unsern heimlichen Platz hinter der Haselnußstaude neben dem kleinen Gitterpförtchen und kehrten in das Wäldchen zurück, durch das wir gekommen waren. Hinter uns spielte lustig die Tanzmusik, klirrten fröhlich die Gläser, rief und jubelte man Hoch und Hurrah! Mir traten aus dem Dunkel nur die Bilder der bleichen, zitternden Braut und ihrer still weinenden blassen Mutter hervor, und des finstern, harten, vornehmen Bräutigams. Wir gingen still. Der Steuerrath ging voraus. Auf einmal blieb er stehen. Wir hatten kaum dreißig bis vierzig Schritte zurückgelegt.

„Da nahet sich Jemand,“ flüsterte er mir zu.

Wir standen Beide und horchten. Aus der Mitte des Waldes her näherte sich ein Schritt. Wir gingen in einem schmalen Pfade; in demselben schien der Schein heranzukommen.

„Er darf uns nicht begegnen,“ sagte mein Freund. „Gehen wir aus die Seite.“

Wir gingen leise auf die Seite und verbargen uns hinter einer Fichte. Der Schritt kam näher. Ein einzelner Mensch ging vorüber. Er ging schnell, sicher; er mußte den Weg kennen. Zehn Schritte von uns, als er vorüber war, blieb er stehen. Er war nicht weit von der Taxushecke, von dem Pförtchen, an dem wir gestanden hatten. Er stand vielleicht eine Minute; dann setzte er seinen Weg fort, nach dem Pförtchen hin; aber er ging langsam, leise, vorsichtig.

„Was mag der hier vorhaben?“ sagte der Steuerrath.

„Du kennst ihn?“ fragte ich.

„Es ist der Inspector Holm.“

„Ah, von dem Du mir erzähltest?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 418. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_418.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2017)