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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

mit ihrem enormen Victualienreichthum jene Höhle darstellen, in welcher die halbentblößte, bedauernswerte Genovefa sich von Wurzeln und wilden Beeren nährte, und ihr in der Verbannung geborenes Knäblein an die Brüste einer Hirschkuh legte. Das widerstritt der unverdorbenen Logik der Abtwyler Bauern. Aber ein schlauer Theaterdirector weiß sich zu helfen; so auch der Impressario von Abtwyl.

Dicht neben der Bühne stand ein prächtiger, zu hoher Laubkuppel sich wölbender Nußbaum, dessen Hauptäste so günstig gewachsen waren, daß sie, unmittelbar über dem Stammende ausbauchend, natürlichen Raum zu einer Tribüne boten, ähnlich so, wie man es in Mitteldeutschland oft bei den Dorflinden trifft, in deren Blätterlaub die Musikanten Sonntags ihr Orchester aufschlagen, während das junge harmlose Volk um die Linde tanzt.

Auf besagtem Nußbaum war ebenfalls vom Zimmermann ein Diminutiv-Bühnchen errichtet, und von der Hauptbühne führte eine Treppe dahinauf.

Das war der schwarze, finstere Wald. Hierher wurde Genovefa nach ihrer Verstoßung geschleppt, hier flehte sie, Angesichts der im Auditorium sitzenden Zuschauer, um ihr Leben, hier erweichte sie die Herzen der zum Morde gedungenen Knechte, und hier wurde das wilde Thier des Waldes getödtet und in sein Blut Genovefens Gewand getaucht, um es dem Grafen zu überbringen.

Bis hierher war der Verlauf der Komödie schon sehr originell; aber es sollte noch besser kommen. Ich hatte mir, durch Spendung einiger Maß Wein, die Erlaubniß bei den Herren Bühnen-Comitirten erwirkt, auch hinter den Coulissen herumsteigen zu dürfen, und da war ich denn Zeuge höchst naiver Momente.

Man hörte ein Trompetensignal. „Siehe zu, warum der Burgwart das Horn bläst!“ herrschte Siegfried einem seiner Diener zu. Dieser verließ die Bühne und stieg hinter der Leinwand, welche die Schloßhallen bildete, auf den Rasen hinter der Bühne hinab. Hier war ein berittener Knappe angelangt, mit einem mächtig großen Briefe in der Hand. Daß er wirklich seinem Gaul wacker zugesetzt haben mußte, ging daraus hervor, daß derselbe dampfte.

„Wer bist Du? was bringst Du?“ war die ernsthafte Anrede des von Graf Siegfried abgesandten Dieners, hinter der Bühne.

„Ich komme als Bote meines gestrengen Ritters N. N.,“ entgegnete der Reiter, „und bringe Deinem Herrn diesen Absagebrief.“

„Wohl! ich will ihn übergeben; gehe hinab in’s Gesindezimmer und nimm einen Imbiß zu Dir!“ – Diese ganze Verhandlung wurde, wie gesagt, hinter der Scene völlig ernsthaft gepflogen, so daß die auf den Bänken des Auditoriums sitzenden Zuschauer weder vom dampfenden Gaul, noch vom briefüberbringenden Knappen etwas sahen, noch das Zwiegespräch selbst mit anhörten. Graf Siegfried und das Publicum warteten ruhig in dazwischen entstehender Pause, was der Hornruf zu bedeuten gehabt haben möge. Aehnliche Scenen kamen noch mehre vor, die den Urzustand des Begriffes von dramatischer Darstellung documentirten. Aber das war all noch nicht das Beste; es kam noch origineller.

Graf Siegfried hatte (immer zwischendurch einmal nach alter, deutscher Rittersitte dem Weinhumpen zusprechend) die Fehde seines Nachbars angenommen und rüstete zum Streite.

„Jetzt, Ihr lieben Leute, wenn Ihr etwas sehen wollt, so müßt Ihr mit in’s Feld ziehen,“ hieß es; denn es widerstrebte der „Einheit des Ortes“, daß auf der gleichen Bühne auch das Schlachtfeld sein sollte. Und siehe da! Jung und Alt, Groß und Klein brach auf, verließ den improvisirten Musentempel und folgte keuchend und springend, in hell aufgelöstem Haufen der stattlichen Reiterschaar Siegfried’s, welche in frischem Trabe einem etwa ½ Stündchen vom Dorfe entfernt liegenden Wäldchen zusprengte. Hier angekommen, hielt der Graf Waffenschau über seine Leute, redete ihnen zu, sich wie die Teufel zu wehren, es koste ja im höchsten Falle nur das Leben, also nicht einmal das Vermögen, und – darauf ging die Paukerei los.

Aus dem Dickicht brach nämlich der feindliche Haufen des absagenden Ritters N. N. hervor, und zwar mit solcher Wuth, daß es Verwundungen absetzte und an manchen Kleidern die Fetzen herunterhingen. Auch hier ergriff des mitgelaufene Publicum Partei und half den Ausschlag geben.

Die Ueberwundenen wurden gebunden oder gefesselt, und im Siegeszuge ging es Graf Siegfried’s Burg, d. h. dem Theater wieder zu.

Nachdem Alle, die Schauspieler auf der Bühne, die Zuschauer auf dem Auditorium, sich durch einen herzhaften Schluck abermals gestärkt und Platz genommen hatten, ging die dramatische Vorstellung wieder vor sich.

Jetzt erfuhr Graf Siegfried die schlechten Machinationen seines Rathgebers Golo; er vernahm, daß die edel- und tugendreiche Genovefa noch lebe, draußen im Walde in einer Höhle verborgen; er ging in sich, bereute, faßte Entschlüsse, strafte, und – nun ging das Stück seiner schönsten und originellsten Scene, aber mit ihr auch dem Ende zu. Abermals wurden die Gäule vorgeführt, abermals verließen die ungemein heiter gestimmten städtischen und ländlichen Zuschauer ihre Spersitze, und abermals schaarten sie sich in langem Zuge hinaus, diesmal aber einer anderen Weltgegend zu.

An der Straße nach St. Gallen, seitwärts derselben, ist der graue Molasse-Sandstein bloßgelegt, und in demselben befindet sich ein niedriges, kaum 3 Fuß hohes Loch, wie ein Fuchsbau. Das war Genovefens Asyl, die ärmliche Heimath, in welcher der junge Graf das Licht der Welt erblickt hatte.

Vor diesem eine Höhle darstellen sollenden Fuchsloch hielt der Zug an.

Graf Siegfried im sammtenen Mantel, mit hohen Reiterstiefeln über den durch den Kampf im vorerwähnten Hölzli ziemlich unschimmer gewordenen Tricot-Beinkleidern, stieg vom Gaul, ging zum Fuchsloch und zog die nur mit den äußerst nothwendigsten Kleidungsstücken bedeckte Genovefa, so wie den einfach im Hemdli sich präsentirenden Sprößling seines erlauchten Stammes aus der dunkeln „Unterirdischkeit“ hervor; eine schöne weiße Ziege, Repräsentant der legendischen Hirschkuh, kam ebenfalls meckernd hervorgekrochen.

Stürmischer Jubel! nicht zu Ende kommender Applaus! Große Umarmung des Grafen und der wieder in bürgerliche, resp. gräfliche Ehren und Rechte eingesetzten Gattin, – Tusch der Bataillons-Feldmusik und ähnliche Ausbrüche des Entzückens.

„Seid umschlungen, Millionen,
Diesen Kuß der ganzen Welt!“ etc.

Nachdem der erste Taumel der Freude vorüber war und Signora Genovefa mehr als einem Dutzend fröhlicher Zuschauer, die aus mitgebrachter Flasche das Glas füllten und der Heldin des Stücks kredenzten, Bescheid gethan hatte, hob sie Graf Siegfried auf seinen Gaul und das halb nackte Bübli dazu, hielt nun noch eine kräftige Pauke an’s Volk mit der Schlußmoral, daß das Gute stets triumphiren und das Böse unterliegen werde, und schloß mit dem patriotischen Rufe: „D’ Schwyz soll leben, hoch!“ „Hoch! hoch! und dreimal hoch!“ stürmte es begeistert aus der Menge empor.

Die Tamboure (denn Militair in Landsturm-Uniform war mitgezogen, – der Anachronism der Garderobe genirte nicht), die Trommler rührten das Kalbfell, die Feldmusik schmetterte freudig einen Defilirmarsch über die schwellenden Felder hin, daß es droben an den Felsenwänden des alten Säntis wiederhallte, und im freudigsten Jubel zogen Volk und Künstler in’s Wirthshaus, wo eine große allgemeine Schlußscene bis tief in die Nacht hinein abgespielt wurde. – Das ist urwüchsiges Volksleben! Wer macht’s nach?




Eine Erinnerung an Georg Stephenson.
Von M. M. v. Weber.

Vertrauen besitzen ist immer eine Annehmlichkeit, aber Nichts weniger als immer eine Ehre. „Nichts, nächst dem Glücke,“ ruft schon la Rochefoucauld aus, „wird auf der Welt ungerechter vertheilt als das Vertrauen! Der Knabe, der mit verbundenen Augen in die Lottourne greift, vertheilt die Gewinne nicht weniger gerecht als Völker, Fürsten, Behörden und Freunde ihr Vertrauen spenden.“

Wie der Ruf, guter und böser, sich spontan erzeugt (wie etwa Infusorien und Moose aus einem Nichts, das die Luft willkürlich da und dorthin trägt, entstehen), ohne daß Handlungen und Gesinnungen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 425. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_425.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)