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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

von Menschen in wilden Reigentänzen sich bewegen. Nicht etwa ein wirkliches Gift, nein, das Mitansehen der tollen Tänze, das Mitanhören der lockenden Töne, der geheime Schauer, welcher die Idee der Vergiftung, der Ausscheidung des Giftes durch die Musik, durch Tanzen und Springen begleitete – alles das zusammen wirkte ansteckend von Einem zum Andern und vermehrte die Zahl der Taranteltänzer bis in’s Unglaubliche. So erstreckte sich die Epidemie bis in das 17. Jahrhundert, wo sie ihre größte Höhe erreichte. Alljährlich im Sommer durchzogen Schaaren von Spielleuten Italien, um die Heilung der Tarantati in Dörfern und Städten vorzunehmen. Da mit einem Male im 18. Jahrhundert erlosch der gespensterhafte Spuk, wie fortgeblasen von der Erde, und die arme Tarantel erfreut sich seitdem wieder keines schlechtern Rufs, als dessen bei uns etwa Flöhe oder Wanzen genießen.

Ich würde mich einer Vernachlässigung gegen die Wissenschaft zeihen, wenn ich hier aus Zartgefühl eine Epidemie unberührt lassen würde, zu deren Opfern, wie ich mir zu vermuten erlaube, ein Theil der hochverehrten Anwesenden gerechnet werden darf. Im Jahre 1853 nämlich, zu einer Zeit, wo weder für religiöse noch für politische Dinge im Volke eine gehobene Stimmung vorhanden war, zu einer Zeit also, die ganz geeignet war mit wissenschaftlichem Humbug die matten Geister etwas anzuspornen, wurde von Amerika aus über Bremen eine Epidemie importirt, welche von dort aus bald ganz Deutschland in Bewegung setzte. Weiß der Himmel von welchem amerikanischen Spaßvogel der erste Anlaß gegeben wurde, es wurde behauptet, erst leise und ganz schüchtern, bald aber schrie man es auf allen Gassen als eine erwiesene Thatsache aus, daß man ein neues, ein kaum glaubliches Wunder entdeckt habe. Der Mensch, so hieß es, sei im Stande von der ihm innewohnenden Electricität dem todten Holze einen Theil abzulassen und es damit so weit zu beleben, daß es nicht nur selbstständige Promenaden unternehmen, nein, daß es auch zu allerhand ganz nützlichen und angenehmen Dingen, u. A. zum Wahrsagen, gebraucht werden könne. Von sämmtlichen Möbeln, die zu solchem Zwecke benutzt werden könnten, sei aber das befähigtste der ganz gemeine Tisch, dieses unentbehrliche Stück einer jeden Haushaltung. Um besagten Tisch setzten sich nun eine mehr oder weniger große Zahl von Personen, womöglich beiderlei Geschlechts, bildeten mit auf den Tisch gelegten Händen eine Kette und übten so lange einen sanften Druck auf die Hände und dadurch auf den geduldigen Tisch aus, bis dieser sich nicht mehr sicher auf seinen eigenen Beinen fühlte, bis er sich zu bewegen, zu rutschen begann.

Nun rief man Wunder über Wunder und man trennte sich voller Begeisterung, um neue Gläubige anzuwerben. Nicht lange währte es, und wohin man auch kam, in die Salons der Vornehmen, in die Stuben der Bürger, in die Hütten der Armen, überall drehten sich die Tische. Das Vergnügen war so billig, daß Jeder es mitmachen konnte. Schien es doch, als ob die alte, liebliche Fabel von dem „Tischchen, deck’ dich“ in veränderter Gestalt wieder aufgetaucht wäre, denn man konnte große Gesellschaften zu Tische einladen, ohne daß man nöthig hatte, vorher kochen und braten zu lassen. Und wie vorteilhaft unterschied sich diese Epidemie von dem wilden Drehen der Johannistänzer und Tarantati! Dieses trauliche Zusammenrücken um die häusliche Tischplatte, dieses leise Drücken, Drehen und Schieben, konnte allenfalls zarte Verbindungen stiften; das jähe Gespenst des Todes, wie es zuweilen die Tanzwuth des Mittelalters begleitete, ist den sanften Bewegungen der Tischrücker fern geblieben. Wohl suchten einige Gelehrte die wissenschaftliche Unmöglichkeit der Tischbewegung ohne mechanische Gewalt zu beweisen, aber wie einst Galilei unerschütterlich festhielt an der Bewegung der Erde, so rief man jetzt den Zunftgenossen jenes großen Physikers in Bezug auf die Tische ein allgemeines „Und sie bewegen sich doch“! entgegen. Es war ein glänzender Sieg der Majorität über die Autorität. Bald entzündete die Bewegung der Tische die Geister zu neuen Versuchen. Gab sich einmal jedes alte Stück Holz dazu her, sich elektro-menschlich begeistern zu lassen, warum, so schloß man ganz richtig, mußten es denn gerade Tische sein? Konnte man das nicht bequemer haben? So entstanden die sog. Psychographen, hölzerne Wahrsage-Instrumente, polirte Hausgötzen, die wie die Penaten bei den Griechen und Römern in schwierigen Fällen zu Rathe gezogen wurden. Sie bestimmten das Wetter, ordneten Landpartien an, schlossen sogar Ehen und kümmerten sich überhaupt um Alles, was in der Familie und in der Wirtschaft vorging. Manchmal waren sie verstimmt und antworteten

nicht; dann wurde nachgeforscht, womit man den Hausgeist beleidigt haben könnte, und man ruhte nicht eher, als bis man ihn wieder versöhnt hatte. Sie waren ein größeres Naturwunder als der Esel des Bileam, denn sie sprachen häufig mehrere Sprachen und saugten nicht selten den einfältigsten Menschen geistreiche, ja selbst poetische, wenn auch zuweilen unorthographische Gedanken aus den Fingerspitzen. Auf diesem Höhestadium brach sich indessen die Epidemie und ist gegenwärtig nur noch in leisen Nachklängen bemerkbar.

Aber ich kann mein Thema unmöglich verlassen, ohne wenigstens einen flüchtigen Seitenblick auf dasjenige Gebiet unseres Wissens zu werfen, dem ich am nächsten stehe. Die Heilkunde ist noch weit entfernt vom Wege zur Gewißheit; aber bis zu der Erkenntniß hat uns die Wissenschaft denn doch allmählich geführt, daß die Krankheiten viel eher vermieden als geheilt werden können, daß es überhaupt nur wenige Heilmittel giebt, und daß auch diese nur eine sehr beschränkte Wirksamkeit haben, im Verhältniß zu dem, was eine richtige Lebensordnung zu leisten vermag. Dem gegenüber ist aber die Lust am Leben und der Trieb nach Vollbesitz der Gesundheit unter der Menge der Menschen so unabweislich, daß zeitweise immer wieder Versuche auftauchen, die dunkle Sehnsucht nach einem Universalheilmittel zu befriedigen. Im Gegensatz zu aller wissenschaftlichen Erfahrung, zu Allem was die gesunde Vernunft einem Jeden sagen muß, wird immer von Neuem ein beliebiger indifferenter Stoff zu einem Wundermittel erhoben, und mit rasender Geschwindigkeit wächst die Menge der Gläubigen. Zeitungsannoncen verbreiten die Seuche; denn das Lesen von Heilungen giebt Vielen eine dunkle Empfindung, einen Vorgeschmack eigenen Wohlseins, und sie sind deshalb ein unentbehrliches Werkzeug in den Händen jener Gesundheits-Demagogen. Auch dadurch wird das Publicum nicht belehrt, daß diese Epidemien alle paar Jahre wechseln, daß das heute hochgepriesene Mittel nach einiger Zeit gar nicht mehr zu haben ist, und daß sich höchstens noch ein unbrauchbarer Rest davon in der Rumpelkammer irgend eines consequenten Gesundheits-Epidemikers auftreiben läßt. Einer dieser Menschheitsbeglücker schreitet immer über den Leichnam des andern, Goldberger verdrängt Morrison, Dubary wieder Goldberger, Petsch Dubary, Hoff wieder diesen, und so wird es weiter gehen. Auch die Epidemie Hoff scheint trotz aller Preismedaillen ihrem Schicksal zu verfallen. So vergeht der Ruhm der Welt, und man könnte sich kaum eines gewissen Mitleids gegen alle diese gefallenen Größen erwehren, wenn man nicht wüßte, daß sie sich vor ihrem Falle einen Nationalfonds begründet hätten, zu dem mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung die Fürsten und Völker Europas freigebig beigesteuert haben.

Die Geistesepidemien haben auch ihre humoristische Seite; sie sind unerschöpflich wie das menschliche Leben selbst, und ich bescheide mich gern in dem Mitgeteilten wenig mehr als dürftige Bruchstücke davon gegeben zu haben. Es genügt mir auf ein Feld hingewiesen zu haben, das einer weiteren Bearbeitung werth ist, und das sicherlich einen wichtigen Theil jener Zukunfts-Philosophie abgeben wird, die sich ganz allmählich unter den Händen der Naturforscher aufbaut. Auch hier wird die Naturwissenschaft ihr Loos zu erfüllen haben, indem sie einer zu idealen Auffassung unseres geistigen Lebens schonungslos entgegentritt. Sie wird zu zeigen haben, daß der Enthusiasmus ansteckend ist wie der Schnupfen, und daß, was wir Begeisterung nennen, im günstigsten Falle nichts weiter ist als eine liebenswürdige Schwäche. Und indem sie die Geschichtsforschung zu Rathe zieht, wird sie Hand in Hand mit dieser über die Bedeutung der Geistesepidemien für das Allgemeine ihr Urtheil zu sprechen haben. Irre ich nicht, so wird dieses dahin lauten, daß, wie der Sturm der Leidenschaft den Einzelnen zu einer freieren, kräftigeren Entfaltung seines Wesens anzuspornen vermag, so die Wogen der Geistesepidemie in den ruhigen Gang der Weltgeschichte das treibende Element bilden. Hier wie dort wird freilich häufig genug der Vortheil schnellerer Strömung dadurch aufgewogen, daß die Grenzen der Bewegung niemals gezogen werden können. Und wie die Leidenschaft dem Einzelnen über den Kopf zu wachsen pflegt, so haben auch jene großen geistigen Bewegungen nur zu leicht die Ziele bei weitem überschritten, die ihnen von ihren Urhebern gesteckt wurden. Diese sind vielmehr in der Regel Opfer geworden ihrer Vermessenheit, und so Mancher von ihnen hat einstimmen müssen in den Stoßseufzer jenes Zauberlehrlings:

„Herr, die Noth ist groß:
Die ich rief, die Geister
Werd´ ich nun nicht los.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 473. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_473.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)