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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

„Ah, ich soll Deinen Executor machen?“

„Ich wollte Dich bitten, nach dem Städtchen – zu reiten – ein Pferd wird man Dir hier schon geben, um Dich dort zu erkundigen, ob der Herr von Föhrenbach die Nacht vom Sonntag auf Montag im Gasthofe zugebracht hat. Bist Du bereit?“

„Ich reite sofort.“

„Die Nachricht bist Du so gütig, mir noch heute Nacht nach Miszlauken zu bringen.“

„Es soll geschehen. Aber Freund, was ist vorgefallen?“

„Du wirst es in Miszlauken erfahren. – Doch noch Eins. Warst Du bis jetzt bei der Familie Bertossa?“

„Ja.“

„Was machen sie?“

„Die beiden Menschen sprachen seit Deiner Entfernung kein einziges Wort.“

„Die Angst um den Sohn –“

„Es war auch noch eine andere Angst, eine größere. Ja, mein Freund, eine größere. Jenes Verbrechen – Auch die Frau muß darum wissen.“

„Und sie sind gebrochen, die beiden Menschen?“

„Völlig.“

„Und wenn ich jetzt zu ihnen träte, und zu dem Manne sagte: Herr, Sie sind der Mörder des Viehhändlers – ich würde von dem gebrochenen Manne ein Geständniß erhalten, meinst Du? Und die gebrochene Frau würde den eigenen Mann verrathen?“

„Mensch,“ fuhr mein Freund auf, „bist Du wahnsinnig oder ein Satan?“

„Ich bin ein Criminalrichter!“

Er ging in Angst neben mir auf und ab.

„Großer Gott, das ist ja ein entsetzlicher Polterabend! Und Du willst wirklich vor die armen Menschen hintreten?“

„Reite Du.“

„Ja, ja. Fort! Mich überläuft ein Grausen hier. O, mein Gott, wie oft habe ich Mühlen und Müller, und Schlachthäuser und Maischbütten verflucht! Aber ein Criminalrichter ist doch das elendeste Geschöpf!“

Er ging zu den Ställen, die an dem Gutshofe lagen, um sich ein Pferd zu holen.

Ich stand noch vor der Thür des Hauses, auf dem dunkeln Hofe, aber in dem Hause war Fenster an Fenster hell erleuchtet, und aus dem Garten ertönte die lustige Tanzmusik herüber. Ich wollte in das Haus zurückkehren, als sich über mir eins der hellerleuchteten Fenster öffnete, und durch dasselbe eine Stimme laut rief: „Luft! Luft! Ich ersticke!“

Es war die Stimme des Herrn Bertossa, des Barons von Grafenberg.

„Es ist vorbei,“ fuhr der unglückliche Mann fort. „Die Vergeltung naht! Die Strafe! Es ist ja Alles Eins.“

Eine schluchzende weibliche Stimme wurde neben ihm laut.

„Alfred, Alfred, fasse Muth!“ bat die unglückliche Frau des unglücklichen Mannes.

„Muth?“ entgegnete er, „Muth, wenn die Hölle uns aufnimmt?“

Die Frau weinte lauter. In dem Zimmer wurde eine Thür aufgerissen.

„Mutter, ich sterbe!“ rief herzzerreißend eine andere Stimme.

Ich hatte sie schon einmal gehört, wie sie dieselben Worte ausrief. Die Mutter antwortete dem Kinde nicht wieder: „Möchte ich mit Dir sterben können, mein Kind!“ Aber der Vater sagte mit der tonlosen Stimme seines gebrochenen Herzens: „Ja, sterben wir Alle!“ Mutter und Tochter weinten zusammen.

Aus dem Garten klang die Tanzmusik lauter und lustiger herüber. Jubelnde Stimmen und Gläserklirren mischten sich hinein. Auf einem kleinen Thurme des Hauses schlug die Glocke Mitternacht. Sollte ich zu den drei Menschen gehen? Die Unglücklichen konnten mir und ihrem Schicksale ja doch nicht entgehen. Ich kehrte in das Haus zurück, zu dem Zimmer, in dem ich den Herrn von Freising mit dem Gensd’armen zurückgelassen hatte.

„Folgen Sie mir mit dem Gefangenen,“ befahl ich dem Gensd’armen.

Im Gange stand der alte Kutscher Georg.

„Ich lasse mich Ihrer Herrschaft empfehlen,“ sagte ich ihm.

„Weiter habe ich nichts zu bestellen?“ fragte er.

„Sie können jetzt auch sagen, was Sie gesehen haben.“

Ich verließ mit dem Gefangenen und dem Gensd’armen das Haus. Das helle Fenster war noch geöffnet. Drinnen war es still. In dem Garten tanzten und jubilirten sie noch immer. Wir gingen zu dem Dorfkruge, um von da in dem Wagen des Steuerraths nach der russischen Grenze, nach Miszlauken, zurückzufahren.


Der Tag dämmerte, als wir in Miszlauken anlangten. Die Nacht war dunkel gewesen. Der Wagen, in dem wir fuhren, hatte kleine, trübe Glasfenster. So war die Gegend, in der wir fuhren, nicht zu erkennen gewesen. Dem Gefangenen hatte ich über das nächste Ziel unserer Reise nichts gesagt. Er konnte daher nur meinen, ich bringe ihn in die Gefängnisse des Crimmalgerichts. Er konnte also auch weiter nur an jenen, vor vier Jahren vorgefallenen Mord denken. Er hatte ruhig neben mir im Wagen gesessen der Gensd’arm ritt neben diesem. Er hatte kein Wort mit mir gesprochen, ich kein Wort mit ihm.

So kamen wir in Miszlauken an. Die erste Morgenröthe zeigte sich am Himmel, als der Kutscher an dem Kruge des Dorfes hielt und den Wagenschlag öffnete. Der Gefangene warf einen Blick durch das geöffnete Fenster. Er erkannte den Krug, er erkannte das Dorf und stutzte. Daun warf er unwillkürlich einen kurzen, fragenden Blick auf mich. Todesblässe bedeckte sein Gesicht. Miszlauken lag von der Mordstelle nur eine halbe Meile entfernt. Ich hatte mein gewagt begonnenes Spiel gewonnen.

„Steigen Sie aus,“ sagte ich zu ihm.

Die Kniee schlotterten ihm. Er war nicht im Stande, den Wagen zu verlassen.

„Gensd’arm, helfen Sie dem Gefangenen.“

Der Gensd’arm half ihm aussteigen, aber er mußte verwundert den starken, kräftigen Mann ansehen, der sich zitternd auf seinen Arm legte, und der, als er den Arm losließ, fast zusammenbrach.

Mein Spiel mußte bald gewonnen sein. Ist dem Menschen ohne moralische Kraft und ohne moralischen Muth einmal die physische Kraft und der physische Muth gebrochen, so geht es schnell ganz mit ihm zu Ende.

Holm wartete schon in dem Kruge mit dem Schmuggler Joes Lubatis auf mich. Ein Grenzkosak wartete, um mich zur Empfangnahme der Leiche über die Grenze zu führen. Der Gefangene hatte Beide nicht gesehen. Ich hatte ihn, unter Bedeckung des Gensd’armen, sofort in ein besonderes Gemach führen lassen. Ich vernahm dann zuerst den Schmuggler. Er wiederholte mir von Wort zu Wort, was er zu Holm gesagt hatte. Er hatte den „Herrn von Föhrenbach“ ganz genau erkannt.

Unterdeß war auch der Steuerrath angekommen. Er war scharf geritten. Föhrenbach – man kannte ihn ja nur noch unter dem Namen – hatte die Nacht vom Sonntag zum Montag in dem Städtchen nicht zugebracht. Am Sonntag Nachmittag war er da gewesen, und hatte mehrere Geschäfte besorgt, schnell, eilig. Gegen Abend war er wieder fortgeritten.

Auf die Leiche kam jetzt noch Alles an. War der Ermordete wirklich Ulrich Bertossa, oder Grafenberg, wie sein eigentlicher Name hieß? Ich ließ zur Grenze aufbrechen. Der Gefangene mußte sich zu dem Gerichtsactuar und mir in meinen Wagen setzen. Der Steuerrath folgte in seinem Wagen mit Holm. Beide mußten die Leiche recognosciren. Der Gensd’arm und der Kosak ritten vor den Wagen.

Der Tag war angebrochen, und der Morgen war warm und klar. Ich hatte meinen Wagen zurückschlagen lassen. Der Gefangene war fortwährend mit dem Gensd’armen allein gewesen. Er wußte nichts von dem, was unterdeß geschehen und ermittelt war. Er hatte sich zusammengenommen, aber sein Gesicht war erdfahl geblieben. Er wollte sich trotzig umsehen, als der Gensd’arm ihn vorführte. Da sah er, wie der Wagen nach der Grenze hin gerichtet war; da sah er den Kosaken. Der Trotz verschwand aus seinem Gesichte. Er konnte nur mit Mühe in den Wagen steigen.

Wir fuhren ab. Still, ohne Laut und Bewegung saß er im Wagen. Wir erreichten die Grenze und hielten an dem russischen Cordonhause. Ich ließ ihn zuerst aussteigen. Auf einmal fuhr er entsetzt auf; dann mußte er sich an dem Wagen festhalten, um nicht umzusinken. Er war vernichtet. Ich sah, was ihn vernichtend getroffen hatte. Die russischen Beamten waren schon da. Sie hatten die Leiche, die mir herausgegeben werden sollte, mit sich. Die Leiche lag, so, wie sie gefunden war, offen, auf einer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 483. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_483.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2023)