Seite:Die Gartenlaube (1863) 507.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Abend des reichsten Lebens. Hier, mit einem Worte, war und blieb seine Heimath. Er liebte diesen Ort, und so hat er ihn geweiht!

Stratford liegt in der Mitte einer weiten, ebenen Gegend. Das umliegende Land dehnt sich fernhin in sanftverschlungenen, kaum merklichen Wellungen, und nur im Nebel des Horizontes erheben sich bewaldete Anhöhen. Nicht Kühnheit und wilde Romantik sind der Charakter dieser Natur. Es ist jene einfach stille Anmuth, die die eigenthümliche Schönheit der englischen Niederungen bildet, und die das Gemüth des umherschauenden Wanderers zu einer wonnigen Beruhigung stimmt. Saftige Wiesen, von feuchtem Duft überhangen, der kraftstrotzende Baum, der nach allen Richtungen hin frei entwickelt in vollendetem Umriß prangt, der Bach, ein blauschimmerndes Band durch tiefgrüne Einfassung gewunden, und am Bache die Weide, über alle diesem ein lachender Himmel, mit weißen Wanderwolken besät: das sind Typen jener Gegenden. Dichter zweiten Ranges, Talente, empfangen aus einer solchen Umgebung den sentimentalen Zug, der bei Goldsmith, Thomson und so manchem anderen Engländer in den Vordergrund tritt. Das Genie aber, welches Kühnheit und Energie in sich selbst trägt, wird durch den Umgang mit einer solchen Natur in dem erhabenen Maß jener klaren, ruhigen Größe gehalten, in der Shakespeare so gewaltig, so fast übermenschlich dasteht.

Wie warm und innig der edle Mann den Zauber dieser stillen ländlichen Schönheit auffaßte, davon redet jedes Blatt seiner Schöpfungen. Wie kein Zweiter hat er an der Natur, und an dieser Natur, sich geschult und groß gezogen. Mit unbefangen genialer Naivetät mischt er gar häufig Bilder und Züge aus der ihm vertrauten Umgebung in seine Dichtung. So klingt umgekehrt, wenn wir die Gegend von Stratford durchstreichen, des Dichters Wort und That aus jedem neuen Eindruck uns wieder. Wem sollten nicht, wenn er die schilfgesäumten Ufer des Avon entlang unter den Weidenbäumen hinschlendert, die melancholischen Worte einfallen, mit denen die Erzählung von Ophelia’s Tod anhebt:

„Dort wächst ein Weidenbaum am Bach und spiegelt
Im klaren Naß sein silbergraues Blatt.“

Wem ahnte da nicht etwas wie ein Verständniß des tiefsinnigen Weidenliedes, welches die keusche Desdemona bei ihrem letzten Schlafengehen sang, und welches, allen Deuteleien zum Trotz, doch nun und nimmermehr ausgelegt, sondern ewig nur empfunden werden kann. Und so läßt die von dem Geheimniß einer solchen Oertlichkeit angeregte Phantasie Jeden, der ein wenig Verständniß für die unsichtbare Seele der ihn umgebenden Natur hat, tausend ähnliche Beziehungen ahnen.

Wo hundert Jahre der Vergessenheit die Lebensumstände eines großen Mannes, den erst ein spätes Geschlecht verstand und zu verdienten Ehren brachte, überschüttet haben, da kann die Sage, der dichtende Geist des Volkes, ein freies Spiel treiben. Sage ist denn ein guter Theil von Allem, was wir über Shakespeare’s Person und Verhältnisse wissen. Und von solchen Sagen lebt es in der Gegend von Stratford.

An der Landstraße zwischen Stratford und dem wenige Stunden entfernten Städtchen Bedford steht ein uralter wilder Apfelbaum. Die Leute der Umgegend nennen ihn den Shakespearebaum und erzählen folgende Geschichte. Bedford ist von Alters her durch sein vortreffliches Ale bekannt. Wo aber gutes Bier ist, da pflegt der Mensch den Durst hinzuzuthun. Und so hat sich die Einwohnerschaft von Bedford in dieser Beziehung stets eines entsprechenden Lobes zu erfreuen gehabt. Lustige Zechbrüderschaften pflegten früher von Zeit zu Zeit die Nachbarn aus den umliegenden Orten zu einem Wettgelage herauszufordern, um ihren Durst gegen einander zu messen. Eine solche Einladung erhielten denn auch einmal die Bürger von Stratford, und unter den Helden des Humpens, die sie auf Gastrollen aussandten, war ein gewisser William Shakespeare. Indeß obschon die wackeren Stratforder, die die Ehre ihrer Kehlen auf dem Spiele hatten, Alles dran setzten, konnten sie doch gegen Jene, die ihre Schule am Braubottich gemacht hatten, nicht lange Stand halten. Schon nach dem ersten Gang fiel das Häuflein Mann für Mann ab. Mit schweren Köpfen suchten sie im Dunkel der Nacht den Heimweg. Nachdem sie eine Strecke auf der Straße hingetaumelt waren, ließen auch die Füße sie im Stich. Unter jenem Apfelbaum stolperte der Vorderste nieder, und die Andern, William Shakespeare nicht ausgenommen, fielen hinterdrein. Dort blieb die saubere Gesellschaft, Einer über dem Anderen, die ganze Nacht hindurch liegen und schlief bis zum nächsten Morgen den Rausch aus. Der Dichter muß demnach den Becher, wie so mancher andere weise Mann und Sokrates vor Allem, auch nicht eben verachtet haben. Der Apfelbaum aber, dessen Zweige von der Schande und dem Jammer des geschlagenen Ritters zu sagen wüßten, ist ein Gegenstand der Neugierde und Verehrung geworden.

In der unmittelbaren Nachbarschaft von Stratford liegt Charlecote, der Landsitz der Barone von Lucy. Es ist ein altes Schloß aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, mit einem ausgedehnten Park von stattlichen Eichbäumen, durch die sich der Avon hindurchwindet. Auch an diesen Ort knüpft der Mund des Volkes eine Jugendgeschichte von unserem Dichter. Der große Shakespeare – so wird berichtet – war in seinen tollen Jahren von einer unbezwinglichen Jagdlust besessen. Durch sie verleitet ließ er sich beigehen, mit anderen Spießgesellen in jenem Park eigenmächtiger Weise dem Sport obzuliegen. Der damalige Besitzer, Sir Thomas Lucy, verstand indeß keinen Spaß. Er ließ die frechen Spitzbuben eines Tags auf frischer That einfangen und setzte sie ohne Federlesen vierundzwanzig Stunden in Dunkelarrest. Uebrigens scheinen sie mit einem derben Denkzettel davon gekommen zu sein. Shakespeare aber nahm die demüthigende Behandlung, die er wegen eines vermeintlich harmlosen Vergnügens von dem Edelmann erfahren hatte, höchlich übel. Er rächte sich mit seinen Waffen. Damals verfaßte er auf Sir Thomas Lucy ein beißendes Spottgedicht, von dem uns noch ein Vers überliefert wird, und klebte es über Nacht, sehr zum Aergerniß des vornehmen und mächtigen Herrn, an die Parkthüre. Es wird erzählt, daß jener wegen des neuen Frevels einen Criminalproceß gegen den Pasquillanten beabsichtigt und ihn durch die wenig erfreuliche Aussicht zur Flucht genöthigt habe. Dies soll denn nach Einigen die Veranlassung gewesen sein, die Shakespeare von seiner Heimath weg nach der Hauptstadt und zu einem abenteuerlichen Schauspielerleben trieb, aus welchem der große Dramatiker hervorging. Wahr oder nicht wahr, – jedenfalls war des Dichters Groll ein nachhaltiger. Als er viele Jahre später seine „lustigen Weiber von Windsor“ und „Heinrich IV.“ schrieb, führte er in diese Stücke die durch und durch lächerliche und alberne Persönlichkeit des „Justice Shallow“, zu Deutsch: „Landrichter Schwachkopf“ ein. Damit war Niemand anders als Sir Thomas Lucy gemeint, der ein Friedensrichter war und außerdem deutlich genug durch die „weißen Fische im Wappen“, welche seine Familie noch heute führt, gekennzeichnet ist. Wer also einen jungen Taugenichts in seinem Revier auf Jagdfrevel ertappt, der sei klug und lasse ihn ruhig laufen. Denn wenn das Schicksal aus dem Wilddieb einen großen Schriftsteller werden ließe, so könnte es ihm ergehen wie dem armen Sir Tom, der nun für die Ewigkeit zum allgemeinen Gelächter als ein Einfaltspinsel an den Pranger gestellt ist.

Nur wenige Spuren, die mit Bestimmtheit an Shakespeare erinnern, haben sich durch drei Jahrhunderte vor der schonungslosen Zerstörerin Zeit in unsere Gegenwart gerettet. Bei diesem verweilt natürlich der Besucher von Stratford mit besonderer Vorliebe und Andacht. Was uns freilich das Interessanteste sein würde, das Haus, welches der Dichter von dem weislich zurückgelegten Ertrage seiner Kunst erkauft hatte und in dem er seine letzten sorgenfreien Jahre gemächlich verlebte, hat eine vandalische Hand boshaft vernichtet. Dieses Haus, eine der schönsten Besitzungen in Stratford, mit der Einrichtung, wie sie Shakespeare selbst getroffen, und dem Garten, den er ganz nach seinem Geschmack angelegt hatte, kam nach mannigfachem Herrenwechsel um die Mitte des vorigen Jahrhunderts in das Eigenthum eines geizigen Pfaffen. Diesen ärgerte der zahlreiche Zuspruch von Fremden, die der Ruhm seines Vorbesitzers herbeizog. Er begann damit, einen prächtigen Maulbeerbaum, den nach der Sage der Dichter selbst im Garten gepflanzt hatte, abzuhauen und an den Ersten Besten als Brennholz loszuschlagen. Das Gebäude selbst war mit allerhand Abgaben belastet, und da der alte Filz sich von seinem blanken Gelde nicht trennen wollte, um sie zu bezahlen, ließ er es dem Erdboden gleich machen und – zog zur Miethe. So ist Alles, was noch unversehrt dasteht, des Unsterblichen Geburtsstätte und sein Grab. Als hätten wir aus dem irdischen Dasein des großen Mannes an seinen Werken genug, um uns übrigens mit dem Anfang und dem Ende begnügen zu können!

An der Hauptstraße von Stratford steht noch ein altes niedriges

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 507. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_507.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)