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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

errathe sie, daß ich nahe daran sei, mein ihr gegebenes Wort wegen des Nichtküssens zu brechen, stand sie rasch auf und verschwand aus dem Zimmer, ehe ich sie zurückhalten konnte.

Bei dem Abschiede diesmal hoffte ich bereits auf das Wiedersehen im Herbst.

Es wäre aber von diesem meinem Besuche nichts Erwähnenswerthes zu berichten, wenn nicht ein charakteristischer Auftritt auf dem Tanzplatze vorgekommen. Martha äußerte an einem Sonntag-Nachmittage den Wunsch, noch einmal mit mir dahin zu gehen. Wir gingen und tanzten. Während unseres letzten Tanzes indeß sah Martha sich öfters wie ängstlich um, auch machte sie mich leise aufmerksam, daß die übrigen tanzenden Paare, eines nach dem anderen, abgetreten waren, so daß wir bald ganz allein noch tanzten, während die jungen Burschen rings an den Seiten umherstanden, halblaut unter einander sprachen und uns mit nicht eben freundlichen Blicken ansahen. Ich ahnte im Anfange, trotz der Aengstlichkeit Marthas, nichts Arges. Als wir aber ebenfalls zu tanzen aufhörten, entstand ein offenbar absichtliches und böswilliges Drängen und Stoßen um uns her. Man schien Streit anfangen und zunächst uns hindern zu wollen, den Ausgang zu gewinnen, jedenfalls um Martha ein Zeichen der allgemeinen Mißbilligung dafür zu geben, daß sie nur mit einem Fremden daherkomme und nur mit diesem tanze, dem Fremden aber in derber Bauernmanier das Wiederkommen grundlich zu verleiden. Martha, welche diese Absicht der Burschen sofort errathen hatte, zitterte an meinem Arme, während wir uns einen Weg durch die uns Umdrängenden zu bahnen suchten. Ehe es zu Schlimmerem kam, erschien, gerade zur rechten Zeit, Michel Gerber auf der obersten Stufe der Treppe, welche in den Tanzsaal führte, und auf den ersten Blick in denselben erkannte er, was man vorhatte. Mit zornglühendem Gesicht und mit so gewaltiger Stimme, daß der leichte Bau davon erzitterte, rief er hinein in den Saal:

„Wer untersteht sich meine Tochter und meinen Gast zu beleidigen? Michel Gerber möchte den sehen, welcher zu mucksen wagt, wenn er Ruhe gebietet!“

Er stand da, am Eingange des Saales, wie in den Boden gewurzelt, gleich einem Felsblocke im brandenden Meere, und die Bursche wichen langsam scheu zurück, die Furchtsamsten bis dicht an die Wand. Nur ein kleiner krummbeiniger Schneider, der wahrhaft lächerlich häßlich in seiner Altenburger Kleidung, namentlich in den kurzen weiten Pluderhosen, aussah, blieb keck vor den Vordersten stehen und schauete den zornigen Michel Gerber herausfordernd an, der ein Riese gegen ihn war.

„Na! na!“ sagte er dann mit quäkender höhnischer Stimme. „Hier hat Einer so viel Recht als der Andere, und Du bist auf dem Tanzplatze nicht mehr als ich, wenn Dir auch die Thaler zu Tausenden draußen auf dem Felde von selbst zuwachsen und ich meine paar Groschen mühsam zusammensticheln muß.“

„Krummbeiniger Schneiderknirps,“ donnerte ihn Michel dafür an, und in seinem Tone lag die wegwerfendste Geringschätzung, „fünfhundert solche Lumpenkerle wie Du machen noch lange keinen halben Michel Gerber aus! – Herr,“ fuhr er zu mir gewendet fort, „bringen Sie die Martha her zu mir. Ich möchte sehen, wer sie anzurühren wagt.“

Ehe wir von der andern Seite des Tanzsaales zu ihm gelangen konnten, trat der kecke Schneider noch einen Schritt näher an Gerber heran und sagte, während er den emporgestreckten dürren Zeigefinger der rechten Hand drohend bewegte und mit boshaften Blicken zu dem Gegner emporsah:

„Michel Großmaul, ich habe noch immer gehört: Uebermuth thut nicht gut, und Hochmuth kommt vor dem Fall!“

„Ich will Dir sagen, Du Schneiderlappen, was vor dem Fall kommt,“ antwortete Michel Gerber mit verächtlicher Gelassenheit. Dabei bückte er sich rasch, packte mit einer seiner starken Fäuste den kleinen Schneider in der Mitte des Leibes, hob ihn so, leicht wie eine Feder, empor und schien ihn von der Stelle aus, auf der er stand, durch das offene Fenster hinausschleudern zu wollen. Martha war todtenbleich geworben und rief in Verzweiflung: „Vater, thu’ ihm nichts zu Leid!“ Die anderen Mädchen und die Weiber kreischten vor Angst und drängten sich dicht zusammen; die Rohesten der Bursche lachten über den zappelnden kleinen Schneider und die Andern sahen gleichgültig und neugierig zu, was wohl geschehen werde. Dem Schneider widerfuhr kein Leid. Michel Gerber hielt ihn nur eine Zeitlang so „in schwebender Pein“, dann setzte er ihn, freilich sehr unsanft, auf die krummen Beine wieder nieder. Während der Geängstigte in der Menge sich verkroch und Michel über den Saal hinschaute wie ein Feldherr über das siegreich behauptete Schlachtfeld, ging ich mit der noch immer zitternden Martha so rasch als möglich hinweg.

„Unter solchen Menschen soll ich mein Leben verbringen!“ sagte sie, als wir eine Zeit lang still nebeneinander gegangen waren, mit einem tiefen schmerzlichen Seufzer. „Verstehst Du nun, warum ich nicht glücklich bin? Ach, hätte mir mein Vater eine andere Erziehung geben lassen, als er gethan, hätte er mich aufwachsen lassen wie die Andern hier aufwachsen gleich den Blumen auf dem Felde! Er meinte es gut, sehr gut, ich weiß es wohl, aber Recht that er nicht und er wird darunter leiden, wie ich schon gelitten habe, noch leide und – noch sehr viel werde leiden müssen!“

„Ich habe schon längst gefühlt, daß Du so, wie Du bist, hierher nicht gehörst,“ antwortete ich, „aber Du mußt ja hier nicht bleiben.“

„Wenn Du daran zweifelst,“ sprach sie weiter, „kennst Du meinen Vater nicht. Aber reden wir weiter nicht davon! Wenn mir solche Gedanken kommen – und sie kommen mir immer öfter – steht mir vor Angst das Herz fast still. Gott gebe, daß die Zeit noch fern ist, die über mein Schicksal entscheidet!“

Die Zeit der Entscheidung kam schneller, als Martha erwartet hatte, und ich sah sie nur noch einmal in ihrer Blüthe und Heiterkeit – Herrlichkeit, hätte ich beinahe geschrieben. Das war nach Verlauf des Winters, als der Frühling sich anschickte seinen Einzug zu halten. Er lockte mich hinaus auf das Land, und die Erinnerung an Martha, die ich so lange nicht gesehen hatte, bestimmte das Ziel meiner Wanderung. Ich verbrachte nochmals ein paar glückliche Tage in dem Hause Gerber’s, und daß ich der Tochter durch meinen Besuch eine wahre Herzensfreude machte, sah und fühlte ich. Vor dem Abschiede aber saßen wir eine Zeitlang allein in ihrem Zimmer, in dem wir abwechselnd gespielt hatten, und hier bat sie mich dringender als je, auch in einem andern Tone als sonst, aus dem ich eine gewisse Aengstlichkeit herauszuhören glaubte, noch einmal zu kommen – und diese Worte sprach sie ganz eigenthümlich – zu Pfingsten. Als ich in sie drang mir zu sagen, ob sie etwas fürchte und was, antwortete sie traurig:

„Noch kann ich es nicht mit Gewißheit sagen; ich weiß nur, daß mein Vater etwas vorhat, das mich beunruhigt. Er verkehrt viel mit einem Manne, der mir widerwärtig ist. Sie sitzen oft und lange in seiner Stube beieinander, haben also etwas sehr Wichtiges und Geheimes vor. Er fuhr auch an zwei Sonntagen hintereinander allein fort, nicht in die Stadt, und er sagte mir nicht, wohin er reise, obgleich ich ihn darum fragte. Er lächelte nur und antwortete: „Du erfährst es schon; ’s ist nur Deinetwegen.“ Ach ... ich fürchte, er will mich verheirathen! Er wird irgend einen jungen Bauer ausfindig gemacht haben, dessen Vermögen dem meinigen entspricht und der deshalb, seiner Meinung nach, für mich paßt. Ich weiß wohl, daß die Kinder ihren Eltern Gehorsam schuldig sind, aber – der liebe Gott verzeihe mir meine Sünde, wenn es eine ist! – gewiß dann nicht, wenn die Kinder besser wissen als die Eltern, daß solcher Gehorsam Aller Unglück sein muß.“

Ich suchte Martha zu trösten, ohne daß es mir gelang, und so schieden wir diesmal nicht mit leichtem Herzen von einander. Es war auch das erste Mal, daß das Mädchen bei dem Abschiede weinte und weinend mich bat, den Besuch zu Pfingsten „um Gottes Willen“ nicht zu versäumen.


(Schluß folgt.)
Der Freund der deutschen Arbeiter.

Wenn man in Berlin während des vergangenen Winters an einem Sonntagsmorgen zwischen 11 – 12 Uhr in die Nähe der sogenannten Tonhalle gelangte, welche in der großen Friedrichsstraße liegt, so erblickte man einen ungewöhnlichen Menschenstrom, der sich nach jenem bekannten Vergnügungslocale in stiller, ernster Haltung bewegte, nicht um daselbst Zerstreuung und materielle Genüsse

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 516. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_516.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)