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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Erinnerungen an das dritte deutsche Turnfest zu Leipzig.
1.
Keine vollständige Beschreibung – nur Erinnerungen. – Der Empfang der Gäste. – Thränen. – Ankunft der Schleswig-Holsteiner. – Im Schützenhause. – Ostpreußen und Südbaiern. – Am Sonntag Vormittag. – In und an der Festhalle. – Ueberall Verbrüderungen.

Das waren herrliche Tage, die Leipzig und seine Gäste jetzt durchlebt haben.

Schon einmal sah man Deutschlands Söhne aus allen Gauen nach unserer Stadt ziehen; aber zu jener Zeit galt es nicht die friedliche Feier eines Freudenfestes, damals galt es die Befreiung unseres geknechteten Vaterlandes vom Drucke tyrannischer Fremdherrschaft. Die kampfesmuthigen Männer, welche in jenen Tagen zur blutigen Auferstehungsfeier deutscher Freiheit nach Leipzigs Fluren zogen, zählten nach Hunderttausenden, und viele Tausende von ihnen sollten das glorreiche Ende des heiligen Kampfes, den sie mit ihrem Bluten gewinnen halfen, nicht mehr sehen; aber sie starben freudig, denn sie gingen mit dem Bewußtsein hinüber, durch ihren Tod das neue Leben das Vaterlandes begründet zu haben.

Wie anders jetzt! Wieder waren es deutsche Männer und deutsche Jünglinge, die von allen Seiten hieher strömten. Die Vaterlandsliebe, welche die Kämpfer jener großen Zeit zu unsterblichen Helden weihte, sie beseelte auch die Festgenossen, die in Leipzigs Mauern einzogen; aber es galt jetzt keinen Kampf auf Leben und Tod, man wollte nur ein Fest der Liebe und der Eintracht, ein Verbrüderungsfest aller deutschen Stämme feiern.

Eine ausführliche Beschreibung dieses herrlichen Festes zu geben, ist hier wohl nicht möglich, denn sie müßte viele Bogen füllen, wenn sie nur einigermaßen den vorhandenen Stoff eingehend behandeln würde. Es sind daher auch nur, wie der Titel dieses Aufsatzes besagt, Erinnerungen, Erlebnisse, die ich, noch bewegt von dem mächtigen Eindrucke des Festes, hier niederlegen will. So manchem Festtheilnehmer werden die einfachen Schilderungen mangelhaft erscheinen, weil er vielleicht Momente darin vermißt, die gerade für ihn von unvergeßlicher Bedeutung waren. Von den Festgenossen aber will ich meine anspruchslose Arbeit auch nur als das leichte Gewebe betrachtet wissen, in welches sie die glänzenden Perlen ihrer eigenen Erinnerungen einfügen und dadurch das Ganze erst zu einem für sie werthvollen Angedenken gestalten mögen.

Wenn man von Seiten des Festausschusses auch eine sehr große Theilnahme der auswärtigen Turner am Feste vorausgesetzt hatte, so glaubte man damit, dieselbe auf die Zahl von ungefähr zehntausend anwachsen zu sehen. Es erwies sich aber sehr bald durch die massenhaft eingehenden Anmeldungen, daß jene Annahme weit hinter der Wirklichkeit zurückbleiben sollte, denn die Zahl der auswärtigen Festgenossen stieg bis auf sechszehntausend! Dazu kamen noch etwa viertausend Turner Leipzigs und der nächsten Dorfgemeinden, also zusammen nicht weniger als zwanzigtausend Festtheilnehmer!

Ueber die anfänglich schweren Sorgen des Wohnungsausschusses und wie dieselben mit jedem Tag leichter wurden und endlich in die Freude vollendetster Befriedigung ausschlugen, ist bereits Allgemeines und Einzelnes berichtet, weshalb wir hier sogleich zum Feste selbst übergehen können.

Am Morgen des Sonnabends (1. August) strahlte die Stadt im vollen Festschmucke, und die Spannung der Einwohner hatte ihren Höhepunkt erreicht, denn auf diesen Tag war ja das Eintreffen der Festgäste bestimmt, und den sehnlich Erwarteten schlugen alle Herzen schon jetzt lebhaft entgegen. Das Quartierbureau war auf dem reich geschmückten Rathhause eingerichtet worden, und unten auf dem Marktplatze wogten schon seit früher Morgenstunde dichte Massen auf und nieder, die ankommenden Turnerzüge, die ihre Gäste brachten, sehnsüchtig erwartend. Inmitten der Menschenmenge war jedoch ein großer freier Raum offen gehalten, der durch die 800 jugendlichen Turnschüler Leipzigs mit nicht genug anzuerkennender Energie begrenzt wurde; denn diese Knaben hatten der Aufforderung ihrer Lehrer, den eintreffenden Gästen als Führer nach ihren Wohnungen zu dienen, jubelnd Folge geleistet. Auf den fünf Bahnhöfen der Stadt waren aber Deputationen des Wohnungsausschusses und Musikchöre zum festlichen ersten Empfang der Festgenossen aufgestellt, und lauter, heilverkündender Jubel erschallte von allen Seiten, als in früher Morgenstunde die ersten zwar noch schwachen Züge der eintreffenden Turner mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen ihren Einzug in die Stadt hielten. Ihnen war es vergönnt, im Laufe des Tages Zeuge der sich immer mehr steigernden Herzlichkeit des Empfanges der ununterbrochen eintreffenden Zuzüge sein zu können, nachdem sie in den ihnen angewiesenen Wohnungen von Seiten ihrer freundlichen Wirthe auf das Freudigste begrüßt worden waren.

Wer aber möchte im Stande sein, die Gefühle der anlangenden Festgäste oder des ihrer an allen Bahnhöfen massenhaft harrenden Publicums in Worten wiederzugeben? Wer von den lieben Festgenossen wußte sich die Thränen zu erklären, die so vielen unter ihnen im Augenblicke der Ankunft bei all dem Jubel in die Augen traten? Das Willkommen, welches Allen ohne Ausnahme zugerufen wurde, kam aus aufrichtigem Herzen und fand um so leichter den Weg zum Herzen der Ankommenden, von denen so Viele im überwältigenden Hochgefühle dieser Augenblicke sich oft nur durch Schwenken der Hüte, oder mächtig hervorquellende Freudenzähren äußern konnten. O, versucht es nur, wenn Ihr nicht Zeugen oder Theilnehmer solcher Auftritte gewesen seid, diese Thränen zu bespötteln! Nicht rasche feurige Jünglinge allein waren es, auch über die Wangen ergrauter und in des Lebens Stürmen hart geprüfter Männer sah man diese Zähren rollen, aber fragt sie, ob sie sich dieser gewiß unvermutheten Gefühlsäußerung schämen, und Ihr werdet ein offenes Nein zur Antwort erhalten. Wie oft ist an jenem Tage gewiß insgeheim von verschiedenen Turngenossen sowohl aus dem leicht erregbaren Süden als auch aus dem ruhigen überdenkenden Norden auf dem Wege zur Stadt die Frage gestellt worden: Was haben wir gethan, daß Ihr uns wie Sieger nach einer gewonnenen Schlacht empfangt? Und hier ist die Antwort darauf: Brüder, wir feierten ein wahrhaft deutsches Fest; wir betrachteten Eurer Kommen als einen Beweis der echten treuen Vaterlandsliebe, und ist ein solcher friedlicher Sieg nicht weit eher eines Triumphzuges würdig, als die Niederwerfung eines Volkes, das wir nur aus diplomatischen oder dynastischen Gründen als Todfeinde zu betrachten gezwungen sind? Warum giebt es überhaupt auf Erden noch einen anderen Kampf als den der Seelengröße um die höchste Achtung?

Man glaube übrigens nicht, daß nur die Ankommenden jene überwältigende Regung fühlten; auch die harrenden Empfänger fühlten sich mächtig bewegt, und oft hatten Viele im ersten Augenblick für die Festgäste wohl auch nur den stummen Händedruck und das feuchte Auge als Willkommen, weil das, was das Herz bei solchen Begegnungen fühlt, viel zu erhaben scheint, um sich mit den alltäglichen Worten ausdrücken zu lassen. Der herzliche Empfang wirkte aber auch maßgebend auf die Festbestimmung der Gäste, die sich hier doch auf der Stelle wohl fühlen mußten, wo man sie mit so viel Herzlichkeit empfing.

Oft brachten die Extrazüge auf den Eisenbahnen tausend und noch mehr Turner auf einmal nach der Feststadt, und in stattlicher Reihe ging es dann hinein zur Stadt, ein Musikchor an der Spitze des Zuges. Besonders in den Abendstunden von sechs bis zehn Uhr trafen ohne Unterbrechung von allen Seiten die Turner ein, und man kann mit Bestimmtheit annehmen, daß in jener kurzen Zeit allein acht- bis zehntausend unserer Festgäste hier anlangten.

Unvergeßlich bleibt mir die Ankunft der Schleswig-Holsteiner. Als der sie bringende Extrazug signalisiert wurde, war das Publicum von dem zur Bequemlichkeit der Ankommenden immer frei gehaltenen innern Raum des Bahnhofs nicht mehr zurück zu halten, und Alles fluthete herein. Mit dem Liede „Schleswig-Holstein meerumschlungen“ wurde der herannahende Zug empfangen, und tausend Hände streckten sich den geknechteten Landeskindern entgegen, ihnen treue Hülfe in der Stunde der Gefahr verheißend. Aber hat denn diese Gefahr seit einer langen Reihe von Jahre für sie auch nur einen Augenblick aufgehört? Sinnen nicht in derselben Stunde schon dänische Schergen eifrig auf die Rache, die sie an allen den Theilnehmern unsres großen Festes bei deren Rückkehr auszuüben gedenken? In den Thränen, welche die Schleswig-Holsteiner bei ihrer Ankunft hier vergossen, konnte man neben der freudigen Rührung wohl auch noch einen bittern Vorwurf für ganz Deutschland finden. Der Trauerflor, der noch immer die von ihnen entfaltete Fahne

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 542. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_542.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)