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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

genau zu erfahren und mir die Schreibart und Unterschrift des Verstorbenen anzueignen. Gegen meine nunmehrigen Freunde spielte ich den sehr Angegriffenen und äußerte, daß ich meinem von ihnen sogenannten Zwillingsbruder bald nachfolgen werde, was sie mir ausredeten und mich durch muntere Unterhaltung aufzuheitern suchten. Nach Ablauf des Urlaubs meldete ich mich bei der Parade, um den Dienst wieder anzutreten, der höchst oberflächlich war und stets stillschweigend verrichtet wurde. Cameraden und selbst der General bedauerten den Vorfall, durch den ich alterirt scheine. Letzterer empfahl mir fleißigen Besuch der Bälle und lud mich zu dem morgen bei ihm stattfindenden freundlichst ein, dessen Besuch ich jedoch am andern Tage wegen Unwohlsein höflich ablehnte. Das erhaltene Attest der Aerzte schickte ich mit der genauen Berechnung der Löhnung und des Ueberschusses wie Effecten des verstorbenen Kammerdieners, dem Bürgermeister mit der Bitte, von ersterem eine Abschrift zu nehmen, das Original visirt mir wieder zuzustellen, letztere laut beigelegter Adresse an die Angehörigen desselben nach Straßburg zu senden. Daß kein Verdacht einer möglichen Täuschung, weder beim Militair noch im Civil rege wurde, da doch unser Aehnlichkeitsverhältniß stadtkundig war, ist mir bis heute ein Räthsel geblieben. Ich nahm keine Einladung zu Gelagen an, hielt selbst bei mir keine der früheren Zusammenkünfte mit den Cameraden und zeigte mich öffentlich stets kopfhängerisch.

Bei einem der täglichen Besuche des Regimentsarztes meinte derselbe nach der dritten Woche, das könne so nicht länger gehen, ich müsse fort von hier, was ich mit heimlicher Freude aufnahm und ihn inständigst um seine Vermittelung bat, meine Versetzung nach Frankreich zu befürworten. Väterlich unterstützte mich derselbe, denn er brachte mir nach drei Tagen einen Urlaubschein auf vier Wochen, theilte mir mit, daß der General selbst sich für mich verwenden wolle, und da ich sicher zu meinen Eltern nach Rom gehen würde, so sollte ich dorten das Weitere abwarten. Mit wahrem Entzücken vernahm ich die Nachricht, verabschiedete mich bei dem General dankend, nahm auf der Parade von sämmtlichen Commilitonen Abschied, die mich ohne Abschiedstrunk nicht fortlassen wollten, was ich mit scheinbarem Widerwillen annahm, übertrug einem derselben den Verkauf meiner zurückgelassenen Effecten, dessen Betrag an meine Eltern nach Rom zu schicken wäre, und reisete am Nachmittag ohne Diener nach Ancona ab, wo ich meine bisherige schwerfällige Maske etwas lüftete. Ich studirte fleißig das Italienische, las viel und versuchte selbst schriftliche Aufsätze, da mir noch eine schwere Prüfung bevorstand und zwar in dem Besuche meiner nunmehrigen Eltern. Diese hatte ich schriftlich von meinem Verhältniß unterrichtet und den Besuch zugesagt, wenn sich die Witterung einigermaßen gebessert haben würde. Endlich mußte ich doch hinüber, wurde vom Vater mit herzlicher Freude, von der Schwester mit Entzücken, von der Mutter jedoch etwas kühl, fast mit halber Scheu empfangen. Die Klugheit rieth mir, dieses nicht zu bemerken, da ich auch später bei unserem Zusammensein oft mißtrauischen Blicken begegnete, in denen ich sehr wohl ihre Ahnung las, daß hier eine Täuschung obwaltete. Ich besuchte flüchtig die Verwandten und Freunde der Eltern und hielt mich so viel als möglich, der Localkenntnisse wegen, im Freien auf. Vier Tage nach meiner Anwesenheit erhielt ich von dem General die Ordre, mich schleunigst nach Lyon zu begeben, indem ich in das verstärkte Corps des General Soult eintreten solle. Fast hätte ich vor Freude meine Maske ganz fallen gelassen. Unter dem Schein der Traurigkeit, daß ich so schnell aus den Armen meiner Lieben gerissen werden solle, nahm ich endlich Abschied. Mit herzlicher Umarmung und reich beschenkt wurde ich vom Vater mit seinem Segen, von der Mutter mit einem „geh mit Gott“, von der Schwester mit einem mehr als brüderlichen Kusse entlassen. Ich habe Alle nicht wiedergesehen. Mit welch erleichterter Brust ich Frankreichs Boden betrat, brauche ich wohl nicht zu erwähnen, denn der Zwang war gewichen, und meine angeborne Heiterkeit entfaltete bald ihre vollen Schwingen. Meinen Bericht schließe ich mit dem Bemerken, daß die militärischen Acten es nachweisen, bei welcher Gelegenheit ich Premier-Lieutenant, wann Capitain und für mein Verhalten bei Jena decorirt wurde. Meine Papiere werden meine Aussage bestätigen.“

Stillschweigend hielt er seine Hände hin, wurde gefesselt und abgeführt. Alle Anwesenden blickten dem Verurtheilten fast mit thränenvollen Augen nach und bedauerten seinen Fall.

General Rapp, der natürlich Mittheilung erhielt, wurde so wüthend, daß er von sofortigem Füsiliren sprach. Nie hatte man ihn in solcher Aufregung gesehen, und es kostete den anwesenden Generalen Mühe ihn zu beschwichtigen, da der Kaiser sich alle Todesurtheile vorbehalten habe. Das Erste sei wohl, daß man die Effecten untersuche, ob Beweise für oder wider die Wahrheit seiner Aussagen sich darin befänden. Es wurden der Generalauditeur und zwei Officiere beordert, das schon bei der Verhaftung amtlich versiegelte Logis näher zu untersuchen. Man fand eine Masse Briefe theils von seinen usurpirten Eltern, wie der Schwester, und früheren Cameraden, wie auch eine Menge billet doux von Damen vor, welche augenblicklich verbrannt wurden, ebenso ein versiegeltes Pack Papiere unter Kreuzband mit der Aufschrift: „Mein Testament“. Es enthielt ein vollständiges curriculum vitae bis zu seiner Anstellung in Frankreich, viel weitläufiger als seine Mittheilung, und dabei manche interessante Episoden aus seinem Wanderleben, die mit lebhaften Farben geschildert waren. Es wurde ein genaues Verzeichnis mit Zuziehung seines Wirthes angefertigt. Das baare Geld, wie Schriftstücke wurden mitgenommen, und das Zimmer abermals mit dem Versprechen versiegelt, daß dasselbe innerhalb acht Tagen dem Wirthe zur Disposition gestellt werden solle.

Der Kaiser erhielt eine umständlichen Bericht mit den Beilagen und wurde um weiteres Verhalten gegen den Degradirten gebeten.

Gleichzeitig wurde der Wittwe Alswanger in Rom die Nachricht über diesen Vorfall mitgetheilt. Sie antwortete einige Wochen darauf, daß sie beim ersten Anblick des jungen Mannes angenehm überrascht gewesen sei, indem sie den vermeintlichen Sohn gekräftigter, als vor zwei Jahren gefunden, daß aber doch ein leiser Argwohn in ihr aufgestiegen sei, da seine unstäte Bewegung und sein fast scheuer Blick nicht mit dem freundlichen Aeußeren ihres Sohnes, wie auch mit dessen kindlichem Benehmen, hauptsächlich gegen sie, übereingestimmt. Als sie gegen den Vater diese auffallende Veränderung bemerkt, habe er geäußert, das möge wohl das flotte Garnisonsleben bewirkt haben. Ihr Zweifel wurde noch mehr durch die erhaltenen Briefe bestärkt, in denen sie die früheren zarten Ausdrücke ihres Sohnes schmerzlich vermißte. Sie danke herzlich für die Mittheilung, die ihr Herz zwar sehr erschüttert, ihr aber doch die Beruhigung gegeben, daß nicht ihr Sohn unwürdig gehandelt, und sie freue sich, daß ihr mütterliches Auge sie nicht getäuscht habe.

Mehrere Monate später ging vom Kaiser aus Paris der Bescheid ein, daß er das ganze Verfahren gegen den Capitain für Recht erkenne, der nunmehrige Diderici von dem Verdachte der Tödtung des Lieutenants Alswanger zwar freizusprechen sei, dagegen aber für die Anmaßung eines fremden Namens, wodurch er die Familie Alswanger getäuscht und die Unterstützung erschlichen habe, als Dieb zwischen den Schultern zu brandmarken, vorläufig nach der Festung Weichselmünde abzuführen, und bei geeigneter Gelegenheit nach Brest zur lebenslänglichen Haft zu schicken sei. Dieses Urtheil nahm der Unglückliche mit Gleichgültigkeit auf.

Bei der Execution wiederholten sich die herzbrechenden Scenen der Degradation in verstärktem Maße; es regnete förmlich gefüllte Börsen und Blumensträuße auf das Schaffot, welche erstere, nach der Vollstreckung des Urtheils, der Auditeur an sich nahm, letztere der Delinquent, rundum dankend, unter seine Jacke barg.

Das verhängnisvolle Jahr 1812 beschäftigte die Militairbehörde so ausschließlich, daß das ganze Ereigniß in den Hintergrund trat. Bei einem mißlungenen Fluchtversuch hatte sich der Gefangene nicht nur eine körperliche Strafe zugezogen, sondern wurde auch mit schweren Ketten belastet. Nach der Uebergabe der Festung, Ende 1813, fand in sämmtlichen Gefängnissen, wie auch zu Weichselmünde eine Revision statt; die bürgerlichen Personen, denen kein Verbrechen nachgewiesen werden konnte, wurden frei gelassen, diejenigen vom Militair den übrigen Capitulirten beigeordnet. Der uns interessirende Mann aber wurde nicht vorgefunden, und im Gefängnißbuche neben seinem Namen stand nur die kurze Bemerkung: „verschollen“. Der mehrjährige invalide Commandant meinte auf Befragen, daß der schwerbelastete Gefangene sich wahrscheinlich, von der Schildwache ungesehen, bei einer Promenade vom Wall in die Weichsel gestürzt habe.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 548. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_548.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)