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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

„Du bist der Voigt,“ versetzte sie. „Ich erkannte Dich beim ersten Worte. Ja, es ist Hanna Moll, die vor Dir steht! Dieselbe Hanna, die Du vertreiben halfst, als Osten mich gewaltsam der Echte beraubte, durch die er sich mir für Zeit und Ewigkeit verlobt hatte!“

Dortchens Mutter stieß einen tiefen Seufzer aus und verbarg weinend ihr Antlitz, indem sie sich auf die Schulter der jugendlichen Tochter lehnte.

„Dann bist Du es, die Osten beraubte!“ rief, von einer plötzlichen Ahnung durchzuckt, der Capitain, und riß die Blinde mit Heftigkeit an sich. „Nur eine Person, welche mit allen Oertlichkeiten des Hauses genau bekannt ist, konnte ungestört einen so frechen Diebstahl begehen! Voigt, thu’ Deine Pflicht! Im Namen des Königs fordere ich Dich auf: verhafte dies Weib!“

Der Voigt ließ die Blinde von den Knechten in die Mitte nehmen, winkte diesen aber, daß sie glimpflich mit ihr verfahren möchten.

„Lasse mich fesseln, wenn Du willst,“ sprach Hanna vollkommen ruhig; „Du wirst mich freigeben, sobald ich mit Osten gesprochen habe. Ihn schaffe zur Stelle, oder triff Anstalt, daß ich möglichst schnell zu ihm gebracht werde!“

„Das soll geschehen,“ versetzte der Voigt. „Vorwärts, Männer, zum Strande und richtet Alles zur Abfahrt! In einer Stunde müssen wir segeln.“




9.

Es war eine stille, milde Herbstnacht. Ueber dem breiten Strombett der Elbe lag eine weißliche Nebelschicht, über welche die hohen Masten der größeren Seeschiffe in die helle Luft emporragten. In der kleinen Cajüte der Smak saß Hanna Moll mit fest geschlossenen Augen. Sie hatte sich geweigert, dem Voigte weiter Rede zu stehen, indem sie immer wieder darauf zurückkam, daß sie Osten sprechen müsse.

Capitain Krahn, welcher das Steuer des Küstenfahrzeuges führte, erkundigte sich nach Hanna Moll’s Vergangenheit, da die vernommenen Aeußerungen voraussetzen ließen, daß der Voigt wenigstens zum Theil mit den Lebensverhältnissen der Blinden bekannt sein müsse. Dieser schien anfangs zum Sprechen nicht sehr aufgelegt zu sein. Da aber Moritz Krahn immer dringender wurde, brach er doch endlich das Schweigen und theilte ihm Folgendes mit:

„Heinz Osten und ich, wir waren schon als Knaben mit einander befreundet, hielten immer zusammen und theilten Leid und Freud’ als getreue Cameraden. Das blieb auch so, als wir die Schule verlassen hatten und in’s thätige Leben übertraten. Es verging kein Sonntag, den wir nicht zusammen verlebten, oft genug in gar lustiger Weise, die nicht immer die Billigung unserer Eltern fand. Bei diesen sonntäglichen Vergnügungen lernten wir Hanna Moll kennen. Sie war ein ungewöhnlich hübsches Mädchen, leicht und frei in ihren Bewegungen, heiter, aufgeweckt, dabei fleißig und zu jeder Arbeit erbötig. Leider besaß sie aber gar kein Vermögen! Nur was sie durch rastlose Thätigkeit erwarb, war ihr Eigenthum.

Osten, der gleich bei der ersten Begeguung Wohlgefallen an Hanna fand, machte ihr bald darauf Vorschläge, welche das hübsche Mädchen nicht von sich wies. Sie sollte zu ihm ziehen als Dienerin; später, wenn sie sich erst eingerichtet habe, werde sich in seinem Hause bald eine bessere Stellung für sie finden.

Hanna verstand diese Andeutungen und ging ohne Bedenken auf den Vorschlag des jungen Baumhofbesitzers ein, von dessen Eltern nur der Vater noch lebte. Dieser war ein strenger, sogar ein harter Mann, der auf geringere Leute verächtlich herabsah und mit Dienstboten nur sprach, wenn er es mußte. Gegen den Eintritt Hanna’s als Magd in den Hof des Sohnes – denn diesem gehörte bereits das Gewese – hatte er nichts zu erinnern. Die Freundlichkeit Hanna’s, ihr flinkes Wesen, ihr heiterer Sinn und ihre großen hellen Augen gefielen auch ihm, und er hatte das junge Mädchen gern um sich. Bald aber gewahrte er, daß sein Sohn Hanna auszeichnete und zwar in bedenklichster Weise. Da ergrimmte der Alte. Er setzte Heinz zur Rede, verbot ihm jeden Umgang mit der jungen Magd und verlangte, er solle Hanna den Dienst aufkündigen.

Heinz stellte sich willfährig, traf aber keine Aenderung. Hanna Moll blieb, und als der Alte unter Drohungen ein zweites Mal seine Forderung wiederholte, gestand ihm der Sohn, er könne nicht darauf eingehen; Hanna sei seine Geliebte, seine Braut; vor wenigen Tagen erst habe er ihr die Echte gegeben!

Es ging bös her in Osten’s Baumhofe nach Ablegung dieses Bekenntnisses. Heinz selbst verlebte wahre Höllentage, und Hanna sah sich sogar Mißhandlungen ausgesetzt, wenn sie zufällig dem erbitterten Vater ihres Verlobten begegnete. Sie ließ sich jedoch nicht einschüchtern; denn Heinz hatte ihr Schutz zugesichert und feierlich gelobt, daß er nie von ihr lassen werde. Allein es kam dennoch anders! Der stolze Alte wußte es so einzurichten, daß sein Sohn in Hanna’s Treue Zweifel setzen konnte. Er ward eifersüchtig, mißtrauisch, heftig, zuletzt hart, und da es Hanna nicht gelang, sich vollkommen in den Augen des Verlobten zu reinigen, so verlangte dieser in einer Stunde der heftigsten Aufregung die Echte zurück, indem er zugleich mit Hand und Mund dem Vater gelobte, er sei bereit, der reichen Erbin die Hand zu reichen, die ihm dieser vorgeschlagen und als passende Braut empfohlen habe.

Hanna berief sich auf ihr Recht und wich keiner Drohung. Die ihr gemachten Vorwürfe und Anschuldigungen nannte sie elende Verleumdungen, ersonnen von ihren Feinden, um sie zu verderben. Sie erklärte unumwunden, daß sie niemals ihre Rechte auf Heinz Osten aufgeben werde! Im Besitz der Echte durfte und konnte sie dies mit Fug und Recht thun, da ohne förmliche Rückgabe derselben ein neues Verlöbniß nicht stattfinden konnte.

Zu wiederholten Malen versuchten die nächsten Verwandten der Osten’schen Familie das hartnäckige Mädchen andern Sinnes zu machen. Vergebens! Osten selbst erbot sich zur Erlegung einer beträchtlichen Abstandssumme, wenn Hanna nur sofort die Echte herausgebe, allen Ansprüchen auf Heinz entsage und sofort auf Nimmerwiedersehen das Land verlasse.

Auch diese Vorschläge wies das eigensinnige Mädchen von der Hand, und es war vorauszusehen, daß aller Friede von Osten’s Hofe weichen werde, wenn es nicht gelinge, die Starrsinnige mit List oder Gewalt zu entfernen.

Zunächst griff man zur List, wozu ich selbst, im guten Glauben, dem Jugendfreunde einen Dienst zu leisten, die Hand bot. Heinz gab sich den Anschein, als reue ihn sein bisheriges Betragen, und als sei er Willens, sich mit Hanna wieder auszusöhnen. Er lud sie zu einer Ausfahrt nach Stade ein. Das Mädchen vertraute sich arglos dem Verlobten an. Geschmückt mit der von ihm erhaltenen Echte bestieg sie den segelfertigen Ewer, den ich mit zwei zuverlässigen Knechten führte. Wir verlebten einen lustigen Tag in Stade, gingen Abends wieder an Bord und steuerten stromaufwärts. Als es dunkelte, entfernten wir uns absichtlich weit vom Lande, was Hanna in den Armen ihres Verlobten nicht gewahrte. Ein Schiff, das nach England segelte, und mit dessen Capitain wir uns im Voraus schon verständigt hatten, begegnete uns in dem Augenblicke, als der Ewer auf einer sehr seichten Stelle hart am tiefen Fahrwasser auf den Sand lief und nicht wieder flott gemacht werden konnte. Das Schiff ward angerufen, ein Boot von diesem ausgesetzt und zu Hülfe geschickt. In der Verwirrung trat Hanna in das rettende Fahrzeug, strauchelte und fiel, im Fallen aber blieb die Echte in meiner Hand. Hana rief angstvoll nach Heinz, der zu folgen versprach, während unter schnellen Ruderschlägen das Boot schon bei dem Engländer anlegte. Die arme Bethörte rief noch den geliebten Namen, als schon des Schiffes Segel sich blähten, und wir den flott gewordenen Ewer mit Mühe wieder in’s Fahrwasser brachten. Drei Monate später erfuhren wir, daß Hanna sich nach und nach beruhigt habe, sehr still geworden und auf englischem Boden glücklich angekommen sei. Heinz verlobte sich bald darauf mit seiner jetzigen Frau. Anfangs war er sehr düster gestimmt. Er mochte wohl fürchten, die Getäuschte möchte wiederkommen und durch ihr Erscheinen sein häusliches Glück stören. Das geschah aber nicht. Hanna Moll war und blieb verschollen, und wir Alle glaubten, sie möge in England entweder gestorben sein oder daselbst sich durch ihre Vorzüge Freunde erworben und, wie so manches junge Mädchen des Auslandes, ihr Glück gemacht haben …“

Moritz Krahn fand als streng gewissenhafter Mann an dieser Mittheilung des Voigtes wenig Gefallen. Er zürnte Osten des Frevels wegen, den er, wenn auch mehr durch die Aufstachelung Anderer, als durch eigene Schuld, an einem schuldlosen Mädchen begangen hatte, und erblickte in diesem Frevel den Quell des Uebels,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 610. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_610.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)