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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Eben wegen der Schwierigkeit dieser Uebung empfehle ich sie nicht für die zweite Form der Skoliose, die linkseitige, obgleich sie, natürlich mit Hochstreckung des rechten statt des linken Armes, hier ebenfalls ganz nützlich wirken würde. Es giebt aber eine leichter zu erlernende Uebung, welche bei der oben beschriebenen Abweichung der Wirbelsäule nach links, die ja nicht blos durch den Gegensatz der Richtung, sondern auch durch die Form wesentlich von der rechtseitigen verschieden ist, ebenfalls zum Ziele führt, nämlich das in Schreber’s Zimmergymnastik unter Figur 8 abgebildete „einseitige Tiefathmen“. Der rechte Arm wird so weit über den aufrecht gehaltenen, nicht nach rechts geneigten Kopf gelegt, daß die Hand das linke Ohr berühren kann, und die linke Hand, Daumen hinten, Finger vorn, möglichst hoch, der Achselhöhle nahe in die linke Seite eingestemmt. In dieser Haltung erfolgt 10–30 Mal langsames, tiefes, bis an die Grenze der Möglichkeit ausgedehntes Athemholen; während jedes Athemzuges wird der Druck der linken Hand verstärkt. Auch diese Uebung bedarf täglich mehrmaliger Wiederholung.

So wirksam aber diese Uebungen beim ersten Anfang der Skoliosen sind, so werden sie doch die Formveränderung nicht beseitigen, höchstens nur ihre Zunahme aufhalten, sobald die Ursache des Uebels fortbesteht. Diese aufzuspüren und, wenn sie noch besteht, abzustellen, ist erste Vorbedingung für Heilung jedes, so auch des hier in Frage stehenden Gebrechens.

Ein sehr wichtiges Unterstützungsmittel der Cur ist ein fleißiges Selbstrichten des Patienten. Er stelle sich des Morgens und des Abends mit entblößtem Oberkörper vor den Spiegel und bringe den Rumpf in eine ganz gerade, gleichmäßige Haltung, gehe so in möglichst wenig gezwungener Weise durch das Zimmer und controlire dann seine Haltung wieder vor dem Spiegel. (Leichter erfolgt die Annahme der richtigen Haltung durch fremde Nachhülfe, welche aber schriftlich nicht gut zu lehren ist und daher hier nicht empfohlen werden soll.)

Gleichfalls Unterstützungsmittel, nicht aber Heilmittel, wie Viele annehmen, und besonders dann nützlich, wenn dabei der Körper kräftig zurückgenommen und recht tief geathmet wird, ist der Streckhang: die Hände sind nach oben gestreckt und halten eine wagrechte Stange oder Sprosse so umfaßt, daß der ganze gestreckte Körper von den Händen getragen wird.

Alle diese Vorschriften sind, ich wiederhole es, nur für den Nothfall und den ersten Anfang der Seitwärtsverkrümmung gegeben. Wer es kann, wird auch im Anfange freiwillig dasselbe thun, was er später wahrscheinlich thun muß: sein Kind für einige Zeit – zum Einlernen der nöthigen Uebungen – oder für die ganze Dauer der Behandlung einem fachkundigen Arzt anvertrauen.




Aus den Rechtshallen des Mittelalters.
Zusammengestellt von George Hiltl.
1. Der Scharfrichter.
Josua: „Siehst Du, mein Sohn, der Mann, welcher die Geschichte seiner Zeit am besten kennt: es ist der Schließer des Gefängnißthurmes.“
Simon Renard: „Sie irren sich hierin, Meister: es ist der Henker.“

               Victor Hugo in: Maria Tudor.

Das Urtheil ist verlesen. Die Thüren des Kerkers haben sich hinter den Richtern und Beamten geschlossen, welche dem armen Sünder angekündigt, daß sein Leib der weltlichen Gewalt anheimgefallen, um den Mord zu sühnen mit seinem Blute. Der Verfallene ist allein.

Noch immer schmeichelt er sich mit der Hoffnung auf Errettung, mit Begnadigung, mit Milderung, welche die Todesstrafe in ein lebenslängliches Gefängniß verwandelt. So vergehen einige Stunden. Auf’s Neue öffnen sich die schweren Kerkerthüren. Es tritt, von dem Gefängniswärter geleitet, ein kräftiger Mann in die düstere Zelle. Sein Kommen gilt dem Verurtheilten, den er sorgsam betrachtet. Er befühlt dessen Halswirbel, er mißt mit forschendem Blicke die Stärke der Muskeln; trägt der Verurtheilte langes Haar, so fällt es wohl unter der Scheere des einsylbigen Besuchers, der sich endlich mit kurzem Gruße empfiehlt.

Jetzt ist die Aussicht aus Rettung verschwunden. Der Besucher ist jene fürchterliche Person, die Handhabe des Blutgesetzes, das personifiziere „Aug’ um Auge, Zahn um Zahn“, es ist der Henker. Seine Beobachtungen des armen Sünders vollführt er mit Geschäftskenntniß, die Handgriffe verrathen den Meister in der entsetzlichen Praxis, der morgen ein neues Stück Arbeit vollenden soll.

Durch die ganze Weltgeschichte hindurch läßt sich die düstere Gestalt des blutigen Vollstreckers der Gerechtigkeit verfolgen. Ueberall taucht sie auf wie ein unheimlicher Bewohner des Hades. Sie fehlt bei keinem Triumphzug; das classische Alterthum hatte seinen Scharfrichter, wie das Mittelalter und die neueste Zeit ihn hatten und haben – gleichviel, ob das Richtschwert in seiner Hand blitzte oder ob diese Hand die Feder einer Maschine in Bewegung setzte, welche dem Todeskandidaten den Hals zerschnitt.

Die Beschäftigung des Henkers erreichte ihren Höhepunkt im Mittelalter. Nicht nur waren die Anzahl und Arten der Strafen vielfältiger, es waren auch die Ansichten über den Begriff „Verbrechen“ so mannigfach verschieden, daß fast für jedes Vergehen eine besondere Ahndung – eine besondere Qual geschaffen wurde. Hier ist vorzüglich jene Nachtseite der menschlichen Natur in Betrachtung zu ziehen, welche bis heute zum Theil noch nicht erhellt wurde, die Manie, gewisse Mitmenschen des Umganges mit dem Erzfeind – dem Teufel zu beschuldigen, eine Sucht, welche ein neues Verbrechen feststellte: die Zauberei. Unerklärlich in sehr vielen Fällen ist die Selbstanklage jener unglücklichen Verdächtigen, die, der Hand des Scharfrichters überliefert, in quälende Instrumente gepreßt, die übertriebensten Aussagen machten, um nur auf Augenblicke von der Pein erlöst zu werden, welche die Hand des Folterers ihnen durch Anlegung grausiger, mit teuflischem Scharfsinne zusammengesetzter Maschinen verursachte. – Der Henker war auch hier nur der Vollstrecker des Gesetzes. Er schraubte, quetschte und dehnte die Glieder seiner Opfer nur auf Befehl des peinlichen Richters. Aber die Menge warf einen tödtlichen Haß auf dieses Werkzeug der Gewalt. Sein Beruf ward für einen unehrlichen erklärt, jede Berührung von seiner Hand verpestete, und wenn er bei öffentlicher Ausübung seines Amtes auch mit schaudernder Bewunderung, mit angstvoller Neugier betrachtet wurde, so spähte doch zugleich emsig der Volkshaufe, ob nicht ein Fehler bei Vollstreckung der Hinrichtung zu entdecken sei, und wehe dem Henker, der nicht vollkommen kunstgerecht die Schnur um des Verurtheilten Hals schlang, oder dessen Hand nicht mit grausiger Fertigkeit das Haupt vom Rumpfe trennte, – er war der Volksjustiz ohne Erbarmen verfallen!

Vorzüglich durch diesen allgemeinen Haß ist es wohl üblich und nothwendig geworden, das Amt des Scharfrichters von Vater auf Sohn zu vererben. Wir finden in Frankreich, England und Deutschland berühmte Scharfrichterfamilien, die gleich kunstreichen Handwerkern, Gießern und Steinschneidern etc. auf ihre Nachkommen die Fertigkeiten des Scharfrichteramtes und damit das Amt selbst vererbten. – Dieses Amt war nicht von jeher in Händen einer Person gewesen, welche das Gesetz bestimmt hatte. Willkürlich ward irgend ein Trabant aufgerufen, die Strafe an dem Verurtheilten zu vollziehen. Selbst Fürsten vertraten häufig die Stelle des Scharfrichters, obwohl die Römer schon einen Diener der Gerechtigkeit hatten, der die Todesstrafe vollzog. Soldaten versahen in Kriegs- und Friedenszeiten meist das Amt des Henkers. Die also auserlesenen Personen waren dann mit der Scharfrichterwürde bekleidet und zwar so lange, als ihre Functionen währten. Merkwürdigerweise finden sich Beispiele, daß vor Belehnung mit dem Nachrichterpatente verschiedene Individuen Todesstrafen vollzogen, deren Beschäftigung sonst der grauenhaften Hantirung sehr entgegengesetzt war. So ließen im Kloster Heilbronn die Laienbrüder sich zu Scharfrichterdiensten gebrauchen, und 1562 henkte noch ein Franziskanermönch, mit der Kutte bekleidet, die Plünderer von St. Cyr und Chateaubilain. Das Stadtrecht von Reutlingen bestimmte, daß der jüngste Rathsherr Henkersdienste

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 616. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_616.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)