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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

den alterthümlichen Fensterbrüstungen, in denen einst die holden Frauen gesessen, und dann rings das im alten Gewande Neugeschaffene, die Thürme mit ihren schützenden Zinnen, mit ihren vom Morgenregen lebhafter gefärbten und schimmernden Mauern – alles dies gewährte ein Bild, das, belebt von der geschmückten Künstlerschaar, wie ein Nachklang aus vergangenen Zeiten erschien.

Stern edler Ahnen! Ludwig, kühner Springer,
Dem diese Halle Sein und Namen dankt;
Du, Landgraf Hermann, und Ihr Meistersinger,
Die Ihr Euch um den Heldenstamm gerankt;
Du, Geist Elisabeth’s, der heil’gen Mutter,
Die gläubig hier gelitten und gelebt,
Und Du, verklärter Schatten eines Luther –
Wie habt Ihr uns an jenem Tag umschwebt!

Wahrlich, man brauchte kein übersentimentales Herz zu besitzen, um zu dieser Stunde in einem Hochgefühle aufzugehen. Jeder – das sah man – war bemüht, dieses in unserer oft recht abstoßenden Gegenwart seltene Bild für immer dem Gedächtniß einzuprägen.

Da tönt es: „Zu den Tafeln!“ Und in alle zum Speisen ausgeschmückten Räume ergießt sich die Schaar der Gäste. Bald werden die im edelsten künstlerischen Geschmacke des Mittelalters decorirten Schenk- und Speisetische umlagert, und kaum gewinnt man Raum und Zeit, einen Blick auf den überaus reichen und originellen Schmuck, die Humpen, Schleifkannen, Geräthe, die gewaltigen Bären- und Auerochsenfelle, kurz auf all das mittelalterliche Tafelzeug zu thun. Und welche Fülle ausgesuchter Genüsse, bei deren Anblick freilich dem Feinschmecker – wegen der Schwierigkeit der Wahl – das Herz ganz besonders klopfen mag!

Doch wozu soll ich alle jene Freuden, die der Gäste hier harrten, noch aufzuzählen versuchen? Es dürfte mir wohl Niemand für eine noch so lebhafte Erinnerung Dank wissen. Steigen wir daher lieber hinauf in den Sängersaal, damit wir an derselben geweihten Stätte, wo im Jahre 1207 jener gewaltige Sängerkampf stattgefunden, die Erinnerung an dies erhabene Moment aus der Wartburggeschichte auffrischen, das uns im Bilde verkörpert lebhaft vor Augen tritt. Hier ist noch die Sängerlaube, wo die Dichter auftraten; dort stehen noch die Stufen, von wo sich die Landgräfin niederbeugte, um Ofterdingen zu schützen, da die andern Meister nebst Stempfel, dem Henker, auf ihn einstürmten, um ihn in patriotischem Eifer für das Lob zu strafen, das er dem Herzog Leopold VI. von Oesterreich gespendet hatte. Hier haucht uns noch die Sage von Klingsor, dem siebenbürgischen Meister der schwarzen Kunst, an, welcher durch seine überirdischen Kräfte und mit Hülfe seines Höllengeistes Nasian nach Jahresfrist Ofterdingen den Kampf bestehen geholfen. Jetzt hallen jene Wände nicht mehr wieder von Gesang und Saitenspiel; aber zu dem Wanderer, der ein Herz mitbringt, sprechen sie in Zaubertönen deutlich und verständlich, so daß er wähnt, das alte Leben erwache wieder. Das ist das selige Träumen, das Jeden auf dem sagenreichen Boden dieses Felsens beschleicht.

Wieder ertönen Trompetenklänge und rufen alle Gäste hinauf in den Festsaal. Wir steigen die Wendeltreppe hinan, oben begrüßt von alten Steinbildern, einem gewappneten Wächter, einem lustigen Spielmann und einem von dem Treiben sich entsetzt abwendenden Mönche. Noch einige Schritte, und wir begrüßen sie, die schimmernde Halle mit ihrem lustigen Söller, ihren Symbolik athmenden Ornamenten, die in den verschiedensten Beziehungen zu Glauben, Sage und Volksleben stehen. Ueber uns die den Himmel versinnlichende Decke und die von scheinbar abenteuerlichen, aber vielbedeutenden Gestalten ausgehenden Dachbinder. Hohe, würdige Gestalten blicken von den Wänden auf uns herab. Hier Karl der Große, der Stammvater der thüringischen Fürsten, dort Ludwig der Springer, dort wieder Hermann I. und Elisabeth, seit dem Mai 1234 die Heilige benannt. Und hinaus schweift unser Blick aus den nach Süden gelegenen Fenstern, und wir treten auf den Balcon, auf dem auch eine leidende Mutter und flüchtige Fürstin oftmals gesessen und in die Ferne geblickt hat. Hier war das Lieblingsplätzchen der Herzogin Helene von Orleans. – Doch genug der Betrachtung. Eine geistige Feier harrt hier unser, eine Feier durch Wort und Lied im Sinne entschwundener, uns jetzt verklärt erscheinender Zeiten. Das war nicht eine streng-künstlerische Feier, keine Aufführung, kein zu berechnendes Programm. Hier brach die vaterländische Begeisterung, nachdem sie, wie die Flamme am Hause, an einzelnen Stellen hervorgeleuchtet hatte, endlich mit Macht durch und schlug aus allen Herzen lodernd empor. Hier wurde das Künstlerfest im edelsten Sinne ein vaterländisches, bei dem sich alle Gäste als Brüder eines Stammes, als Deutsche die Hand drückten. Darum zündeten jene Worte so, mit welchen der von einem Sängerchor uns entgegengebrachte Wartburggruß schloß:

„Und regt sich einst sehnsüchtig leise
Im eignen Herz die Schöpferkraft,
Daß Ihr in vaterländ’scher Weise
Ein Werk schafft, kühn und heldenhaft:
Dann seid gewiß, Ihr deutschen Meister,
Wo Ihr auch weilt im deutschen Land,
Daß Euch der Wartburg gute Geister
Von Neuem ihren Gruß gesandt.“

Und als Niemann aus Hannover in hinreißendem Vortrage das populär gewordene Lied des Ivanhoe aus Marschner’s „Templer und Jüdin“ mit einem trefflich unterlegten Texte sang, wovon die eine Strophe der Kunst, die andere dem Fürsten, die letzte dem Vaterlande galt: da war die Theilnahme der den Saal füllenden Menge so gewaltig, daß der Sänger kaum enden konnte, vielmehr Alles von selbst in die Schlußworte einstimmte. Von den Wänden dröhnte der Ruf „dem deutschen Vaterland!“ wieder, begeistert schwenkte Jeder – der Erbgroßherzog voran – den Hut, und Jeder fühlte und gestand es, daß hier das schöne Fest seinen Gipfelpunkt gefunden haben müsse.

Und so ist es auch gewesen. Fröhlich und befriedigt sind bald darauf die deutschen Künstler von der alten, Allen so lieb gewordenen Wartburg herabgestiegen in die grünen thüringischen Thäler. Sie haben sich wieder in alle Winde verstreut, Jeder nach seiner Heimath, um im gewohnten Kreise weiter zu schaffen und zu wirken. Aber Eins haben sie mitgenommen, das ist ein Gefühl der frischen Zusammengehörigkeit, ein Gefühl der Verehrung für ein von echter Kunst- und Vaterlandsliebe beseeltes Fürstenhaus, ein Gefühl festlicher Stimmung, das sie bis zum nächsten Beisammensein geleiten und ihnen das Andenken an diesen neuen Ehrentag der Wartburg frisch erhalten wird.

Als wir später durch’s Thal zogen, schimmerte die Wartburg in feurigem Glanze, wie verklärt. Mancher gedachte dabei der schönen Worte Tiedge’s, die er in das Gedenkbuch der Veste geschrieben und mit denen auch wir vom Leser Abschied nehmen wollen:

Das, was die Zeit verschlungen,
Geht morgenröthlich aus,
Und aus Erinnerungen
Blüht helles Leben auf. –




Blätter und Blüthen.

Berliner Originale. Mit Recht klagt man gegenwärtig darüber, daß die Zahl der interessanten Originale immer seltener wird. Das großstädtische Leben schleift die Charaktere ab und verwischt das eigenthümliche Gepräge leider stark ausgesprochenen Individualität. In früherer Zeit fehlte es auch in Berlin nicht an originellen Erscheinungen, unter denen der berühmte Theolog, Professor Neander, und seine ihm ebenbürtige Schwester einen hervorragenden Rang einnahmen. In den dreißiger Jahren begegnete man häufig unter den Linden dem seltsamen Paare, das allgemein durch seine Kleidung und Haltung Aufsehen erregte. Die zärtlichste, innigste Liebe verband die Geschwister, welche in der That Inseparables waren und sich nie von einander trennten. Der große Gelehrte litt an einer wirklich außerordentlichen Zerstreutheit und war trotz seines Geistes in allen praktischen Verhältnissen des Lebens ein wahres Kind, so daß er ohne seine Schwester keinen Schritt thun konnte. Sie sorgte mit bewundernswürdiger Hingebung und Aufopferung für sein Hauswesen, für seine Nahrung und Kleidung und begleitete ihn auf allen seinen Spaziergängen. Eines Tages hatte Neander es gewagt, ohne Wissen seiner Schwester ein neues Paar Beinkleider anzuziehen und die alten abzulegen. Während er nach der Universität ging, um daselbst sein Collegium zu lesen, fand seine Schwester die abgelegten Hosen ihres Bruders in dessen Studirstube. Sogleich schoß ihr der Gedanke durch den Kopf, daß der zerstreute Gelehrte dieses nothwendige Kleidungsstück vergessen und als Sanscülotte ausgegangen sei. Sie beschloß ihm nachzueilen, nachdem sie die zurückgelassenen Beinkleider unter ihrem Tuche verbarg. Athemlos stürzte sie nach der Universität und ließ durch einen gefälligen Studenten ihren erstaunten Bruder aus dem Hörsaale herausrufen, um ihm die vermeintlich vergessenen Beinkleider verschämt zu überreichen.

Neander’s Zerstreutheit war so groß, daß er einmal in Gedanken

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 622. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_622.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)