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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

sie mit den Kindern auf den Armen und unter dem Geschrei nach Brode dem unglücklichen Manne in das Bureau gefolgt war, wie er unter dem Drucke des Moments in seinem Arbeitssessel zusammenbrach und wie endlich sein tiefer, brennender Schmerz in heiße Thränen sich ergoß!

In die dunkelsten Farben müßte man die Feder tauchen, um ein solches trauriges Bild zu zeichnen; selbst das vollendetste Gemälde – wie weit würde es hinter die Tragik der Wirklichkeit zurücktreten müssen! Und nun denke man sich einen solchen Mann auf dem Posten eines Sportelerhebers. Einen Finger nur braucht er zu rühren, um den Hunger seiner Familie zu stillen, welch ein sittlicher Muth gehört dazu – ein treuer Mensch zu bleiben!

Ist es unter solchen Umständen ein Wunder, wenn alljährlich die Zahl der pflichtvergessenen Beamten größer wird? ist es ein Wunder, wenn andere wieder in dumpfer Verzweiflung hinsiechen, weil ihre Kraft gebrochen ist, weil sie kein Mittel, keine Waffe in ihren Händen fühlen, um den über sie hereinbrechenden Schicksalsschlägen Trotz zu bieten? In der That, es ist unbegreiflich, daß sich noch Menschen für diese traurige Laufbahn finden, und wir können es nur als eine erfreuliche Erscheinung begrüßen, daß der Mangel an jüngeren Actuarien schon jetzt immer fühlbarer wird.

Zeit ist es bei Gott, daß dieser traurigen Lage der Bureaubeamten ein Ende gemacht wird, und es ist wirklich eine räthselhafte Erscheinung, daß in unserem Zeitalter der Humanität Zustände andauern, die der Menschlichkeit Hohn sprechen und unter deren fortgesetztem Drucke ein sonst so ehrenwerther Stand dem sittlichen Ruin entgegengeht.

J. S.


Deutsche Nationalfeier der Völkerschlacht bei Leipzig. Während in manchen Schichten der Leipziger Einwohnerschaft noch heute der Eindruck des großen Turnfestes so nachhaltig wirkte, daß sie einer Feier der fünfzigjährigen Wiederkehr der Schlachtentage nicht ohne Bedenklichkeit entgegenblickten, und während das Leipziger Festcomité noch über die Art der Feier berieth, deren Theilnehmerschaft sich kaum weit über die Dörfer des Schlachtengebietes ausgedehnt haben würde, erhebt plötzlich der Entschluß der ersten Stadt Deutschlands das Fest zu einem nationalen, das seine Gäste aus allen Städten des gesammten Vaterlandes abermals nach Leipzig berufen soll.

Vier Männer, die Jeder, der in unseren Tagen weiß, was er soll, wenn er sich einen Deutschen nennt, mit stolzem Herzen begrüßt, die Berliner Stadträthe Dunker und Löwe und die Stadtverordneten Delbrück und Professor Dr. Virchow, brachten am 12. Septbr. vom Magistrate von Berlin an den Stadtrath von Leipzig die Aufforderung: „mit ihm gemeinsam die erforderlichen Schritte einzuleiten, daß die fünfzigjährige Wiederkehr des ruhmvollsten Tages der deutschen Geschichte auf den Schlachtfeldern Leipzigs durch ein allgemeines nationales Fest in einer seiner würdigen Weise gefeiert werde.“ In vollem Einverständniß erließen demgemäß der Rath der Stadt Leipzig und der Magistrat der königlichen Haupt- und Residenzstadt Berlin unterm 14. September zunächst an 107 deutsche Landes- und Bezirkshauptstädte die Einladung: „sich mit ihnen zu verbinden, um am 18. und 19. October dieses Jahres auf dem Leipziger Schlachtfeld ein Volksfest im höchsten Sinne des Wortes zu veranstalten.“

Ehe unsere Leser dieses Blatt in die Hand bekommen, ist bereits (in der Sitzung am 23. Septbr. auf dem Rathhause zu Leipzig) aus den Abgesandten der deutschen Städte der permanente Festausschuß ernannt, welchem nun in Gemeinschaft mit dem in Leipzig bestehenden Local-Festcomité die Ausführung des Ganzen obliegt.

So steigt nun abermals die Sonne eines nationalen Festes vor uns auf, dem jedes deutsche Herz mit höherer Regung entgegenschlägt. Diese höhere Regung ist hervorgerufen durch die immer mächtiger hervortretende Sehnsucht der Deutschen nach einem Vaterlande! Die Dynastiensouverainetätssucht hat manchem Begriffe Gewalt angethan, keinem aber mehr, als dem des heiligen Wortes „Vaterland“. An der Denksäule der 30,000 Bayern, die in Rußland für napoleonisches Weltbeherrschergelüste zu Grunde gegangen sind, steht geschrieben: „Auch sie starben für’s Vaterland.“ Für welches? fragt erstaunt der Deutsche. „Für das bayerische!“ – Das neue Fest zu Leipzig wird es mehr als alle bisherigen deutsch-nationalen Feste lehren, daß jeder rechte Mann mit wärmstem Herzen an seiner preußischen, an seiner bayerischen, sächsischen, wie an seiner lippischen und reußischen Heimath hängen kann, aber daß über Alles ihm gehet die Liebe zu dem Vaterlande, das Deutschland ist! – Vergeblich haben sie fünfzig Jahre lang daran gearbeitet, uns jede einzelne Heimath zu einem besondern Vaterland zu machen; es konnte nicht gelingen, weil keine Macht, keine List, keine Zeit die Sehnsucht aller Deutschen vertilgen kann, die Sehnsucht aus der Heimath nach dem Vaterlande!

Fr. Hfm.


Beitrag zum polnischen Pitaval. Ein alter Leser der Gartenlaube im Königreich Polen erzählt uns nachfolgende Geschichte und steht uns mit seinem ehrlichen Namen für deren actenmäßige Wahrheit ein. In der Woiwodschaft K. hatte das Criminalgericht einen Verbrecher zum Galgen verurtheilt und ließ an einem schönen Herbstnachmittag die Execution ausführen. Längst ist die landübliche Zuschauerschaft verlaufen, als ein polnischer Gutsbesitzer aus der Stadt nach Hause fährt. Der Weg führt ihn am Galgen vorüber, und da sieht er, wie der Gehenkte sich noch mit den Füßen bewegt. Rasch entschlossen befiehlt er seinen Leuten, den Menschen abzuschneiden und auf den Wagen zu laden. Kutscher und Bedienter sind bald mit dieser Arbeit fertig, und bei dem tüchtigen Stoßen und Rütteln des Wagens kommt der Mann des Galgens bald wieder zum Leben. Auf dem Gute angelangt, läßt der Edelmann seinem sonderbaren Gaste Abendbrod und dann ein Nachtlager anweisen. In derselben Kammer lagen die Einkäufe, die der Gutsherr aus der Stadt K. mitgebracht, auf einem Tische, und darunter ein Paar Halbstiefeln von grünem Saffian, wie sie damals zur Nationaltracht des polnischen Adels gehörten.

Bald schlief Alles im Hause, nur unser Galgenvogel fand keine Ruhe. Mitten in der Nacht steigt er auf, zieht die grünen Stiefel an, schleicht sich aus der Wohnung in den Pferdestall und will eben mit ein Paar Pferden das Weite suchen, als er vom Gutsnachtwächter erfaßt wird. Dieser Sicherheitsmann schlägt den Flüchtling mit dem Wächterspieß so kräftig über den Kopf, daß er zu Boden sinkt, und wie er das Werk seiner Hände nun näher untersucht, findet er, daß er Einen todt geschlagen hat. Sofort meldet er diesen Vorfall dem Beamten des Gutes, und dieser meldet ihn dem Gutsherrn, der, ohne viel zu fragen, befiehlt, den Todten wieder an den Galgen zu hängen, von dem er ihn genommen hatte. Alles dies wurde noch in der Nacht glücklich besorgt, nur an die grünen Stiefel hatte in der Eile Niemand gedacht, und das war schlimm, denn kaum hatte der nächste Morgen einige Gutsbesitzer desselben Wegs hergeführt, als diese nach K. zur Polizei stürmten, um wegen einer entsetzlichen Verhöhnung des gesammten polnischen Adels Klage zu erheben. Eine Commission fährt zum Galgen, findet in der That die grünen Adelsstiefel an den Füßen des Gehenkten, zieht sie diesem sofort ab und nimmt sie mit nach K. Hier wird der Oberälteste der Schuhmacherzunft von der Polizei citirt und erhält den Befehl, das ganze Handwerk zusammenzurufen, und nachdem die Schaar der ehrsamen Meister vom Pfriem zusammengebracht ist, wird ihnen das entehrte Stiefelpaar vorgezeigt und der Verfertiger desselben aufgefordert, sich zu nennen. So trat denn der richtige Mann hervor und war auch im Stande, als seinen Kunden den betreffenden Gutsbesitzer zu bezeichnen. – Die einfache Aufklärung, die dieser vor der Polizei gab, genügte bei Weitem nicht zur Beruhigung des empörten Stolzes, die Klage ging an die höheren Gerichte über, und jenen Gutsbesitzer traf eine äußerst kostspielige Strafe, nicht weil er ein dem Tode verfallenes Menschenleben unbefugterweise zu retten gesucht, und auch nicht, weil auf seinem Gute an dem Geretteten ein Todtschlag begangen worden, sondern Alles nur wegen abscheulicher Schändung der grünsaffianenen Nationalstiefelchen des polnischen Adels.


Zur Nachricht!

Mit dieser Nummer schließt das dritte Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

[Anm. WS: weiterer Text nicht transkribiert, enthält summarische Vorankündigung der im 4. Quartal zu erwartenden Beiträge]


Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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