Seite:Die Gartenlaube (1863) 638.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

darf es betreten, welcher nicht durch eine Karte, die er überall als Legitimation bei sich zu tragen hat, dazu ermächtigt ist.

Man würde aber sehr im Irrthum sein, wenn man sich vorstellen wollte, der Soldat lebe hier einzig und allein seinem Berufe, ohne sich jemals der Erholung und der fröhlichen Muße hinzugeben. Der Franzose, sei er nun Soldat, gehöre er zu der Zunft der Handwerker oder zu den höhern Gliedern der Gesellschaft, kann einmal ohne Vergnügen und einen gewissen Grad von leichtsinniger Sorglosigkeit, die viel von Genialität an sich hat, nicht existiren. Wer also den Soldaten zum selbstbeschaulichen Einsiedler machen wollte, der würde ihm seine ureigenste Natur nehmen, und da er sich niemals zu einer gedankenlosen Maschine umformen läßt, so bliebe an ihm nichts übrig, als ein unbrauchbares Individuum.

Das hat der Kaiser sehr wohl eingesehen, denn er kennt den Charakter seiner Nation eben so gut und vielleicht noch besser als sein großer Onkel, dessen zahlreiche Kriege zu stehenden Lagern keine Zeit übrig ließen. Es ist deshalb in diesem Lager für Alles gesorgt, was zur Erheiterung der Sinne, zur Bequemlichkeit und Annehmlichkeit des Körpers dient. In dem nahen Städtchen Mourmelon hält der Kaiser sogar eine stehende Theatergesellschaft, welche für Erheiterung des Geistes und Vermehrung des Patriotismus sorgt.

Um dem Soldaten auch in dienstlicher Hinsicht das Lagerleben angenehm zu machen, wird ihm die Befolgung der Pflicht so leicht als möglich gemacht und Manches stillschweigend nachgesehen, was in Residenz- und Garnisonstädten nicht ohne ernstliche Rüge oder Strafe hingehen würde. Ganz und gar aber bietet sich hier keine Aehnlichkeit mit unserem strammen Paradedienste. Kleine Unregelmäßigkeiten werden mit Absicht nicht gesehen; die Nachsicht geht so weit, daß man sogar zuweilen einen Soldaten in voller Equipirung mit der Cigarre im Munde antreffen kann.

Von der Cordialität, welche zwischen Officieren und Gemeinen, unbeschadet des nothwendigen und nie versagten Respectes, besteht, wird man einen Begriff bekommen, wenn ich sage, daß der Spahi es sich unter Umständen erlauben darf, ein paar Züge aus des Officiers Cigarre zu thun und sie ihm dann behend wieder zwischen die ebenfalls lachenden Lippen zu schieben.

Es steht ein vollständig equipirtes Pferd an einem Zelte angebunden; ein Bummler, der sich mit seiner Erlaubnißkarte das Lager besieht, oder ein unbeschäftigter Soldat nimmt die günstige Gelegenheit wahr, schwingt sich hinauf, vergnügt sich ein paar Augenblicke im Sattel und kehrt dann mit einem unbändigen Vergnügen zum Zelte zurück. Auf standesmäßigen Anzug und untadelhaft glänzende Uniform legen solche provisorische Reiter natürlich kein besonderes Gewicht; es kommt vor, daß man einer Cavalcade im bloßen Hemde begegnet, wo dann dem befremdlich aufschauenden Besucher der Gedanke nahe kömmt, es seien die Geister der auf den catalaunischen Gefilden von Aëtius erschlagenen Hunnen. Aber das Völklein hat von Geistern keine Spur; es lacht und jubelt toll und ausgelassen und möchte sich im wilden Uebermuthe von den Rücken seiner Hengste zu dem blauen Gewölke des Sommerhimmels erheben.

Für den echten Reiter ist die Behandlung der Pferde, wie sie durchweg Regel ist, nicht befriedigend; sie ist mit einem Worte nicht reitermäßig und erregt zuweilen eine stille Entrüstung. Es ist zum Beispiel gar nichts Seltenes, daß die Officiere, wenn sie außer der Dienstzeit reiten, mit ihren Spazierstöcken darauf losschlagen; ebenso muß man das häufige Bluten durch die Behandlung mit den Sporen beklagen. In Folge der unzweckmäßigen Behandlung ist die Gangart schlecht und die Thiere sind hartnäckig, aber der Reiter sitzt nichts destoweniger flott und zeigt keine Spur von gezwungener Steifheit; er ist auch auf dem Pferde Franzose.

Ich kann es hier nicht unterlassen, eines Vorfalls zu erwähnen, der einem deutschen Herzen wehe thut. Einem Pferde war das rechte Vorderbein gebrochen, es lag hülflos und in großen Schmerzen auf dem Boden. Im Nu sammelten sich große Schwärme von Fliegen und Ameisen auf dem armen Geschöpfe, zerfraßen und peinigten es eine ganze Stunde lang. So mußte das geplagte Thier hülflos seinem Ende entgegenharren, ehe es von einer mitleidigen Hand getödtet wurde. Das hätte ein Deutscher nicht über sich vermocht.

Trotz dieser schlechten, ich möchte sagen rohen Behandlung, sehen die Pferde gut und rund aus, weil sie besser und reichlicher gefüttert werden, als bei uns. –

Wenden wir uns zu dem Lager selbst. Es bildet so zu sagen eine große Stadt und ist ungefähr wie Mannheim gebaut; 25 Fahrstraßen, vom Militärgenie angelegt, führen aus demselben sternförmig nach allen Richtungen Frankreichs, so daß sich die Truppen leicht dorthin dirigiren und zurückrufen lassen. Es ist gleichsam wie ein großes Spinngewebe, in welchem die Radienfäden sich aus dem Centrum nach der Peripherie richten.

Der Natur der Sache gemäß zerfällt es, wie z. B. das römische in Colonia Agrippina, in ein Winter- und Sommerlager. Das Winterlager, welches den Soldaten auch vor den Unbilden der Witterung zu schützen hat, befindet sich im Mittelpunkte und besteht aus kleinen, gemauerten Baracken, vor welchen an geeigneten Stellen hübsche Trinkstuben angebracht sind, wo der Soldat in freien Stunden seine Zeit mit Spielen, Rauchen, Singen und cameradschaftlichen Gesprächen todtschlägt.

An beiden Flügeln schließt sich das Sommerlager in langen Zeltreihen an. Diese Zelte sind rund, nach arabischer Einrichtung und fassen je 14–20 Mann. Das Aeußere dieser Zeltstraßen aus weißer Leinwand bietet schon wegen der großen Ausdehnung einen imposanten Anblick. Tritt man hinein, so findet man die größte Sauberkeit und Nettigkeit rings umher. Nirgends liegen verstreuete Strohhalme und Ueberbleibsel, welche an eine unbehaglich durchwachte Nacht erinnern, denn die Soldaten schlafen auf Strohmatten und haben zur Bedeckung schwere wollene Decken. An den Zeltstangen in der Mitte hängen Gepäck und Lederzeug, wodurch das Ganze einen echt soldatischen Anblick erhält. Die Officierzelte unterscheiden sich in der Form von denen der Soldaten; sie sind eckig.

Begreiflicherweise bedarf eine Lagerbevölkerung von 40,000 Mann einer großartigen Verproviantirung, die zum Theil aus bedeutender Ferne herbeigeschafft werden muß. Der Kaiser hat deshalb Vorkehrung getroffen, daß die Eisenbahn von Rheims direct in’s Lager, die von Chalons nahe an dasselbe führt. Mit jedem Zuge kommen ganze Ladungen von unentbehrlichen Bedürfnissen, die vom Militär in Empfang genommen und auf Lagerwegen nach allen Richtungen der Zeltstadt versandt werden.

Der Leser kann sich selbst eine ungefähre Rechnung von den Massen machen, welche hier tagaus, tagein verconsumirt werden. Nehmen wir beispielsweise den Fleischconsum per Tag und Kopf zu ½ Pfund an, so macht das täglich das enorme Gewicht von 20,000 Pfund. Man wird also nicht übertreiben, wenn man annimmt, daß das Lager von Chalons jährlich 7–8000 Ochsen verbraucht. Wie viel Bier und Wein nöthig ist, solche furchtbare Portionen hinunterzuschwemmen, wie viel Kartoffeln, Gemüse, Butter, Schmalz, Geflügel, Wildpret, Obst etc. etc. erforderlich sind, den Tisch der Officiere und Soldaten anständig zu versorgen, entgeht freilich unserer Berechnung, aber die Masse ist sicherlich nicht gering. Man kann sich demnach zur Genüge vorstellen, daß jeder Zug seine Waggons für das Lager bringt.

Die Eisenbahn von Chalons geht nicht bis in das Lager, sondern in der Nähe desselben vorüber. Die nächste Station ist das Städtchen Mourmelon; von hier führt eine Zweigbahn in’s Lager, die besonders für dasselbe erbaut ist. Alle diejenigen Lagerbedürfnisse nun, welche von Chalons kommen, bleiben auf dem Verladungsort von Mourmelon stehen, und von hier werden die Waggons auf der vorhin erwähnten Zweigbahn von Militärpferden in das Lager gezogen.

Diese Bahn ist abschüssig und wendet sich dem Lager in einem Bogen zu. An denjenigen Stellen, welche den stärksten Fall haben, ist der Transport der schweren Waggons nicht ohne Gefahr zu bewerkstelligen, denn trotz der Hülfe durch starke Bremsen sind die Pferde genöthigt, in scharfem Galopp zu laufen. Haben sie die Stelle erreicht, wo die Waggons durch die Neigung der Bahn allein in das Lager laufen können, so müssen die Pferde in vollem Galopp losgemacht werden. Dieses geschieht auf eine einfache und sinnreiche Weise ohne Zeitverlust und Stillstand, durch rasches Enthaken; die Pferde stieben rechts und links auseinander und überlassen es den Gesetzen der Schwere, den Dienst für sie zu verrichten.

(Der Schluß des Textes und die Erklärung unseres heutigen Bildes folgt in nächster Nummer.)



Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 638. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_638.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)