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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Blätter und Blüthen.

Mutter Gräbert. Berlin besitzt gegenwärtig acht Theater, welche mehr oder minder die Schaulust und den Geschmack des Publicums befriedigen. Darunter nimmt unstreitig das sogenannte „Vorstädtische Theater“ vor dem Rosenthaler Thore eine höchst beachtenswerte und originelle Stellung ein. Es entspricht noch am meisten dem Begriffe und den Ansprüchen einer wirklichen Volksbühne, deren vollkommene Realisirung freilich ein frommer Wunsch bleiben wird.

Vor langen Jahren lebte in der Residenz ein unter dem Namen „Vater Gräbert“ wohlbekannter Schenkwirth vor dem Rosenthaler Thore, der durch die Derbheit und Ungenirtheit, womit er seine Gäste behandelte, allgemeines Aufsehen erregte. Bei dem geringsten Scandal beförderte er dieselben eigenhändig und ohne viele Umstände vor die Thüre. Außerdem besaß er eine wahrhaft demosthenische Beredsamkeit, die er mit allerhand kräftigen Redensarten im Style der Berliner Hökerinnen zu würzen verstand. Eine derartige Rede des Vater Gräbert erregte stets die ungeheuerste Heiterkeit seiner Gäste, die allerdings seinen Eifer nur noch mehr steigerte. „Vater Gräbert! Rede halten!“ brüllte das Publicum, worauf der würdige Rhetor seine Tribüne, eine leere Biertonne, bestieg und die Versammlung gewöhnlich mit den Worten begrüßte: „Meine Herren! Sie sind dumme Jungen!“ – Der Zauber einer solchen Beredsamkeit verfehlte seine Wirkung nicht, das Geschäft florirte, und Vater Gräbert wurde nicht nur ein populärer, sondern auch ein wohlhabender Mann. Sein Ehrgeiz erwachte, und er beschloß mit seiner einträglichen Bierwirthschaft ein Kunstinstitut zu vereinen. Mit richtigem Scharfblick erkannte er die Bedeutung des Ballets und der Pantomime, worauf er um so mehr angewiesen war, da ihm anfänglich die Concession zu einem ordentlichen Theater versagt wurde. Diese Vorstellungen, bei denen, wie in der italienischen Pantomime, Prügel und Schläge den Hauptreiz bildeten, fanden einen rauschenden Beifall. Bald gehörte es zum guten Ton, das Ballet vor dem Rosenthaler Thore zu besuchen und sich von Vater Gräbert anreden und herauswerfen zu lassen. Mit der Zeit erhielt der würdige Mann die Erlaubniß, Lustspiele und Schauspiele aufzuführen, die er so gut benutzte, daß er mit Hinterlassung eines bedeutenden Vermögens starb.

Seine Wittwe setzte das Geschäft mit ungeschwächten Kräften fort; als praktische Frau hatte die neue Frau Directorin den großen Vortheil erkannt, der aus der Vereinigung einer Bierwirthschaft und Restauration mit der Kunst für sie erwuchs. Nach wie vor schmierte sie daher Butterbrod, verkaufte sie Schinken, Wurst und Käse, schenkte sie Weißbier und Bairisch aus, während sie die Leitung des Theaters mit Hülfe eines umsichtigen Regisseurs fortführte, mit der einen Hand den Küchenlöffel, mit der andern Hand den Directionsstab schwingend, bald einem Kunden ein frisches Seidel, bald einem ihrer Schauspieler eine neue Rolle verabreichend. Dabei gedieh aber das Theater, vielleicht durch diese stärkende Verbindung mit der Küche, immer mehr und mehr, so daß Frau Gräbert gegenwärtig eine reiche Frau ist und unstreitig unter den Privatunternehmern Berlins die besten Geschäfte macht. – Das Theater selbst macht einen durchaus freundlichen und angenehmen Eindruck; das Publicum besteht meist aus dem mittleren Bürgerstande, aus kleinen Kaufleuten, Fabrikanten und Handwerkern, die sich nach der Arbeit mit ihren Frauen und Töchtern erholen und sich einen geistigen Genuß verschaffen wollen. Es ist das beste und empfänglichste Publicum von der Welt, voll rührender Andacht und Hingebung an die Kunst. Hier findet man keine Spur von jener Blasirtheit der höheren Stände, sondern eine Aufmerksamkeit und ein Interesse an der Darstellung, wie sie sich nur ein Dichter wünschen mag. Die Leiden des Helden, die Klagen der ersten Liebhaberin wecken das Echo in der Brust der Zuschauer und besonders der zarten Zuschauerinnen, deren schöne Augen sich mit Thränen füllen. Viele der letzteren trocknen dieselben statt mit dem Taschentuche zuweilen mit dem Strickstrumpf, den sie, um nicht müßig zu gehen, in das Theater mitbringen. Die Stricknadeln sind gleichsam das Barometer ihrer Empfindungen, indem jene um so rascher bewegt werden, je rührender das Stück ist.

Eine sehr unangenehme Stellung hat der Schauspieler, welcher den Bösewicht oder Intriganten spielt. Für die schlechten Handlungen, welche ihn der Dichter begehen läßt, wird er verantwortlich gemacht, und wenn ihn zuletzt die gerechte Strafe und das Schicksal ereilt, ertönt ein unbarmherziges Freudengeschrei, und auf allen Gesichtern der braven Männer und ihrer wohlbeleibten Frauen glänzt der Ausdruck vollkommener Befriedigung, wenn „der niederträchtige Kerl“ endlich fällt oder von dem Helden „erdolcht“ wird. Vorzugsweise erfreut sich das Trauerspiel mit seinen Schrecken der Gunst dieses Publicums, das im Gegensatz zu den sogenannten gebildeten Theaterfreunden eine tüchtige Portion von Elend, Jammer und Noth zu ertragen vermag und keineswegs an schwachen Nerven leidet. Hier darf ein Dichter wirklich tragische Effecte wagen, vor denen die verwöhnten und entnervten Zuschauer des Hoftheaters zurückschaudern. Aber auch das Lustspiel und die Posse können auf dankbare Anerkennung rechnen, und wo die feine Welt kaum die Mundwinkel verzieht, wird hier aus vollem Halse gelacht. Hand in Hand mit dieser geistigen Gesundheit und Empfänglichkeit geht auch eine entsprechende Verdauungsfähigkeit des Magens. In den Zwischenacten werden Berge von belegten Butterbroden und unzählige Seidel Bier vertilgt. In Anbetracht dieses Umstandes trägt auch die praktische Frau Directorin Sorge, daß die Zwischenacte so lange als möglich dauern, damit um so mehr verzehrt werde.

Was nun die darstellenden Künstler und Künstlerinnen betrifft, so muß man ihnen nachrühmen, daß sie mit ganzer Seele bei der Sache sind. Mancher berühmte Hofschauspieler dürfte sich den heiligen Ernst und die Gewissenhaftigkeit dieser Collegen zum Muster nehmen, von denen er nur mit Achselzucken spricht und auf die er hochmüthig niederschaut. Die braven Leute gehen ganz und gar in ihrer Aufgabe auf und identificiren sich ganz mit den von ihnen darzustellenden Charakteren. Nirgends sieht man auf der Bühne so vollkommene Bösewichte, so tapfere Helden, so schmachtende Liebhaberinnen, als auf dem Vorstädtischen Theater. Der Held ist jeder Zoll ein Held und strengt alle seine Muskeln und besonders seinen Kehlkopf auf das Furchtbarste an, daß die Coulissen wackeln. Je mehr er aber rast und brüllt, desto lauter ist der Beifall des Publicums, das auch in dieser Beziehung die Zuschauer des Hoftheaters weit hinter sich zurückläßt, die erst einer Anregung von seiten der Claque bedürfen. Hier findet der Künstler noch Beifallssturm und donnernde Bravo’s, welche ihn für die geringe Gage entschädigen müssen.

Auch seine Dichter besitzt das Vorstädtische Theater, meist junge Poeten mit vollem Herzen und leerem Magen, die vom Ruhme leben, da das Honorar für ihre unsterblichen Werke nur wenige Thaler beträgt. Zuweilen giebt die großmüthige Frau Directorin von freien Stücken ihnen ein Benefiz, bestehend aus einer Hammelkeule und einem Glase Grog oder Punsch. Die Mehrzahl der aufgeführten Dramen sind Bearbeitungen nach dem Französischen, oft mit großem Geschick den hiesigen Verhältnissen angepaßt. Je schauerlicher der Inhalt, desto größer der Beifall. Gewöhnlich haben diese Stücke einen socialen Hintergrund, indem ein edler, aber armer junger Mann oder ein edles, aber armes schönes Mädchen die Hauptrolle spielt und zuletzt nach allen möglichen Chicanen und ausgestandenen Qualen glücklich wird und eine anständige Partie macht. Auch ältere classische Dramen und selbst Schiller’s Meisterwerke werden hier aufgeführt, und es ist gewiß vom höchsten Interesse, die Wirkung dieser poetischen Schöpfungen auf ein derartiges Publicum zu beobachten. Aus eigener Anschauung können wir die Versicherung geben, daß Schiller’s „Jungfrau“ selbst in dieser mangelhaften Aufführung einen größeren Eindruck auf diese Zuschauer macht, als auf das blasirte Parquet und die Logen des Hoftheaters, indem hier jede dramatische und poetische Schönheit wahrhaft enthusiastischen Beifall fand. Ein Besuch des Vorstädtischen Theaters wird in mehr als einer Beziehung auch den Gebildeten interessiren und ihm hinlänglichen Stoff zum Nachdenken über den Nutzen und die Bedeutung der Volksbühne geben.


Theodor Körner’s erstes Gedicht. Das Bild des männlich-kühnen fromm-vertrauensvollen Freiheitskämpfers, Theodor Körner’s Bild, wurde uns in den ersten Stunden des 26. August auf die erhebendste Weise durch die eigenen Worte des einzigen Dichterhelden vorgeführt. „Ahnungsgrauend“ sehen wir ihn mit hehrer Heldenbegeisterung „der ersehnten Freiheit Seligkeit“, dem Tode, entgegeneilen. Dem Heldentode gelten seine letzten dichterischen Herzensergießungen. Eigenthümlich – auch des Knaben erstes dichterisches Wort ist „an den Tod“ gerichtet, an den Tod, der ihm in den frühen Jugendtagen oft nahe getreten.

Des Knaben Theodor Lehrer, Candidat Körner, durfte nach langer Unterbrechung, die Krankheit veranlaßt hatte, seinem lieben, noch nicht zwölf Jahre alten Schüler auf’s Neue Unterricht ertheilen. Eine recht zeitgemäße Aufgabe dünkte dem Lehrer die zu sein, Theodor aufzufordern, die Gedanken niederzuschreiben, welche ihn während so schwerer Krankheit beschäftiget hätten. Der kaum genesene, sich seiner Gesundheit erfreuende Knabe löste die Aufgabe mit leichtem Sinne und keckem Uebermuthe in dichterischer Weise, wohl angeregt durch viele Gedichte, die im Elternhause an seinem Ohr vorübergegangen waren. Er dichtete, wie Kinder dichten, die den Reim als das einzige Merkmal des Gedichtes kennen.


     An den Todt!
Lieber Todt! O komm noch nicht,
Blas noch nicht aus mein Lebenslicht,
Es brennt ja so nicht helle.
Ach! gieb mir lieber eine Schelle.

5
Auf Erden gefällt mir es noch sehr,

Das versichre ich Dir, auf meine Ehr.
Hier kann man doch noch fest auftreten,
Dort oben darf man nicht einmahl sehr laut reden,
Um daß die Wolken nicht aus einander gehen

10
Und man zum Fallen kömt aus den Stehen.

Hier kann man doch Leckerbissen bekommen,
Dort oben aber muß es einen frommen,
Zu speißen lauter Wasser und Brod,
Welches man auf Erden nur thut in der größten Noth.

15
Mir gefällt’s auf Erden besser,

Denn dort oben ist es feuchter und nässer,
Denn wo kam denn sonst der Regen her,
Da gäb mir gleich das Podagra die Ehr,
Mich ein wenig zu incommodiren.

20
Dazu soll mich niemand verführen,

Daß ich so mein Erdenloß
Wegwerf, und mich in den Schooß
Des Himmels über uns setze.
Nein mich bekömmts Du noch nicht in Deine Netze,

25
Ich trink noch nicht das Todten Glas,

Ich empfele mich Ihnen also Herr Vielfraß.

Mit lachender Miene wohl, doch auch mit Hoffnung auf des Schülers vielseitige Begabung, verwahrte diesen ersten dichterischen Versuch der treue Lehrer, und nicht ohne Rührung übergab er nach vielen Jahren das ihm theure Andenken von seinem längst dahingegangenen Schüler seinem Sohne. Dieser, mein Universitätsfreund Dr. Körner zu Schellenberg, konnte bei seinem Scheiden von Leipzig mir kein werthvolleres Freundschaftszeichen übergeben, als das Blatt mit Theodor Körner’s Handschrift, mit seinem ersten Gedichte.

Dr. Herm. Langer.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 639. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_639.jpg&oldid=- (Version vom 27.10.2018)