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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

„Und wie – wie würden diese Jahre jetzt sein, wenn er als Gutsbesitzer, wenn auch unter angenommenem Namen, in demselben Lande mit uns lebte?“

Sie schwieg, sie sah ein, er hatte das Beste erwählt. – Noch einmal blickte sie in’s Licht der Sonne, noch einmal auf die Bilder ihrer Kinder, und als die Arme des Gatten sie fest und fester – zum letzten Male – umschlangen, da fühlte sie, so tief, wie vielleicht noch nie, wie sie sich einst an diesem Herzen versündigt hatte, fühlte, wie endlos die Gnade des Allmächtigen, der ihr die volle Liebe dieses Herzens auch jetzt als Trost in so schwerer Stunde gelassen.

Hätten Beide dieser endlosen Gnade des Himmels nur fester vertraut – hätten sie nicht eingegriffen in das dem Menschen verhüllte Dunkel der fernen, der – nahen Zukuuft, hätten sie einen lebendigern Glauben an die wunderbaren Fügungen eines liebenden Gottes gehabt – wie bald, wie so sehr bald würden sie diese Fügungen als gänzlich unberechenbare erkannt haben!

In der Stunde, wo Christian Grunewald vor dem Polizeigebäude der Schlag auf offener Straße rührte, durchhallten zwei kurz aufeinanderfolgende Pistolenschüsse das Palais des Grafen B****, in dem wenige Stunden zuvor nur Festesklang und heitere Musik ertönt.

Die entsetzte Dienerschaft, die auf der Straße erschreckten Leute, welche neugierig in’s Haus drangen – Alles, Alles eilte an’s Ende des Corridors, wo man im Zimmer des Grafen seine Leiche neben der seiner Gattin fand.

Um wie viel trostloser dieser entsetzliche Anblick, als ein junges, schönes Mädchen, die älteste Tochter der Unglücklichen, ohnmächtig über die entseelten Hüllen der so heiß geliebten Eltern stürzte, zwei Söhne, stumm in Schmerz versenkt, keine Thräne für diesen Schmerz hatten – drei kleinere Kinder aber immer lauter jammernd: „Vater! Mutter!“ riefen.

Die That war bis auf Weniges Allen ein Räthsel geblieben – ein unaufgelöstes Räthsel trotz alles Forschens der Behörden. Der Eine, der einen starken Anhalt in dem Labyrinthe der Vermuthungen hätte geben können, der alte Diener des Grafen – er schwieg. Er leugnete selbst, als er am nächsten Tage zur Klinik berufen wurde, den Todten, zu dem er geführt wurde, je zuvor gesehen zu haben, obgleich ein Lohnkutscher fest behauptete, diesen Mann, den er am Polizeigebäude vom Schlag gerührt angetroffen, wenige Stunden zuvor am Palais des Grafen B**** in Unterredung mit dem Portier bemerkt zu haben, und sich sogar entsinnen wollte, daß Jener einen Brief von ihm angenommen.

Die Aussagen des Portiers: „Es waren in der That zu Viele, die mich in diesen Tagen angeredet – auch zu Viele, die mir Briefe an den Herrn Grafen übergeben haben, als daß ich mich auf den Einzelnen besinnen könnte,“ – diese Aussagen waren zu wahr, zu natürlich in Anbetracht jenes Festgewühles und vieler Gratulationsschreiben zur Verlobung, als daß man hätte glauben können, der alte Diener gebe diese Antworten aus andern Gründen.

Nur als der greise Thürsteher der Gräfin Clara B**** den Brief ihres Bruders übergeben und im Antlitz seiner nunmehrigen Herrin oft einen Ausdruck banger Sorge entdeckte, wenn unvermuthet ein ungewöhnliches Geräusch im Hause war, beschloß er, sie von dem Tode eines Mannes in Kenntniß zu setzen, der, wie er ahnte, in nur zu nahem Zusammenhange mit dem Selbstmorde seines Herrn und der Tödtung von dessen Frau stand, und von dem die Gräfin sicherlich noch immer die Ruhe ihrer Familie gefährdet glaubte.

Ein Unglücksfall, der sich auf dem Gute ereignete, wohin sie sich zurückgezogen, gab ihm Veranlassung den Punkt zu berühren, denn um keinen Preis sollte sie wissen, daß Christian Grunewald schon damals gestorben – an dem Tage, wo nach seiner Unterredung mit dem Grafen dieser sein und seiner Gattin Leben geendet hatte!

So trat er denn eines Morgens zu Gräfin Clara ein, und nachdem Einiges besprochen war, was er ihr zu melden hatte, sagte er im ruhigsten Tone: „Wären in E* nicht lange die Untersuchungen über jene unglückliche Todte im Damenzimmer beendet, so würde ich jetzt der Behörde melden, daß ich die Leiche des ehemaligen Bahnhofwärters Christian Grunewald erkannt, der nach jener Nacht, wo man die Dame vergiftet gefunden, so spurlos verschwunden ist.“

Der Blick des Entsetzens aus dem ruhigen Auge der Gräfin bewies dem Diener, was sie Alles von dem Namen noch abhängig glaubte, und rascher fuhr er daher fort:

„Sie hörten, daß man vorgestern Abend eine halbverweste Leiche aus dem Weiher unten an der Schloßwiese gezogen; ich erkannte sogleich das Gesicht des Todten, wie ich’s sah.“

„Christian Grunewald todt!“ hauchte sie leise.

„Todt und begraben jetzt, gnädige Gräfin.“

„Hat irgend Jemand ihn in der Leiche erkannt?“

„Niemand – auch Keiner vermuthet, daß er es sein könnte – er ist verschollen und vergessen!“

„Mag er’s bleiben!“ sprach sie ernst.

„Ja – mag er nach den Thaten seines Lebens friedlich im Tode ruh’n.“

Der alte Diener wollte sich entfernen, nachdem er die Beruhigung gewonnen, der Gräfin die größte Last von der Seele genommen zu haben; sie hielt ihn noch einen Augenblick zurück durch die Frage: „Hat man wirklich in E* nie den Namen jener Todten erfahren?“

„Nein – alle Forschungen waren vergeblich, selbst der Koffer, der lange herrenlos in A** stand und den die Behörde von E* endlich als mutmaßliches Eigenthum der Verstorbenen reclamirte, ergab nichts Näheres über ihr dunkes Ende.“

„Hatte er keine Signatur?“

„Nur die Buchstaben E. W. Sie ergaben Nichts.“

Manche, die in Zeitungen die Geschichte dieser Buchstaben gelesen und nie wieder Etwas von Ellen Wood gehört hatten, knüpften wohl Vermuthungen an den schwachen Halt – Vermuthungen, die aber Nichts mit der wahren Sachlage zu thun hatten und nur dem üppigen Boden blühender Phantasie entsprossen waren.

Eine solche Vermuthung erreichte wenige Monate nach dem unglücklichen Ende des Grafen und der Gräfin B**** den ehemaligen Lieutenant von H…dorf. Galt ihm auch im Allgemeinen das Urtheil der Welt wenig, so ertrug sein Rechtlichkeitsgefühl doch nicht den Gedanken, jenes Opfer blinder Leidenschaft auch von denen im Tode verkannt zu sehen, die die heilige Verpflichtung hatten, sie zu achten.

Dies Gefühl trieb ihn nach dem Gute, wo Gräfin Clara in Zurückgezogenheit lebte, und veranlaßte ihn nach kurzer Einleitung die Frage an sie zu richten: „ob sie auch zu Denen gehöre, die da glaubten, daß Miß Ellen Wood den Grafen B**** geliebt habe.“

Als die Antwort nicht so befriedigend lautete, wie er wünschte, und ein Schatten von Verdacht an der Todten haftete, erzählte er, wann er zum ersten Mal von jenem Mädchen gehört, und als er mit möglichster Schonung die Scene jener Nacht in der Nähe des Bahnhofes geschildert, legte er ihr den Inhalt der gefundenen Reisetasche vor, und als sie nach dem Lesen einzelner Briefe tief erschüttert war, fuhr er fort:

„Hätte ich als Mann von Ehre – als Officier, nicht die heilige Verpflichtung gefühlt, über der Ehre der Braut eines Cameraden zu wachen – nie würde ich nach ihrer Vergangenheit geforscht, nie Sie durch so schmerzliche Eröffnungen betrübt haben. Aber ich mußte es thun. So setzte ich denn zuerst eine Freundin von den Schicksalen Ellen Wood’s in Kenntniß, die mir helfen konnte, Näheres über sie in England zu erfahren. – Ich erfuhr durch die Nachforschungen jener Dame, die Verbindungen in England hat, daß Ellen Wood die traurigste Kindheit bei ihrer Tante Mrs. West gehabt, der Sonnenschein ihres Lebens ist nur die Liebe zu ihrem Cousin Harry gewesen, dessen Herz auch warm für sie geschlagen hat. – Als Mädchen von 16 Jahren wurde sie in’s Ausland als Erzieherin geschickt – ihre Schicksale im Hause Ihrer Verwandten werden Sie besser als ich kennen. – Nachdem sie von ihrer Beschützerin, der Baronin F* auch entlassen worden, lebte sie eine Zeit lang von den Unterstützungen ihres Verlobten, Mr. West. Nach England zurück konnte sie nicht – seine Eltern waren gestorben – sie Beide die Letzten ihrer Familie. Zu Moskau bot sich ihr plötzlich ein neues Engagement; sie mußte durch diese Gegend – das Weitere wissen Sie! – Der Einzige, der Interesse an ihrem Leben hatte, konnte nicht nach ihr forschen, er starb in der Krim – sein Name steht auf den Todtenlisten der englischen Armee verzeichnet.“

„Und hat wohl der Arme noch Ihre Sendung erhalten?“ fragte Gräfin Clara voll Interesse.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 643. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_643.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)