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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Meine Tante Therese.
Keine erfundene Geschichte.
1. Ein deutscher Edelmann.

Wie werde ich jemals meine Tante Therese vergessen? Sie war so bleich und so schön, und so freundlich und weich und doch so stark. Und so war sie, da ich sie zum ersten Male sah vor beinahe fünfzig Jahren, und sie hatte sich nicht verändert, sie war noch eben so schön, als ich sie zum letzten Male besuchte, im Jahre 1850.

Zum ersten Male sah ich sie im Sommer des Jahres 1814.

„Ich muß meine arme Schwester Therese besuchen,“ hatte meine Mutter schon seit dem Winter gesagt. „Ich muß sehen, ob ich ihr keinen Trost bringen kann.“

Meine Mutter war damals selbst so traurig, schon länger als seit dem Winter, schon seit dem Sommer 1812. Sie hatte seitdem nur Trauerkleider getragen. Meine Mutter fuhr zu der Tante Therese, oder eigentlich zu ihrer Mutter, bei der die Tante lebte, mich nahm sie mit. Ich war ein Knabe von 12 Jahren.

Meine Großmutter wohnte in einem alten adligen Schlosse; Schloß Hawichhorst hieß es. Es gehörte mit dem Gute einer alten, reichen, ehemals reichsfreiherrlichen Familie Westphalens, die sich schon seit undenklichen Zeiten außerhalb Westphalens aufhielt. Schon eben so lange waren meine Vorfahren mütterlicher Seits Rentmeister auf Gut und Schloß Hawichhorst gewesen, zuletzt mein Großvater. Er war früh gestorben, und seine Stelle sollte auf seinen Sohn forterben; der jüngste Sohn, Franz, war dazu ausersehen. Der war aber bei dem Tode des Großvaters noch ein Kind; so wurde ein Verwalter genommen, bis er großjährig sein werde, und meine Großmutter blieb mit ihren Kindern im Schlosse wohnen, und der Verwalter hatte von ihr die Befehle zu empfangen; in der späteren Zeit von meiner Tante Therese, da meine Großmutter in Folge eines Schlaganfalles nicht mehr nach Allem sehen konnte. Solche patriarchalische Zustände gab es damals häufig in Deutschland. Ich glaube, der alte westphälische Adel hat sie noch aufrecht erhalten.

Das Schloß Hawichhorst lag am Ende einer großen unübersehbaren Haide. Als ich mit meiner Mutter zu der Großmutter und zu der Tante Therese fuhr, mußten wir schon eine Stunde vor dem Schlosse von der Landstraße abbiegen, um von da an immer in der großen Haide zu fahren, an der Hawichhorst lag. Lange Zeit sahen wir gar kein Ende von ihr, und ich meinte beinahe, sie werde kein Ende nehmen. Dann tauchte hinten ein großer, dunkler Wald herauf, der immer größer und breiter wurde, und ich meinte nun, der Wald könne kein Ende nehmen. Zuletzt fuhren wir um eine Ecke des Waldes herum, und da lag das Schloß Hawichhorst vor uns auf einer kleinen Erhöhung. Es war nicht groß, dafür desto älter und stammte aus dem Mittelalter. Die Mauern waren hoch, grau, mit wenigen schmalen, aber hohen Fenstern. Das Dach war spitz, mit kleinen Ziegeln gedeckt, die vom Alter dunkelbraun gefärbt waren. An der einen Seite ragte ein spitzer grauer Thurm über das Dach hinüber.

Es war am späteren Nachmittag, als wir ankamen. Man hatte uns nicht erwartet, die Leute des Gutes waren im Felde an der Arbeit. Draußen am Schlosse war Niemand; auch an den Fenstern sahen wir keinen Menschen. Ein großes Einfahrtsthor führte in den Schloßhof, der mit hohen Mauern umschlossen war. Früher war vor den Mauern noch ein Graben gewesen, der aber nun ausgefüllt war. Nur die Brücke hatte man gelassen, über die man zu dem Einfahrtsthore gelangte. Wir fuhren über diese Brücke hindurch in den Hof. Auch dort war Niemand. Wir stiegen aus, und meine Mutter führte mich in das Haus. Wir kamen zuerst in eine kleine Halle, an der mehrere Thüren lagen. Zu einer, die uns gerade gegenüber am Ende der Halle lag, gingen wir. Vor der Thür blieben wir stehen, meine Mutter horchte hindurch. Um uns her war die tiefste Stille, man hörte in dem ganzen Hause keinen Laut. Das alterthümliche Schloß machte einen eigenthümlichen feierlichen Eindruck auf mich. Ich war noch nie in dem Schlosse gewesen. Meine Mutter war blaß geworden. Sie war seit mehreren Jahren nicht dagewesen und hatte die Mutter nicht gesehen, seitdem sie gelähmt, die Schwester Therese nicht, seitdem sie so traurig war, Beide nicht seit jenen entsetzlichen Begebenheiten, die die Eine für immer auf das Krankenlager geworfen, der Anderen für immer das Herz gebrochen hatten.

Sie machte langsam die Thüre auf und wir traten in ein hohes, altertümliches Gemach. Es war wohl schon das Wohngemach der Ritterfamilie gewesen, die einst hier gehaust hatte; jetzt war es das Wohnzimmer der Familie meiner Großmutter. Mitten in dem Zimmer stand ein Rollstuhl; darin saß oder lag meine Großmutter. Sie lag so, daß sie nach zwei Seiten die Fenster des Zimmers wahren konnte. Auf der einen Seite fiel ihr Blick auf die Bäume des Waldes, auf der anderen in die unabsehbare Haide hinein.

Die Großmutter war eine starke, kräftige Frau. Trotz ihrer Trauerkleidung lag in ihrem ganzen Wesen eine herzliche, milde Freundlichkeit. Meine Mutter mußte weinen, als sie sie sah.

Die alte traute Frau tröstete sie.

„Weine nicht, Elisabeth. Es ist eine schwere Zeit über uns dahingegangen, seitdem wir uns zuletzt sahen. Aber sie ist vorüber, und Gott hatte sie uns geschickt. Weine nicht, um der armen Therese willen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 673. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_673.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)