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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

struppig. Er sah sie mit höhnischem Grinsen an. Aber es lag keine Bosheit darin. Nur Schwachsinn sprach sich darin aus, wenn es nicht gar Blödsinn oder Irrsinn war.

„Ach, Mamsell Therese!“ rief er mit gedämpfter, geheimnißvoller Stimme.

Die Tante war heftig erschrocken. „Mein Gott, auch das noch!“ sagte sie schmerzlich für sich. Zu ihren vielen Sorgen war eine neue, vielleicht die schwerste getreten. Aber sie mußte und konnte sich schnell fassen.

„Guten Abend, Freiherr Max,“ sagte sie mit ihrer vollsten Ruhe. –

Der Schwachsinnige war der Freiherr Max, der Bruder des Reichsfreiherrn, den dieser vor fünfzehn Jahren nach Schloß Hawichhorst gebracht hatte und der seitdem immer im Schlosse gewesen war. Freilich als Freiherr. Er wohnte oben in dem Seitengange ganz allein, mußte dort allein essen und trinken und durfte mit der Familie des bürgerlichen Rentmeisters keine vertraute Gemeinschaft haben. Der Reichsfreiherr hatte das Alles, als er vor fünfzehn Jahren da gewesen war, so angeordnet, und es war immer treu und gewissenhaft gehalten worden.

Der Irre hatte in solcher Weise eine eigenthümliche Stellung im Hause eingenommen. Er war gutmüthig, wie ein Kind; seine vornehme Abgeschlossenheit von der Familie aber und frühere Eindrücke brachten manchmal freiherrliche Erinnerungen und Velleitäten in ihm herauf, und er liebte es dann, sich gnädige Späße gegen seine Umgebung zu erlauben. Sie waren freilich nur gutmüthige; allerdings soweit sein Schwachsinn ihm gestattete, einzusehen und zu fühlen, daß er nicht verletze. Hatte er verletzt, und man brachte es ihm nachher zur Erkenntniß, so war er ein desto reuevolleres Kind. Im Grunde hatten sie daher Alle im Hause, wie Mitleiden, so auch Liebe für ihn.

Die Tante Therese imponirte ihm sonst immer. Dieses Mal schien es nicht so. Sie wollte an ihm vorbeigehen, aber er vertrat ihr den Weg.

„Wünschen Sie etwas, Freiherr Max?“

„Ah, Mamsell Therese, wo kommen Sie her?“

„Ich hatte hier oben zu tun.“

„In dem kleinen Thurmstübchen da hinten?“

„Ja.“

Er lachte. „Ja, ja, und ich weiß auch, was Sie dort zu tun hatten.“

„Nun, lieber Freiherr Max, dann wissen Sie auch, daß ich eilig bin. Lassen Sie mich!“ Sie sprach es mit ihrer erregten, fast strengen Ruhe. Aber sie imponirte ihm diesmal nicht.

Er lachte höhnischer. „Sie wollen wohl recht eilig zu dem kleinen Stübchen zurück?“

„Ich habe unten im Hause Geschäfte.“

„Bah, Mamsell Therese, mir machen Sie nichts weiß. Ich weiß Alles.“

„Um so mehr lassen Sie mich!“

„Ich will Ihnen auch sagen, was ich weiß.“

„Nachher –“

„Nein, nein, jetzt gleich. Ich habe heute Nacht Alles gesehen. Es war so klarer Mondschein.“

Die Tante erschrak auf den Tod. Wußte er von dem Aufenthalte des Verwundeten, und nur Ein Franzose kam hierher, so war es um den Verwundeten geschehen.

„Heute Nacht –?“ rief sie.

„Ja, ja, heute Nacht. Hören Sie mir zu. Es war gerade Mitternacht, da –“

Die Tante hatte sich erholt. „Ah, da träumten Sie wohl,“ sagte sie freundlich und lächelnd.

„Nein, nein, Mamsell Therese.“

„Um Mitternacht,“ belehrte sie ihn, „fangen die Träume an, besonders wenn der Mond scheint.“

„Aber ich träumte nicht, Mamsell Therese.“

„Und je klarer und heller der Mond scheint,“ fuhr die Tante Therese sicher und belehrend fort, wie ein Professor auf dem Kateder, „um so lebhafter und deutlicher träumt der Mensch.“

„So?“ sagte der Schwachsinnige doch.

„Haben Sie das noch nicht gewußt? Aber erzählen Sie nur, was Sie heute Nacht in dem hellen Mondscheine geträumt haben?“

Sie wollte ihn völlig irr mit sich selbst machen und wohl auch wissen, was er gesehen hatte, und wie viel er wisse.

„Was ich geträumt habe?“ sagte er. „Ei, ich sah es ja deutlich, wie der Wagen ankam. Es war ein Bauerwagen, er knarrte etwas, und da auf der Seite hielt er nicht weit von meinem Fenster. Es war Heu darin, und in dem Heu lag ein Mensch –“

Die Tante unterbrach ihn. „Sehen Sie, wie lebhaft Sie geträumt haben?“

„Aber ich sah es ja.“

„Sie waren ja im Bett!“

„Ich war aufgestanden.“

„Auch das haben Sie geträumt?“

Der Schwachsinnige schwankte. „So? Sollte ich wirklich geträumt haben? Aber es war doch so hell?“

„Darum träumten Sie so lebhaft.“

„Und ich sah es deutlich, wie der Mensch im Wagen eine Binde um den Kopf trug – und auch den Arm hatte er in einer Binde, und in einer Uniform war er, und der Fuhrmann hob ihn aus dem Wagen, und auch die alte Christine war dabei, und auch Sie, Mamsell Therese, ja ja, auch Sie –“

Er wußte Alles. Die Tante Therese zitterte. Er hatte Alles gesehen und wußte es so bestimmt, so sicher. Aber sie gab noch nicht verloren. Sie lachte laut.

„Ich, lieber Freiherr Max? Sehen Sie, wie Sie geträumt haben. Ich habe die ganze Nacht geschlafen, in der Stube meiner Mutter, Sie können sie fragen.“

„So?“ sagte der Irre wieder.

„Und auch die Christiane wird nicht aufgewesen sein. – Wollen wir sie gleich fragen?“

„Ja, ja, kommen Sie!“

Die Tante wollte triumphiren. Er verließ mit ihr den Gang, und Beide gingen die Treppe hinunter. Aber unten in der Hausflur traten ihnen erschrockene Gesichter entgegen. Es waren die Knechte und Mägde des Hauses. Sie hatten auf die Rückkehr der Mamsell Therese gewartet, denn sie hatte immer die ruhige Besonnenheit, den klaren Muth. Der Verwalter und der junge Herr waren zudem nicht da; sie waren noch immer nicht zurückgekommen und die Frau des Hauses lag alt und gelähmt in ihrem Rollstuhle.

„Mamsell, hinten am Walde wird geschossen. Die Franzosen und Russen und Preußen kämpfen dort.“

Meine Tante behielt ihre ruige Besonnenheit, ihren klaren Muth.

„Ich weiß es,“ sagte sie.

„Aber es kommt näher, Mamsell. Sie werden hierher kommen. Und was dann?“

„Was dann?“ sagte die Tante. Aber sie durfte in Gegenwart des Herrn nicht fortfahren. Sie dachte an Alles, wie schwer ihr nach so mancher Seite hin Kopf und Herz sein mochten.

Die Augen des Irren hatten bei der Nachricht, die er so plötzlich erfuhr, angefangen zu funkeln.

„Sie schießen? die Franzosen?“ fragte er hastig einen Knecht, der neben ihm stand.

Die Tante warf ihm einen strengen Blick zu. „Freiherr Max, man wird Ihnen die Nachricht in Ihr Zimmer bringen. – Christine, der Freiherr hat einen Befehl für Dich. Folge ihm auf sein Zimmer!“

Der Irre fühlte den Freiherrn in sich, der sich nicht mit Knechten und Mägden gemein machen dürfe. Er kehrte gehorsam zu der Wendeltreppe zurück. Die alte Christine, welche vorher einen Wink von der Tante erhalten hatte, folgte ihm.

„Und nun,“ sagte die Tante zu den Leuten, und sie war bewunderungswürdig in ihrer Ruhe, in ihrem Mute. „Ihr sagtet. Was dann? Wenn der Kampf sich hierher ziehe? Es sind Preußen und Franzosen, die dort kämpfen. Siegen die Preußen, und sie kommen hierher, so sind Freunde hier, die uns vom fremdem Joche befreit haben. Kommen die Franzosen als Sieger – wir stehen auch dann in Gottes Hand und in Gottes Schutz. Wir müssen nur das Unsrige mit dazu tun. Und dazu laßt uns schreiten, ruhig, ohne Lärm, ohne Ueberstürzung, jeder an seinem Platze!“

Und klar und ruhig, wie sie war, ertheilte sie den Leuten ihre Befehle.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 707. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_707.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)