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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Kein Laut war in der Stube hörbar, kein Laut in dem ganzen Hause. Alles, was darin war, horchte gespannt, in der gespanntesten Angst.

So hörten sie den Kampf draußen, unmittelbar am Thore, unmittelbar unter den Fenstern; das Schießen der Musketen, Schüsse aus den Carabinern. Jene französischen Carabiniers, die am Abend still durch die Haide gezogen waren, mußten jetzt in dem Kampfe sein. Die Musketenschüsse fielen von allen Seiten; die Carabiner antworteten aus der Mitte; die Franzosen mußten auf der Flucht an das Schloß gedrängt, hier umzingelt sein. Zwischen den Schüssen hörte man das Stampfen und Schnauben und Stöhnen der Rosse, dazwischen einzelne laute, aber ruhige Commandoworte. Keine andere menschliche Stimme wurde anfangs laut. Die Menschen mordeten sich im stillen ruhigen Gehorsam, oder in stiller ingrimmiger Wuth.

Den Menschen im Hause wollte das Blut in den Adern erstarren. Sie waren keines Wortes, keiner Bewegung fähig. Da wurden hinten in der Haide die Trompeten laut, die dem bedrängten Häuflein der Franzosen Hülfe verkündeten. In der Stube wurden wenig Worte gewechselt, sie machten der tiefsten Stille Platz. Gedoppelt richteten sich Spannung und Angst wieder nach außen.

Der Galopp der Pferde kam wie ein wilder Sturm heran. Die Haide zitterte, die Fenster des alten Schlosses kirrten. Die Trompeten bliesen und schmetterten lustig hinein. Die Kämpfenden am Hause hatten einen Augenblick gestutzt. Das Geschrei verstummte; das Klirren der Säbel und Bajonnete hörte auf; der Kampf ruhte; nur noch ein paar vereinzelte Schüsse fielen wie mechanisch oder verspätet. Aber es war nur für einen Moment, für den ersten Moment der Ueberraschung, der Ungewißheit. Dann wußte Jeder, was da kam, und woran er selbst nun war. Wildes Freudengeschrei der Franzosen folgte und antwortete dem lustigen Geschmetter der Trompeten und dem Zurufen der heransprengenden Retter.

In den Reihen der Preußen aber blieb es still. Man hörte ein einziges Commandowort. Dann vernahm man, wie sie ruhig sich sammelten und ordneten. Es war eine feindliche Uebermacht, die ankam. Gegen sie den Kampf aufzunehmen und fortzusetzen, wäre Wahnsinn gewesen. Das hatte der Führer erkannt; er commandirte den Rückzug. Der Wald war kaum dreißig Schritt entfernt. Als die neue Reiterschaar auf dem Kampfplatze anlangte, hatten die Preußen schon den Wald erreicht. Sie mußten den Rückzug mit der größten Ruhe und Ordnung gemacht haben. Die kämpfenden Franzosen hatten nicht gewagt, sie zu verfolgen; kein Verwundeter oder anderer Gefangener war in den Händen der Franzosen zurückgeblieben. In dem Walde waren sie vor jeder Verfolgung der Cavallerie, zumal in der Dunkelheit, sicher.

Aber was nun? Was wird nun werden? Die Frage wiederholte sich in der Stube der Großmutter.

Der Kampf am Hause hatte keine zehn Minuten gedauert. Wer sich aus dem Hause wagte, kam in den Kugelregen, unter die Pferde, zwischen Säbel und Bajonnete. An allen Seiten des Hauses war gekämpft worden. War jetzt an eine Flucht zu denken? Der Kampf war zu Ende; aber an allen Seiten des Hauses waren die Franzosen, und man vernahm nichts, was darauf hätte schließen lassen, daß sie abziehen wollten. Im Gegentheil. Wilde Schläge donnerten an das Einfahrtsthor. Lautes Rufen forderte Oeffnen und Einlaß.

„Was nun? Wohin mit ihm?“ rief meine arme Tante Therese.

Sie hatte keinen Rath mehr und warf sich auf die gelähmte, hülflose Mutter.

„Mutter, hast Du keinen Rath, keine Hülfe? Der Freiherr Adalbert ist hier. Er war zu den Preußen übergegangen, er ist schwer verwundet, so liegt er oben in dem Thurmstübchen. Wenn die Franzosen ihn finden, so wird er erschossen. Und der Verräther lauert schon auf ihn. Der Fremde, den ich aufnahm, ist jener Commandant der Gensd’armen, der unsern armen Fritz hat erschießen lassen. Er muß heute sein zweites Opfer haben. Der Schwachsinnige hat ihm den Freiherrn verrathen. Jener Elende wird ihn weiter verrathen; er muß, um das eigene Leben zu retten. Rathe, hilf, Mutter. Du hast ja immer Rath, immer Hülfe.“

Sie hatte das früher wohl gehabt, die Großmutter. Aber in diesem Augenblicke? Unter dem furchtbaren Eindrucke dieser Nachrichten?

„Der Mörder meines Sohnes hier?“ rief sie. „Der Mörder Schutz suchend im Hause des Gemordeten! Der Beschützte sinnend auf neuen Verrath, auf einen zweiten Mord!“

Dann sah sie die bleiche Therese vor sich stehen.

„Armes Kind!“ sagte sie. „Armes, armes Kind!“

Aber Rath und Hülfe hatte sie nicht. Und doch wurde die Noth größer, dringender.

Draußen vor dem Hause war es still geworden. Der Lärm des Kampfes war völlig verstummt; auch das Schlagen an das Thor und das Rufen um Einlaß hatte auf einmal aufgehört. Man vernahm aber auch jetzt kein Abziehen der Franzosen. Sie mußten etwas Anderes vorhaben.

Die alte Christine kam eilig in die Wohnstube gestürzt. Der Knecht Christian schickte sie. Derselbe hatte seinen Posten an dem großen Einfahrtsthore, und er hatte ihn während des Kampfes keinen Augenblick verlassen, auch nachher nicht, als in jener stürmischen Weise Einlaß gefordert wurde. Er hatte keinen Laut von sich gegeben. Die Franzosen waren in der That irre geworden, ob Jemand in dem Schlosse sei, aus dem ihnen noch kein Lebenszeichen entgegengekommen war. Er hörte sie sich bereden, wie sie hineingelangen könnten; hinein mußten sie, einer ihrer Officiere war schwer verwundet, sie konnten mit ihm nicht weiter, er mußte und sollte im Schlosse untergebracht werden. Der Knecht entnahm das aus ihren Reden; er war selbst ein paar Jahre französischer Soldat gewesen und er verstand die Sprache. Er vernahm weiter, wie sie zuletzt beschlossen, die Mauern zu ersteigen und gleichzeitig einen Versuch zum Zertrümmern des Thores zu machen. Da rief er die alte Christine herbei, theilte ihr Alles mit und schickte sie zu der Herrschaft, um weitere Befehle einzuholen. Er rathe zum Oeffnen des Thores; es sei zu schwach, um nicht zuletzt der Gewalt nach zugeben; die Mauern könnten erstiegen werden. Das theilte die Magd mit.

„Weiß Einer einen besseren Rath?“ fragte die Großmutter.

Keiner wußte ihn. Aber die Magd war mit ihrem angstvollen Gesichte zu der Tante Therese getreten und hatte leise mit ihr gesprochen.

„Sprich laut,“ rief die Tante Therese mit neuem Schreck. „Die Mutter weiß Alles.“

Die Magd sprach laut. „Als ich mit dem Christian in der Hausthür stand, öffnete sich auf einmal leise die Thür, die aus der Halle zu der Wendeltreppe führt, und es schlich Jemand in die Halle. Er konnte uns nicht sehen, wir schwiegen auch; als die Thür sich öffnete, so kam er auf die Hausflur zu. Auf einmal sah er uns, und wir sahen ihn. Es war der Fremde, der mit der Frau und den Kindern angekommen war; er wurde verlegen, als er uns sah, bat um ein Glas Wasser und kehrte wieder zurück. Aber er hatte auf den Hof gewollt, an das Thor, zu den Franzosen; darum war er geschlichen. Laß ihn nicht heran, sagte ich zu dem Christian; der Mensch hat schlechte Streiche vor. Dann schloß ich die Hausthür zu, zog den Schlüssel ab und eilte hierher.“

Und jetzt hatte meine Großmutter ihren klaren Entschluß gefaßt. „Hört mir Alle zu,“ sagte sie. „Die Franzosen müssen eingelassen werden; Christian hat Recht. Du, Christine, gehst zu ihm, es ihm zu sagen. – Der Freiherr Adalbert muß fort. Sie, Herr Buschmann, und Du, Franz, Ihr führt ihn durch das Hinterpförtchen; es sind von da noch dreißig Schritte bis zum Walde, in dem er sicher ist. Ihr führt ihn hinaus, während das Einfahrtsthor geöffnet wird; es wird dann Alles sich zu diesem drängen und das Pförtchen frei sein. Ihr geht durch meine Schlafstube in den Thurm. – Du, Therese, gehst nach oben zu den Fremden –“

Aber meine Tante unterbrach die Großmutter. Auch sie hatte ihre Ruhe, ihre Einsicht und ihren Muth wiedergewonnen.

„Nein, Mutter, ich habe nur eine Aufgabe, nur eine Pflicht, bei dem Freiheren Adalbert zu bleiben. Ich darf nicht von ihm weichen. Das Herz zerspränge mir in der Angst der Ungewißheit.“

Die Großmutter hatte sich besonnen. „Nun wohl, so begleitet der Herr Buschmann Dich zu ihm. Du, Franz, hilfst dem Christian beim Oeffnen des Thores und bei der Unterbringung des verwundeten französischen Officiers. Und Du, Christine, gehst hinauf zu den Fremden, und bittest die Frau, auf ein paar Augenblicke zu mir herunterzukommen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 724. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_724.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)