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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Krankenhauses und die Gefälligkeit der ihm befreundeten Aerzte eine Gelegenheit, welche Rokitansky emsig benutzt hat. Endlich gehörte dazu eine allgemeine über alle Zweige der Medicin und ihre Hülfswissenschaften ausgebreitete Bildung, eine Universalität des Wissens, wie sie dem Einzelforscher in der Regel zu mangeln pflegt. In allen diesen Zweigen, mit Einschluß der physikalischen (Lichtlehre, Mikroskopie, Mechanik etc.), der Chemie, der Naturgeschichte etc. mußte sich unser Rokitansky im Stillen mit fortbilden, um seiner Aufgabe gewachsen zu bleiben. Er mußte sich zugleich durch allgemeinere philosophische Studien die Freiheit des Blickes erhalten, welche nothwendig ist, um Massen von Thatsachen richtig zu ordnen und zur Gewinnung von Naturgesetzen übersichtlich zusammenzufassen. Allen diesen Ansprüchen genügte Rokitansky schon in der ersten Auflage seines Lehrbuchs in einer solchen Weise, daß dieselbe für ihre Zeit als etwas Vollkommenes gelten konnte.

Das neue pathologisch-anatomische Institut zu Wien.


(Siehe nächste Nummer.)


Rokitansky hat jedoch noch eine zweite Aufgabe gelöst, welche wir ihm weit höher anrechnen. Es ging ihm nämlich bei jener ersten Arbeit, wie es fast allen Reformatoren ergangen ist: beim ersten Reform-Anlauf bleibt auch den erleuchtetsten Geistern in der Regel noch ein Rest von alten Anschauungen übrig, deren sie sich nicht gleich auf einmal zu entledigen vermögen. Diesen Rest tilgen dann gewöhnlich ihre Schüler und Nachfolger aus und werden radicaler, als der Meister war. Etwas Aehnliches begegnete unserm Rokitansky mit seiner sogenannten Krasenlehre, welche noch jetzt von übelwollenden und schlecht unterrichteten Leuten als Argument gegen die neue Wiener Schule benutzt wird. Es giebt nämlich gewisse Krankheiten, welche scheinbar oder wirklich den ganzen Organismus, wenigstens dessen Hauptorgane und Systeme gemeinsam ergreifen. Rokitansky hat diese Constitutionskrankheiten, wie man sie jetzt nennt, in ihrer anatomischen Beschaffenheit mit Meisterhand geschildert. Er legte hierbei die uralte Voraussetzung (Hypothese) zum Grunde, als ob hier die Säfte, insbesondere das Blut, erkrankt seien und durch ihre fehlerhafte Beschaffenheit die verschiedentlichen auffindbaren Krankheitsbildungen erzeugt hätten (Säfteverderbnisse, Dyskrasien oder Krasen. d. h. krankhafte Blutmischungen). Spätere Untersuchungen haben gezeigt, daß auch in solchen Krankheiten die wunderbar vielseitige Thätigkeit der Zellen, aus denen jeder lebende Körper besteht, eine Hauptrolle spielt. (Daher die neuere, besonders von Virchow vertretene Zellentheorie.) Aber es läßt sich nachweisen, daß Rokitansky selbst der Erste gewesen ist, welcher durch neuere mikroskopische Untersuchungen die Axt an seinen eigenen Baum legte und in der Entzündungslehre die krankhafte Zellwucherung (das Auswachsen der Bindegewebe) an die Stelle der sich organisirenden Ausschwitzungen (Exsudate) setzte. Und sobald die neue Zellenlehre hinreichend begründet war, hat Rokitansky nicht angestanden, sein ganzes altes Gebäude einzureißen und in einer völlig neuen Ausarbeitung sein pathologisch-anatomisches Hauptwerk mit Ausscheidung alles unhaltbar Gewordenen frisch herauszugeben. Eine Selbstverleugnung, welche nur derjenige würdigen kann, der da weiß, wie schwer sich berühmt gewordene Gelehrte entschließen, ihre gewonnenen allgemeineren Anschauungen einer fortschreitenden Erkenntniß zu opfern und von Grund auf neue Ansichten zu adoptiren.

Die Wirkung von Rokitansky’s Lehre, nachdem er einmal durch Wort und Schrift Obermeister der deutschen Medicin geworden war, läßt sich nicht mit wenigen Worten schildern. Sie bedürfte eines besonderen Geschichtschreibers. Zunächst wurden allenthalben die gewonnenen Anschauungen auf das Krankenbette angewendet. Man untersuchte nach Rokitansky’s Schilderungen die lebenden Kranken (hauptsächlich mittels der inzwischen so sehr vervollkommneten Hülfsmittel der Diagnostik: Klopfen, Horchen, chemische Reagenzen u. s. w.), und fand in ihnen bald die am Leichentische festgestellten charakteristischen Zeichen. Um diese Zeit regnete es förmlich neue Entdeckungen in den Krankensälen. – Mit diesen Arbeiten kam aber auch ein neuer Geist in das praktisch-ärztliche Wirken, ein Geist des wahrhaft thatsächlichen, realistischen Forschens. Geistreiche Einfälle und wortreiche Phrasen kamen ganz in Mißcredit. Von dieser Zeit her datirt die Ausscheidung aller mystischen Bestrebungen aus der Medicin, so sehr

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 749. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_749.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)