Seite:Die Gartenlaube (1863) 771.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Italien und an’s Meer gehen könnte. Aber wir sind arme, arme Leut’ und können nichts thun als sterben vor Elend. Und außerdem, wären wir selbst reich, so würde die Mutter, da sie den Tod in der Brust fühlt, doch die dunkle Sackgaß und die alte verfallene Hütte nicht verlassen! Sie will da sterben, wo der Vater gestorben ist.“

„Aber was willst Du anfangen, wenn Deine Mutter auch gestorben ist?“ fragte der Baron mitleidsvoll. „Was soll aus Dir werden, Du armer Junge?“

„Was aus mir werden soll?“ fragte der Knabe lachend. „Das will ich Ihnen schon sagen, Herr Baron, ein reicher Kaufmann soll aus mir werden!“

„Ein reicher Kaufmann? Wo willst Du denn Deine Reichthümer hernehmen? Wo stecken sie denn, Deine Schätze?“

„Hier stecken sie, Herr Baron,“ rief der Knabe lachend, „hier in meinem Kopf und hier in meinen zehn Fingern. Wissen’s denn nicht, Herr Baron, daß der Jud’ einen Zauber hat, der ihm in den Fingern steckt und der macht, daß, sowie er mit ernstem Willen die Hand ausstreckt, die Ducaten und die Gulden in allen Kisten und Kasten anfangen zu tanzen und an seine Finger springen?“

„Bist ein wunderlicher kleiner Mann,“ sagte der Baron lachend. „Wie alt bist Du denn?“

„Just zehn Jahre, Ew. Gnaden, denn ich bin im Jahre 1743 geboren.“

„Das ist ja mein Geburtsjahr!“ rief der Prinz lebhaft.

„Ich bitte um Vergebung, daß ich mich unterstanden habe, in demselben Jahre mit dem Mosje Prinzen geboren zu werden,“ sagte der kleine Mayer Anselm mit spöttischer Unterwürfigkeit. „Ich wollte, ich wäre siebzehnhundertdreiundvierzig Jahre früher geboren, denn dann wäre ich auch Prinz gewesen, da ich aus dem Stamme Levi bin, dem Stamme der Hohenpriester und großen Herren! Bitte nochmals um Vergebung, Mosje Prinz! Und hier sind wir wieder am Thor angelangt, und die Herrschaften haben jetzt Alles gesehen, was hier zu sehen ist, so werden Sie sich wohl beeilen, die schmutzige Judenstadt zu verlassen. Da schlägt es eben sechs Uhr! Das ist die Zeit, wo die Thore der Judenstadt geschlossen werden. Also beeilen Sie sich, meine vornehmen Herrschaften, beeilen Sie sich.“

„Schön, kleiner Anselm Mayer,“ sagte der Baron, nachdem er leise einige Minuten sich mit dem Prinzen besprochen hatte, „höre, was ich Dir im Namen Seiner Hoheit zu sagen habe. Du bist ein kluger, gewandter Knabe, und das gefällt dem Prinzen, und er möchte Dir gern eine Gnade erweisen.“

„Ja, ich möchte Dir gern eine Gnade erweisen,“ wiederholte der Prinz vornehm. „Wenn Du die alte abscheuliche Judengasse verlassen und ein ordentlicher Mensch werden und Dich taufen lassen willst, so will ich meinen Vater, den Herrn Kurfürsten von Hessen, bitten, daß er sich Deiner annimmt und Dich irgend ein Handwerk erlernen läßt, damit Du als Schuster oder Bäcker Dir auf ehrliche Weise Dein Brod verdienen kannst.“

„Ich danke, ich bin von zu vornehmer Geburt, um ein niedriges Handwerk zu erlernen!“ rief der Kuabe stolz. „Ich bin von zu ehrlichen Eltern, um meine Religion zu wechseln, wie’s die Prinzen und Prinzessinnen thun, wenn sie Profit davon haben, und ich habe die alte, schmutzige Judengasse viel zu lieb, als daß ich sie jemals verlassen könnte. Hier in der Judengasse will ich leben und sterben, hier will ich ein reicher Mann, ein Millionär werden.“

„Du ein reicher Mann, ein Millionär?“ lachte der Prinz. „Meine Frau Mutter hat mir erzählt, eine Million sei sehr viel Geld. Wie willst Du armer Knirps es also anfangen, eine Million zu bekommen?“

„Wie ich es anfangen will?“ fragte Mayer Anselm trotzig. „Ich will sie mir erwerben.“

„Wodurch aber?“

„Durch Handel und Wandel, Mosje Prinz. Ich handle jetzt mit Stecknadeln und Bindfaden, die Stecknadeln suche ich mir von der Straße auf, wo die geputzten Damen sie verlieren, die Bindfadenenden hole ich mir aus den Magazinen der reichen Kaufleute, die sie achtlos von den Ballen ablösen und bei Seite werfen. Ja, ja, ich handle jetzt mit Stecknadeln und Bindfaden, aber dereinst, wenn die Zeit gekommen ist, werde ich mit Gold und Silber, mit Landgütern, mit Thronen und Kronen handeln. Wenn Sie, Mosje Prinz, mir dann vielleicht Ihre kleine Krone zum Verkaufen geben wollen, stehe ich zu Diensten und werde suchen, sie möglichst billig an den Mann zu bringen. Aber jetzt, meine Herrschaften, bitte ich um’s Geld. Ich habe Sie eine ganze Stunde herumgeführt.“

„Da, hier hast Du drei Gulden,“ sagte der Baron, indem er das Geld in die dargereichte Hand des Knaben fallen ließ.

„Drei Gulden, ein kleiner Beitrag zu meiner Million,“ sagte der Knabe lächelnd. „Ich danke Ihnen.“

„Also jetzt beleidigt es Dich nicht, Dir Geld von uns schenken zu lassen?“ fragte der Prinz hochfahrend.

„Ich habe mir kein Geld schenken lassen,“ erwiderte der Knabe, „ich habe mir das Geld von Ihnen redlich verdient. Na, da kommt der Stadtvoigt, um das Thor zu schließen. Jetzt machen Sie, daß Sie fortkommen, meine Herrschaften. Aber wenn Sie wieder einmal so neugierig sein sollten, die Judengasse in Frankfurt zu sehen, so melden Sie sich bei mir, ich werde Ihnen gern den Gefallen erzeigen.“

„Und Du, wenn Du in großer Noth bist und der Hülfe bedarfst, so komme nach dem Schloß in Hanau,“ sagte der Prinz, „melde Dich bei dem Portier und lasse mich um eine Audienz bitten. Ich bin der Prinz Wilhelm von Hessen und residire mit meiner Frau Mutter im Schlosse zu Hanau.“

„Und ich bin der Mayer Anselm Rothschild und residire mit meiner Frau Mutter in der Judengasse zu Frankfurt,“ sagte der kleine Mayer, indem er den stolzen Gruß des Prinzen mit einem ebenso stolzen Kopfneigen erwiderte.

Er blieb stehen und schaute dem Prinzen nach, der jetzt am Arm seines Hofmeisters mit hochgehobenem Haupt die Straße hinabschritt, um sich nach der fürstlichen Equipage zu begeben, die an der nächsten Straßenecke ihrer harrte. Dann, als die Beiden seinen Blicken entschwunden waren, drehte Mayer Anselm sich um, und mit seinen langen dürren Fingern ein Schnippchen schlagend, murmelte er vor sich hin: „Ist ein recht dummer Junge! Wenn der an meiner Stelle wäre, so würde er in seinem Leben kein Millionär werden, sondern immer nur ein Schacherjude bleiben! Aber jetzt fort, fort! Was wird die Memme sich freuen, wenn ich ihr das Geld bringe!“

Und mit beflügelten Schritten, kaum die Grüße der Vorübergehenden erwidernd, eilte Mayer Anselm durch die lange Judengasse dahin nach dem alten zerfallenen schmutzigen Hause, in welchem seine Mutter wohnte.

„Memme, meine liebe Memme!“ rief er, als er die Thür öffnete zu der düstern niedrigen Kammer; „Memme, ich bringe Dir –“ Aber das freudige Wort verstummte auf seinen Lippen, und mit einem lauten Schmerzensschrei stürzte er zu dem ärmlichen Lager hin, auf welchem seine Mutter ruhte. Sie sah ihn nicht, ihre Augen waren geschlossen, ein tiefes, unheimliches Stöhnen drang aus ihrer Brust hervor, der Schweiß stand in großen Tropfen auf ihrer gelben, marmorkalten Stirn, ihre blassen, abgemagerten Hände ruhten gefaltet auf der dunkeln Decke, welche ihre arme zerfallene Gestalt verhüllte. Auf dem niedrigen, binsengeflochtenen Lehnstuhl vor dem Bette saß ein kleines Mädchen von vielleicht sechs Jahren, aber mit jenem ernsten, verständigen Ausdruck der Mienen, wie ihn Noth und frühzeitige Entbehrung den Kindern der Armuth einzuprägen pflegt. Auch sie hatte die Hände gefaltet und schien zu beten, ihre großen schwarzen Augen waren himmelwärts gerichtet, und schwere Thränen flossen aus denselben langsam über ihre Wangen nieder.

„Was ist’s mit der Memme?“ schrie der Knabe, zu dem Bette hinstürzend. „Mutter, warum antwortest Du mir nicht, warum schauest mich nicht an und freu’st Dich, daß ich wieder da bin?“

Aber die Kranke schien seine Worte gar nicht gehört zu haben, sie fuhr fort zu stöhnen und zu ächzen, und ihre Augen öffneten sich nicht.

Mayer Anselm’s Blicke wandten sich entsetzt auf das kleine Mädchen, und er legte seine zitternde Hand auf ihre Schultern „Gudula!“ murmelte er mit beklommener Stimme; „warum antwortet sie mir nicht? Gudula! was ist’s mit der Memme?“

„Sie ist krank, Mayer Anselm, sehr krank,“ schluchzte das kleine Mädchen. „Du hattest mir, als Du heute Morgen auf den Handel gingst, gesagt, ich solle zu Deiner Mutter gehen und bei ihr bleiben, bis Du wieder kämst. Als ich in die Kammer trat, lag sie ganz unbeweglich auf der Erde und hörte nichts, so viel ich auch bat, mir Antwort zu geben. So bin ich denn gelaufen und habe die Nachbarinnen geholt, und die haben Deine

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 771. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_771.jpg&oldid=- (Version vom 30.1.2020)