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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)


Erfahrung weiß sie ja, wie entsetzlich diese ist, da der Knebel die gewöhnliche Züchtigung ausmacht, die ihr von ihrem Manne oder sonstigen Geschäfts- und Lebensgenossen zu Theil wird, sobald sie demselben nicht nach Wunsche gehandelt ober gesprochen hat.

Der Dieb ersieht sich seine Beute unter allen möglichen Umständen und aller Orten, die Diebin sucht sich die ihrige vorzugsweise in Kaufläden, auf den fashionablen Straßen, im Omnibus und auf dem Dampfboote, im Eisenbahncoupé und bei öffentlichen Versammlungen. Weder der erstere noch die letztere aber verfährt dabei auf’s Gerathewohl. Meistens ist das Ziel vorher in’s Auge gefaßt, Zeit, Person und Localität sorgsamst und wohlbedächtigst in Betracht gezogen worden. Voller Verschlagenheit, unermüdlich in Erfindungen und Plänen, in der Regel mit großem Scharf- und Ueberblicke begabt, würden sie in ihren Unternehmungen nur selten scheitern, wenn sie ihre wohlersonnenen Schachzüge nicht dann und wann von völlig unvermutheten, plötzlichen Zwischenfällen gekreuzt sehen müßten.

Hauseinbruch, Garotte und Taschendiebstahl erachtet der Londoner Langfinger als die einträglichsten Zweige seines Gewerbes; als das schwierigste und zugleich gefährlichste seiner Kunstleistungen aber gilt es, eine fremde Tasche auszuleeren, ohne daß ein dritter, Helfershelfer oder nicht, zugegen ist. Wer dies Meisterstück auszuführen versteht, hat die höchsten Staffeln der Gemeinschaft erklommen; „der Fliegensummer“ – mit diesem wunderlichen Namen wird solch ein Matador der Kunst bezeichnet – ist der Lord und Pair des wohlgegliederten Staates.

Das zahlreichste Kontingent zum Londoner Spitzbubenheere stellen die Taschendiebe der verschiedenen Arten und Grade, und da die Technik ihrer Kunst die interessanteste, mannigfaltigste und sinnreichste ist, auch der Neuling in London sich vor dem Pick-pocket (Taschendieb) vor Allem zu hüten hat, so wollen wir uns mit einigen Kunstgriffen des Beutelschneiders zunächst bekannt zu machen suchen.

Geschieht es auch zuweilen, daß der Taschendieb allein, ohne Spießgesellen und Helfershelfer, seinem Tagewerke nachgeht, so doch nur in äußerst seltenen Fällen, weil sich blos ein ungewöhnlich geschickter Gewerbsgenosse in solches Wagniß einlassen kann. Meist ziehen sie zu Zweien oder Dreien, nicht häufig in noch größerer Anzahl, auf Beute aus; immer aber fällt der eigentlich active Theil des Geschäfts blos Einem zu, der im englischen Rothwälsch „Wire“ – der Draht oder Leitfaden – heißt. Die Anderen decken ihm Fronte und Rücken und benehmen sich, als hätten sie zu dem Diebe nicht die geringste Beziehung. Ihnen liegt es ob, die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden oder sonst in der Nähe Befindlichen vom Wire abzulenken, der seinerseits den gemachten Fang nicht lange in den Händen behält, sondern sich beeilt, denselben einem seiner Schutzwächter zuzuspielen.

Der Londoner Taschendieb erlangt rasch einen merkwürdig sichern Blick hinsichtlich der Lebensstellung der Leute, denen er begegnet, und der Beschaffenheit ihrer Börsen. Ueberdies hat er ein scharfes Auge, wenn er Jemanden auf der Straße oder an öffentlichen Plätzen den Beutel ziehen sieht, und keine Münze entgeht ihm, die dort ausgegeben oder empfangen wird. Selten, daß er sich in der Wahl seines Opfers täuscht, dem er oft Stunden lang nachschleicht, bis ihm der günstige Moment zu seinem Handstreiche gekommen scheint. Ein Feind jeder Ueberstürzung, steht er lieber von der verhängnisvollsten Beute ab, wenn er den Angriff nicht mit Sicherheit riskiren zu können glaubt. Das Verlockendste sind ihm jederzeit die goldenen Uhrketten, weil ihnen leichter beizukommen ist, als dem Taschenbuche oder dem Portemonnaie. Hierbei braucht es kein langes Abpassen und Lauern. Einer der Helfershelfer rennt, wie zufällig, das Opfer an, fragt es nach dem Wege oder nach der Zeit oder weiß eine Stockung in der Circulation auf dem Trottoir zu verursachen, und inzwischen werden Kette oder Uhr oder im glücklichen Falle Beides annectirt und dem zweiten Spießgesellen wohlbehalten überantwortet.

Die Tasche herauszufinden, in welcher man Geld oder Notizbuch trägt, haben Diebe und Diebinnen ein wunderbares Geschick. Hurtig und leise, so daß auch nicht die Spur einer Berührung gefühlt wird, gleitet die Hand über Rock und Beinkleid, oder über die Falten der Damenrobe, und im Nu ist das Behältniß entdeckt, welches den Schatz verwahrt, und dem Wire durch Pantomimen verrathen. Im andern Augenblicke hat dieser mit dem Daumen und dem zweiten und dritten Finger, meist der rechten Hand, den Raub vollzogen, und eine Secunde darauf ist die Bande in der Menge verschwunden, in der Regel lange, ehe der Bestohlene ahnt, was ihm geschehen.

Der Wire und seine Genossen unterhalten miteinander eine trefflich organisirte Zeichen-Telegraphie. Ein Hüsteln, ein Lachen, ein Stampfen mit dem Fuß, ein Wink, ein Verrücken des Hutes genügen der Genossenschaft, die erforderlichen Nachrichten zu vermitteln, dem Wire zu sagen, daß die Polizei im Anzuge, daß man beobachtet wird, daß es nicht an der Zeit, daß der Coup aufzugeben ist, oder den Assistenten zu verkünden, daß der Ausübende den Streich vollbracht, den Fang verfehlt oder erlangt hat.

Mitunter finden sie sich halb ertappt; blitzschnell wird alsdann das corpus delicti an seinen Ort zurückprakticirt, ohne daß der Bearbeitete sich im Mindesten träumen läßt, welchen kühnen Griffen er ausgesetzt war. Solch ein Fehlschlag schreckt indeß den geübten Taschenjäger nicht leicht von der Verfolgung des einmal auf’s Korn genommenen Wildes ab; er läßt dies vielmehr nicht aus den Augen und versucht sein Glück so lange, als ihm eine Aussicht auf Erfolg bleibt. Kommt er in Verlegenheit, sieht er sich mit Entdeckung bedroht, so entfalten seine Kumpane ihre ganze Größe und Thätigkeit, spielen den unbetheiligten und unparteiischen Zuschauer meisterlich und leisten das Menschenmögliche, ihn durch ihre Aussagen aus der fatalen Klemme zu retten und unbehelligt für ein neues Arbeitsfeld zu erhalten, das nun in einem von dem unsicher gewordenen alten Schauplatze weit entlegenen andern Stadttheile aufgesucht wird, wo die Luft noch rein ist.

Die Taschen in den Kleidern der Damen, die meist tiefer hinabreichen und darum nicht so bequem auszufingern sind, als die minder gründlichen Behältnisse der Herrentoilette, machen eine besondere Praktik notwendig. Mit unmerklichem Griffe sondirt die linke Hand außen am Kleide, wo die zu plündernde Tasche ihren Boden hat, hebt sie eben so unfühlbar zu der oben schon bereit gehaltenen rechten Hand empor und entleert geräuschlos den Inhalt in die letztere. Die Gaunersprache nennt dies „Bohren“, und die „Bohrer“ sind das Elitecorps der weiblichen Londoner Langfingergarnison.

(Schluß folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 784. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_784.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)