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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

ahnte, und selten täuschte er sich in seinen Befürchtungen. Bei guter Zeit brachen wir am andern Morgen auf. Am Damme luden wir unsere Gewehre und zwar je den rechten Lauf mit einer Kugel. Selten hatte ich meinen Lieutenant so heiter, den alten Jäger dagegen noch nie so einsylbig gesehen. Unsere letzte Feldwache war passirt, die Hühnersuche begann. Bald stand ein Volk Hühner auf. Mehrere wurden erlegt, ich hatte eins angeschossen, das sich in der Nähe von Kropp niederließ, einem Dorfe, wo beständig feindliche Husaren postirt waren.

„Das müssen wir haben,“ rief der Lieutenant.

Jörn und ich stellten ihm indessen vor, daß wir dem Feinde doch nicht so nahe kommen dürften.

„Haben Sie Furcht?“ fragte mich mein Commandant etwas spöttisch.

„Keineswegs,“ erwiderte ich; „gehen wir denn vorwärts!“

Und der Marsch begann. Am äußersten Flügel, dem Feinde zunächst, schritt ich, in der Mitte der Lieutenant, ihm zur Rechten Jörn, der weniger das Feld absuchte, als vielmehr besorgt bald auf mich, bald auf das Dorf schaute. Schon waren wir ganz in der Nachbarschaft des Ortes und hatten im Falle einer Attaque den Rückzug nach dem naheliegenden Moore beschlossen, um uns hinter den dieses einfassenden Dämmen zu verbergen und von dort aus dem anrückenden Feinde eine Salve entgegenzusenden.

„Se koamt, se koamt,“ rief plötzlich unser guter Alter, „kumm’ man gau her, mien leeve Söhn!“[1]

Fünf dänische Husaren hatten unsere Verfolgung begonnen. Jörn zeigte mir den Weg, indem er rasch dem Bruche zueilte und erst hinter einem zweiten Walle seinen Platz einnahm, wohl wissend, daß die Cavallerie dort versinken mußte, wo der Fußgänger Mühe hatte, über den wankenden Boden zu gleiten. Der Lieutenant war schon an Ort und Stelle; ich aber hatte den weitesten Weg zu machen und war daher der feindlichen Reiterei allein noch sichtbar.

Am Rande des Moors angelangt, gewahrte ich zu meiner Linken in einer Vertiefung eine verlockend schöne grüne Ebene, die mich sofort den Augen des Feindes entziehen konnte. Ich schickte mich also an, hineinzuspringen. Jörn war allen meinen Bewegungen aufmerksam gefolgt. Eben, da ich zum Sprunge ansetzen wollte, kreischte er auf: „Herr Jeses, holl in!“[2]

Aber der Ruf kam zu spät, der verhängnisvolle Sprung ward vollführt, und – bis an die Schultern stak ich im Sumpf, keinen Boden fühlend und tiefer und tiefer sinkend. Ich versuchte, mich mit der rechten Hand auf mein Gewehr zu stützen, aber da ich keinen Grund fand, stieß ich dasselbe nur noch tiefer in den Morast. Verzweiflungsvoll griff ich mit der Linken nach einem dünnen Schlehenstrauch, dem einzigen Rettungsanker in dieser fürchterlichen Lage. Es war eine sogenannte Treibwiese gewesen, die mich zu dem Unglückssprunge verlockt hatte, und schon ward mir das Athmen schwer in dem dicken Moore, in dem ich versunken war.

Bereits ging mir der Sumpf bis zur Kehle, noch wenige Secunden vielleicht und die grüne Fläche hätte sich lachend über einem lebendig Begrabenen wieder geschlossen.

Die Todesangst ließ mich unter unsäglicher Anstrengung noch einen Hülferuf ausstoßen. Allein Jörn hatte diesen nicht abgewartet. Sowie er meinen Sprung bemerkte und die Husaren von unserer vermeintlich nutzlosen Verfolgung abgestanden waren, stürzte er, in Voraussicht der Katastrophe, zu der Unglücksstelle. Es war die höchste Zeit. Vorsichtig bückte er sich nieder, ergriff meinen Rockkragen und zog mich mit fast übermenschlicher Kraft wieder aus dem Sumpfe hervor.

Als er mich gerettet sah, wischte er sich den Angstschweiß von der gefurchten Stirn, und erst nach und nach trat ihm das Blut wieder in die Wangen, die leichenblaß geworden waren. Während ich mich durch eine kurze Rast zu erholen suchte, hielt Jörn treu Wache bei mir, und als er wahrnahm, daß ich außer einer durchnäßten und beschmutzten Kleidung kein Leid davongetragen hatte, funkelte sein Auge vor Freude. Ich wollte ihm danken. Er schloß mich aber in seine Arme und stammelte gerührt die Worte: „Wie wöhlen tosamen Gott danken, mien Jung’, denn ick harr dat nich erleben kunnt’, dat du versugen daihst.“[3]

Die Wasserpartie hatte mir nicht geschadet. Ich eilte darum andern Tags alsbald nach dem Orte, wo Jörn’s Kahn gewöhnlich anlegte. Aus voller Kehle rief ich seinen Namen, aber er erschien nicht, sondern Stina löste den Nachen und ruderte herüber.

„Wo is Vadder? frug ich besorgt.

Stina erzählte mir, daß er unwohl sei und zu Bett liege. Er hatte sich bei der gestrigen Tour erkältet. Wir tauschten jetzt die Rollen, und ich machte den Fährmann. Ich fand Jörn ziemlich ernstlich krank. Was war da natürlicher, als daß ich fast meine ganze freie Zeit an seinem Bette zubrachte? War er mir doch lieb geworden, daß ich wie um meinen eigenen Vater für ihn sorgte. Der Gram mochte übrigens eine Hauptursache seines Leidens sein. Die Gerüchte von der baldigen Auflösung der schleswig-holsteinischen Armee verbreiteten sich nämlich mehr und mehr und gewannen täglich an Glaubhaftigkeit. Doch sollte noch ein Begebniß Jörn’s verdüstertes Gemüth auf kurze Zeit wieder erheitern.

Jeder schleswig-holsteinische Soldat mußte eben durch Handschlag das feierliche Gelöbniß ablegen, bis zum letzten Blutstropfen für die heilige Sache des armen Vaterlandes auszuharren. Dazu kam die Nachricht, daß Baiern und andere Regierungen sich geweigert hätten, die vom deutschen Bunde zur Besetzung Schleswig-Holsteins bestimmten Truppen marschiren zu lassen. Damit hatte sich ein letzter Hoffnungsstrahl in das bekümmerte Herz des Alten gestohlen. Nun konnte sich ja mit einem Schlage noch Alles wenden! Armer Jörn, wie eitel sind alle diese unsere Hoffnungen gewesen! Wie bald stürzten unsere Luftschlösser zusammen!

Am späten Abend des 6. November erhielt ich durch eine Ordonnanz den Befehl, beim Lieutenant zu erscheinen. Ich meldete mich sogleich und empfing den Auftrag, am andern Morgen nach Rendsburg zu fahren, um daselbst verschiedene Gegenstände für die Batterie zu requiriren. Gleichzeitig theilte mir mein Commandant aber auch mit, daß ich nach einer soeben eingelaufenen Nachricht nicht mehr den gewöhnlichen Weg passiren könne, der Deich sei gebrochen, und es bleibe daher nichts Anderes übrig, als mich zwischen den Vorpostenketten durchzuwagen. Ich hatte am 7. November vor Jahren einmal ein lebensgefährliches Jagdabenteuer bestanden und betrachtete seitdem den Tag gewissermaßen als ominös. So konnte ich auch jetzt eine böse Vorahnung nicht loswerden.

Vom Schlafe war keine Rede. Ohnedies war es schon beinahe zwölf Uhr geworden; ich beschloß also, meine nächtliche Runde zu machen. Ein glücklicher Zufall wollte, daß Jörn nach langer Unterbrechung heut’ zum ersten Male wieder in seinem Kahne auf mich wartete. Stina hatte ihn begleitet. In rabenschwarzer Finsterniß schüttelten wir uns gegenseitig die Hände, dann reichte mir Jörn, wie üblich, seine Flasche zu. Natürlich erzählte ich dem lieben Alten sofort von der sicherlich nicht gefahrlosen Reise, die mir bevorstand, und meinte, der 7. November würde mir wohl wieder ein Unglückstag sein.

„Du dröffst[4] nich alleen gahn,“ flüsterte mir Jörn zu, damit es Stina nicht hörte, „um Klock söß töw’ ick morgen fröh hier ob di.“[5]

Ich wollte dem guten Alten etwas erwidern, um ihn von seinem Vorhaben abzuhalten, allein er hielt mir den Mund zu, und ich schwieg, um ihn nicht zu erzürnen. Noch ein Zug aus der Flasche, dann ein herzliches „Goode Nacht“. Jörn ruderte mit Stina zurück, während ich meine Runde beendete und nach Meggerdorf heimkehrte.

Am nächsten Morgen gegen sechs Uhr bestieg ich ein Bauernfuhrwerk und rollte dem Damme zu, wo ich Jörn treffen sollte. Er war schon am Platze, schickte den Fuhrmann zurück, schwang sich selbst auf den Wagen und nahm Zügel und Peitsche, um mir Führer und Kutscher zugleich zu sein. Kein Mensch kannte aber auch die ganze Umgegend so wie er, und da er außerdem von der Stellung des Feindes immer genau unterrichtet war, so konnte ich mich in keiner bessern Hut befinden. Wir erreichten unsere letzte Feldwache, und ich zeigte meinen Passirschein dem commandirenden Officier vor. Dann legte ich mich auf Jörn’s Anrathen der Länge nach in den Wagen, damit der Feind die Uniform nicht erblicke, und im gestreckten Galopp sausten wir ganz in der Nähe von Kropp vorüber, wo nach des Alten Aussagen wieder fünf Husaren die Wacht hielten, indessen einfache Bauernfuhrwerke niemals belästigten. Unangefochten kamen wir an die zweite Vorpostenlinie, wiesen hier wieder den Passirschein auf und fuhren dann im Schritt bis nach Rendsburg.

  1. Komm nur schnell her, mein lieber Sohn.
  2. Herr Jesus, halt ein!
  3. Wir wollen zusammen Gott danken, mein Junge, denn ich hätte das nicht erleben können, daß Du ertränkest.
  4. Darfst.
  5. Um sechs Uhr warte ich morgen früh hier auf Dich.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 790. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_790.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)