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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

angebracht, noch lesbar, doch etwas verwaschen, denn die Wirkung des kleinen Schutzdaches reichte nicht so weit und hinderte den Regen nicht, unter demselben hereinzuschlagen.

Die Inschrift lautete:

„Am 10. Juni 1806, Sankt Margarethen-Tag, seines Alters
im 24 igisten Jahr, ist hier der ehr- und tugendgeachte Jüngling,
Gotthard Recht, Jagdgehilf, durch einen Sturz von der langen
Wand verunglückt und hat sich erfallen.
 Bedenk’ es wohl, mein lieber Christ:
 Weißt nie, wie nah das Sterben ist.“

Das Volk im bairischen Hochgebirge liebt es, auf diese Weise die Stellen zu bezeichnen, an welchen ein Unglück, ein besonderes Naturereigniß sich zutrug oder auch ein Verbrechen begangen wurde, und dadurch noch nach Jahren den frommen Wanderer, der daran vorüberzieht, zum Gebete zu mahnen. Die Täfelchen werden je nach Gelegenheit an den Wänden der Häuser, an Bäumen oder auch an eigenen kleinen Säulchen angebracht, welche Martersäulen, kürzer auch „Marterln“ genannt werden.

In die Felsschlucht führte von dem tief unten am Rande der Obernach vorbeiziehenden schmalen Waldsträßchen ein schwieriger, mühevoller Fußpfad herauf, zwischen Gestrüpp und Blöcken hindurch und mehrmals das steinige, jetzt weißgebleichte Rinnsal des Wildbaches kreuzend. Schon eine beträchtliche Strecke vor der eigentlichen Verengerung der Schlucht schwenkte der Weg nach rechts ab und bog in den Hochwald ein, dessen Wand durch einen Zaun von langen Stangen verwahrt war, damit das Vieh sich nicht in die Schlucht verlaufen konnte, wenn es sich von den Alm-Weideplätzen verloren, welche hoch oben über Felsen und Bäumen sich sonnten und grünten, schimmernd und duftend von saftigem Gras und Bergkräutern und mit mancher freundlichen Sennhütte bestreut.

Diesen Pfad kam jetzt ein Mädchen herab, in der bäurischen Tracht der nahen Jachenau, welche damals – vor vierundfünfzig Jahren – noch allgemein und unverfälscht getragen wurde. Ein langer rothbrauner Rock fiel bis auf die Knöchel und die weit ausgeschnittenen niedrigen Schuhe herab und ward wieder auf der Brust als Unterleibchen sichtbar, mit blanken Knöpfen besetzt und mit einer schmalen Spitzenkrause den Hals umschließend. Darüber trug sie eine kaum bis an die Schultern und unter die Brust reichende hellgrüne Jacke mit kurzen Aermeln, deren ebenfalls mit einer Krause abschließende Enden die kräftigen, gebräunten Arme ungehindert hervortreten ließen. Den Raum zwischen Jacke und Leibchen füllte ein leicht umgeschlungenes blaßgelbes Tuch; den grünen Hut mit den breiten aufgebogenen Krampen und den darüber gespannten goldbefranzten, hellgrünen Bändern trug das Mädchen in der Hand. Dadurch wurde das blonde Haar sichtbar, das sie in dichte Zöpfe geflochten und über den Kopf geschlungen trug, auch die meist durch den Hutrand geschützte und darum auffallend weiße, wohlgeformte Stirne und das etwas schmale Angesicht, das trotz seiner fast kränklichen Blässe erkennen ließ, wie schön es gewesen sein mochte, in den Tagen, als noch der Frohsinn der Gefährte der Jugend war. Die Augen hatte sie meist zu Boden gesenkt, als suche sie etwas Verlornes emsig vor sich hin, wenn sie dieselben aber aufschlug, war der Eindruck der ganzen Erscheinung verändert, denn sie waren von dunklem, fast in Schwarz übergehendem Braun und bildeten durch das düstere Feuer, das in ihnen loderte, einen befremdlichen Gegensatz zu der weichen, fast leidend ergebenen Miene. Nur der fein geschnittene Mund, von der Farbe einer blassen Rose, stimmte dazu, denn er war fest, beinahe herb geschlossen, und der Zug um ihn verkündete einen starken, trotzigen Sinn.

In der Hand, neben dem Hute, trug sie einen Kranz, aus solchen Almkräutern und Gewächsen gebunden, welche am längsten zu dauern versprachen, aus den krausen, dorngeränderten Blättern der Stechpalme, den dunklen Ranken des schmalblättrigen Waldepheus, den graubefiederten Blüthendolden der hochhinankletternden Zaunrübe, den tiefgrünen Zweiglein von Scheibenblatt und Immergrün – ein einziger mattweißer Stern von Edelweiß vorn an der Kranzspitze war der ganze lichte Farbenschmuck des Gewindes.

Beinahe ohne aufzublicken war das Mädchen an den Eingang der Klamm gekommen und wandte sich gegen dieselbe, als sie plötzlich stille stand und den überraschten, fragenden Blick auf das Martertäfelchen heftete.

Der Schmuck, den sie mitgebracht hatte, war überflüssig, über dem Schutzdache des Gemäldes hing bereits ein Kranz, aus Tannenreisern und Aesten der zunächst stehenden Gesträuche geflochten.

„Was ist denn das?“ sagte sie halblaut vor sich hin. „Wer hat den Kranz da her gehängt? … Es kommt doch das ganze Jahr fast Niemand in den abgelegenen Winkel – Niemand als ich! Und auch die Betkorallen sind gerückt – ich weiß es ganz genau, wie ich sie vorgestern gelassen hab’ … Wer ist dagewesen?“

Begreiflicher Weise kam in der Oede keine Erwiderung auf die Frage. Einen Augenblick stand sie noch zögernd, dann trat sie rasch vor und streckte die Hand nach dem Kranze aus, eine zornige Empfindung war in ihr aufgewallt und hieß sie, den Kranz wegzuwerfen und zu zerstören – Wer, außer ihr, hatte ein Recht, hier zu trauern? Wer durfte sich anmaßen, ein Zeichen liebender Erinnerung an die Unglücksstätte zu tragen? … Im Begriffe den Kranz zu erfassen, ließ sie jedoch die Hand wieder sinken, hob dann den eigenen Kranz in die Höhe und hängte ihn über den andern. Eine weichere, dankbare Regung war ihr mit einem wohlthuenden, lang entbehrten Gefühle der Wärme zum Herzen geströmt und hatte den Zorn übermannt. In den ersten Wochen nach dem unglücklichen Ereigniß war das Gerede über dasselbe verstummt, der Jäger und sein Geschick waren vergessen, mehr als drei Jahre lang war sie mit ihrer steten Trauer um den Todten allein gewesen – jetzt war es ihr ein unsäglich erfreuender Gedanke, daß es außer ihr noch ein Menschengeschöpf gab, das, wie sie, den Dahingeschiedenen nicht vergessen hatte. Damit kehrten die frühern Gedanken zurück und die Frage nach dem Spender des Kranzes. Der Jäger war fremd gewesen; er hatte in der Gegend weder Befreundete noch Verwandte, die seiner gedenken konnten – sie mußte das vergebliche Nachsinnen aufgeben und kniete in das Gras zu den Füßen der Felswand, um ein brünstiges Gebet für das Heil der armen Seele zu sprechen, die so plötzlich und furchtbar abgerufen worden war aus dem irdischen Leben und Leibe.

Wie sie so in Andacht versank, versank auch bald die Gegenwart um sie her, sie vergaß die drei Jahre des Grams, und die zurückgewendete Seele sah sehnsüchtig in die Tage des Glücks hinüber, welche den Jahren vorangegangen. Sie hörte und beachtete darüber nicht mehr, was um sie vorging, und bemerkte auch die beiden Männer nicht, welche von der Straße her durch das Steingeröll heraufgestiegen kamen. Der Eine davon, in kurzen Lederhosen, Wadenstrümpfen und derb benagelten Bergschuhen, trug die Jacke zusammengeschlagen über der Schulter und dem schneeweißen, durch die Gurten des grünen Hosenträgers noch gehobenen Hemd. Er hatte den Hut abgenommen und trocknete sich mit dem Hemdärmel den Schweiß von dem gefurchten Angesicht und von dem kahlen, nur von einem silberweißen Haarkränzchen eingefaßten Kopf.

Sein Begleiter war beträchtlich jünger, eine schlanke und doch gedrungene Gestalt mit grünem, schmalkrämpigem Spitzhut, in schwarzen Lederhosen und weiten, bis über die Kniee heraufgezogenen Wasserstiefeln. Um den Leib hing lose eine blaue Weste mit Silberzwanzigern als Knöpfen, ein leichtes dunkles Flortuch um den Hals, und um die Mitte ein wohlgefüllter breiter Ledergurt, eine sogenannte Geldkatze. Auf der Schulter trug der Bursche eine langstielige Axt, über welcher die graue Joppe hing – es war nicht zu verkennen, daß er zu den Flößern gehörte, welche – damals noch viel häufiger als jetzt – in den Wäldern an der Isar hinauf große Bäume fällten, zu Flößen verbanden und damit nach München und weit darüber hinaus in die Donau nach Wien fuhren und bis tief nach Ungarn hinab. Dort wurde das Fahrzeug verkauft, und der Fährmann, den Kaufpreis im Gurt und das Beil auf der Achsel, ließ sich die weite Fußwanderung in die Heimath nicht verdrießen, um unmittelbar nach seiner Ankunft Alles zu neuer Fahrt zu bereiten. Das Gesicht des Burschen trug den offenen markigen Schnitt, der die Züge der Isarthaler von Tölz und Laupgries kennzeichnet, aber es war etwas Wüstes und Fremdes darin, ein höhnischer, fast roh unheimlicher Zug um den Mund, der durch den dichten Schnurrbart unter der gebogenen, etwas seitwärts gedrückten Nase keineswegs verdeckt wurde.

„Hab’ ich mir’s nit eingebildet!“ rief, stehen bleibend, der Alte, als er das Mädchen knieen und beten sah. „Da ist sie richtig wieder herunten vor dem verflixten Marterl und laßt die Alm Alm sein! … Aber Binl,“ fuhr er lauter fort, als sie ihn nicht gleich bemerkte, „sage nur, was Du treibst? Ist das eine Zeit, wo man von der Alm weggeht und das Vieh allein laßt? Jetzt, wo schon bald abgetrieben wird und das Vieh am weitesten geht und sucht?“

Das Mädchen hatte sich gelassen erhoben, bekreuzte sich zum

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_002.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)