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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

eingeführt ist, um dem Gefangenen die einzige Erholungsstunde des Tages zu einer Stunde der Langeweile und der Ermüdung zu machen, und den ich auch in den meisten englischen Gefängnissen gefunden habe, kannte das Gefängniß la Roquette nicht. „Was für Strafen wenden Sie denn gegen die Gefangenen an, welche sich widersetzen?“ fragte ich meinen Begleiter, als wir zwischen den plaudernden und umhergehenden Gruppen der Bagnosträflinge hindurchgingen.

„Entziehung der Freistunden, der warmen Kost, auch nöthigenfalls Entziehung des Bettes und Einsperrung in eine dunkle Zelle,“ antwortete er.

„Nicht die Prügelstrafe?“ erwiderte ich.

Der Mann blieb stehen und blickte mich verwundert an. „Prügel?“ sagte er, „Prügel? Sie meinen doch Prügel mit dem Stock oder mit der Peitsche?“

„Allerdings, diese meine ich.“

Der Brigadier schwieg einen Moment. Dann fuhr er auf. „Herr,“ rief er, „in Frankreich prügelt man keine Menschen, auch keine Bagnosträflinge! Prügelt man denn in Ihrem Vaterlande Menschen? Sie sind wohl aus Rußland, wo man die Knute gebraucht?“ !

„Nein, ich bin nicht aus Rußland, wo man die Menschen mit der Knute züchtigt, ich bin aus Deutschland.“

Der Brigadier sah mich noch erstaunter an. Es schien ihm unerklärlich, daß es außer Rußland noch ein Land in Europa gebe, wo man Menschen mit dem Stock oder mit der Peitsche züchtige. Endlich erholte er sich von seinem Erstaunen. „Sagen Sie,“ wiederholte er, „ist es wahr, daß man in deutschen Gefängnissen prügelt?“

„Sicherlich,“ sagte ich ihm nochmals, „mit einer so fürchterlichen Sache scherzt man nicht. In den meisten deutschen Zuchthäusern wird die Prügelstrafe nicht selten dictirt und ausgeführt.“

„Prügelt man denn auch Frauen und Mädchen in deutschen Gefängnissen?“ fragte er weiter. Auf seinem Gesichte zeigte sich ein Ausdruck, als wenn er bestimmt ein „Nein“ erwarte.

„Allerdings,“ sagte ich, „man prügelt auch Frauen und Mädchen in deutschen Gefängnissen; man legt sie zu diesem Zweck auf einen Bock, den man „Fuchs“ nennt und auf dem ihnen Arme und Beine mit ledernen Riemen festgeschnallt werden. Die einzige Rücksicht, die man bei dieser Operation auf ihr Geschlecht nimmt, ist, daß man ihnen dabei leinene Hosen anzieht.“

Das wollte meinem braven Brigadier nicht einleuchten. Kopfschüttelnd murmelte er ein „Impossible!“ zwischen den Zähnen, während wir unsere Wanderung fortsetzten.

Wir betraten nun zunächst die Arbeitssäle der Sträflinge, welche sich in den verschiedenen Etagen des dreistöckigen Gebäudes befinden. Sie waren hoch, reinlich und luftig, enthielten aber sonst nichts Bemerkenswerthes, als die Verbrecher, welche hier ihren Fähigkeiten oder dem früher betriebenen Handwerke gemäß beschäftigt wurden. Da arbeiten Schuster, Schneider, Lederzubereiter, Pantoffelmacher, Schmiede, Schlosser, Tischler in den hierzu eingerichteten Werkstätten bis zu dem Tage, wo sie die Reihe der Deportation über das Meer trifft. Aber in diesen grauen, wollenen Jacken und Hosen steckte das gefährlichste Gesindel Frankreichs. Jeder der Gesellschaft war wenigstens ein viel bestrafter Dieb. Wie mancher hatte unter der Anklage des Mordes, der Fälschung und des Straßenraubes gestanden! Während wir durch die verschiedenen Werkstätten gingen, erzählte mir mein Begleiter, indem er mich hie und da auf einzelne Galgenphysiognomien aufmerksam machte, eine lange Reihe haarsträubender Geschichten, in denen Diebstahl und Giftmischerei, Nothzucht und Mord die Hauptrolle übernommen hatten. Ich sah junge Sträflinge, die kaum das zwanzigste Jahr überschritten hatten, mit sanften, weichen Gesichtszügen, und doch hatten sich ihre Hände bereits mit den schändlichsten Verbrechen befleckt, und alte Männer mit weißen Haaren, auf deren Gesichtern die Galeere tiefe Furchen gezogen; ich sah ausgemergelte Gestalten, Augen voll Bosheit und niederträchtiger Tücke und Stirnen, auf denen die Gemeinheit ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatte. Aber wozu diese lange Gallerie von Laster und Verbrechen schildern? Es wurde mir unheimlich zu Muthe, wenn ich im Vorübergehen ihre Kleider streifte, und noch heute überläuft mich, während ich schreibe, in der Erinnerung ein Gefühl des Ekels und des Widerwillens. Doch selbst diese Kerle wurden nicht geprügelt, sie wurden in ihrer Verpflegung auf das Menschlichste behandelt, wenn sie auch vom Menschen oft nur die Gestalt behalten hatten. Sie arbeiteten nur von Morgens acht bis Abends acht Uhr, und diese zwölfstündige Arbeitszeit umschloß noch zwei Freistunden. Sie erhielten zu ihrer Nahrung nicht jene wenig schmackhafte Gemüsesuppe, welche man in deutschen Zuchthäusern austheilt, sondern nahrhafte und gut zubereitete Speisen, wenn sie auch nur zweimal die Woche, am Donnerstag und am Sonntag, Fleisch bekamen. Morgens und Abends, zum Frühstück und zum Mittagsessen, erhielt Jeder einen Labetrunk. Die Freistunden und die Stunden von Abends acht Uhr an gehörten ihnen. Sie konnten mit dieser Zeit machen, was sie wollten. Sie konnten arbeiten, spazieren gehen oder lesen.

Zu diesem Zwecke enthielt la Roquette eine nicht unbedeutende Bibliothek, aus welcher sich jeder Sträfling wöchentlich ein Buch entnehmen konnte. Ich ließ mir die Bibliothek zeigen, der ein Sträfling als Bibliothekar vorstand. Die Bücher, welche ich aus den Fächern zog, waren belletristischen, historischen oder wissenschaftlichen Inhalts; ich fand manche Reisebeschreibung, manches naturwissenschaftliche Buch; religiöse oder kirchliche Schriften sind mir weniger zu Gesicht gekommen. Abends war es den Sträflingen gestattet, bis zehn Uhr in ihren Schlafstuben zu lesen. Jeder besaß eine eigene Zelle zum Schlafen, die sich in langen Gallerien nebeneinander an der äußeren Seite des Gefängnisses herumzogen. Jede Zelle hatte die Aussicht auf die hohe Mauer, welche, wie ich schon erwähnte, das Gefängniß der Bagnosträflinge und der zum Tode Verurtheilten in einem ungeheuren Quadrate umschloß. Es fiel mir auf, als ich mit meinem Brigadier diese langen Gänge durchschritt und mir einige Zellen öffnen ließ, daß die Eisengitter nicht dicht vor den Fenstern, sondern in einer Entfernung von vielleicht einem halben Fuß vor den Oeffnungen angebracht waren. Als ich den Kopf hinaussteckte, fand ich, daß es möglich war, mit dem Gefangenen in der Nachbarzelle, wenn derselbe ebenfalls den Kopf aus dem Fenster steckte, eine Unterhaltung anzuknüpfen. Ich äußerte mich hierüber zu meinem Begleiter, und er erwiderte mir: „Das ist richtig; es geschieht dies auch allabendlich von 91/2 bis 10 Uhr. Diese halbe Stunde vor dem Schlafengehen ist den Unglücklichen zu einer Unterhaltung gestattet. Wenn die Uhr des Gefängnisses zehn Uhr schlägt, rufen die, wie Sie bemerken, dort unten an der Mauer aufgestellten Schildwachen, die Lichter auszulöschen. Dann ist die Unterhaltung zu Ende.“

Was sagen die Zuchthausverwalter einiger deutschen Staaten zu einer solchen die Individualität des Menschen berücksichtigenden Maßregel im Pariser Gefängniß der Bagnosträflinge, sie, in deren Gefängnißhöfen die Schildwachen den Befehl erhalten, nach dem Kopfe des Gefangenen zu schießen, der sich an den Fenstern zeigt?

Das Mittelgebäude des großen Hofes hat einen zweiten Durchgang. Dieser führt in einen kleinern Hof. Ein Springbrunnen steht in der Mitte desselben, von einigen Rasenplätzen und Bäumen umgeben. Der Hof ist von zweistöckigen Gebäuden eingefaßt. Es ist hier gar still und einsam und der Contrast um so auffallender, wenn man aus dem Geräusch und Geschwirr des großen Hofes mit seinen ihn umschließenden Werkstätten kommt. Auch ich empfand diesen Contrast, als ich mit meinem Begleiter eintrat; ich hörte nichts, als das Rauschen des in ein weites steinernes Becken zurückfließenden Wasserstrahls. „Wozu dient dieser Hof?“ fragte ich den Brigadier.

„Es ist der Hof der zum Tode Verurtheilten,“ erwiderte er.

Ich schauderte einen Augenblick. „Der Hof der zum Tode Verurtheilten!“ wiederholte ich mechanisch. „Hier sahen Orsini und Pieri zum letzten Male den blauen Himmel und die grüne Erde.“ Wenn ich auch die That der fanatischen Italiener nicht billigen konnte, so wollte mich doch ein Gefühl der Wehmuth beschleichen, wenn ich an die letzten Augenblicke dieser Männer dachte, denen im schönsten Lande der Erde der blaue Himmel zum ersten Male lachte.

„Sie fragten nach Orsini und Pierri,“ sagte mein Begleiter. „Hier ist der Hof, wo sie einen Theil des Tages zubrachten.“

Schweigend ging ich durch die Gänge des kleinen Gärtchens. Die Mittagssonne blickte so golden aus dem azurblauen Himmel hinein, der Rasen war von seltener Frische. Ringsum Alles still. Nur das Wasser plätscherte in Millionen silberner Tropfen über den Stein.

„Ich werde Ihnen nun die Gefängnisse der zum Tode Verurtheilten zeigen,“ sprach der Brigadier.

Er schloß eine starke mit Eisen beschlagene Thüre auf, welche

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_009.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)